Samstag, 22. Juli 2017

Alex die Türschwelle



Der zugelaufene Strassenköter heisst Alex. Er macht es sich zur Aufgabe, Haushund zu sein. Das Haus, das er sich dafür aussuchte, gehört Heinz und steht im mexikanischen Juchitán de Zaragoza. Diese Stadt liegt in der Provinz Oaxaca, eine Autostunde vom Pazifik entfernt. Dort hat sich der frühere Pädiater und rastlose Kino-, Konzert- und Theatergänger, der leidenschaftliche Museumsbesucher und Literaturliebhaber den Traum einer kleinen Kulturoase verwirklicht. In seinem Haus mit üppigem Vorgarten organisiert er für talentierte Nachwuchskünstler Musikworkshops und für Kinder Malkurse. Er stellt Werke von Künstlerinnen und Fotografen aus, unterhält für die lokalen Rapper ein Tonstudio und serviert seinen Gästen aus der grossen Espressomaschine gut gerösteten, fein duftenden Kaffee. Am Kücheneingang aber liegt Alex. Das ist sein Platz. Alle müssen mit ihren Kaffeetassen über ihn hinwegsteigen. Er lässt sich von dort einfach nicht vertreiben. Er spielt Türschwelle.
Heinz hat Alex nach einer Figur aus Martin Franks Buch Sechs Liebesgeschichten benannt. Niemand weiss, von wo Alex gekommen ist. Plötzlich war er da, zusammen mit Heerscharen von Flöhen in seinem Fell, die ihn den Tag lang auf Trab halten. Der Köter bemächtigte sich ungeniert des Hauses und deklariert es fortan zu seinem Revier.
Alex bekommt hier nichts zu fressen und nichts zu trinken. Er bettelt und jammert auch gar nie darum. Für ihn scheint das Arrangement Logis ohne Kost selbstverständlich zu sein. Das ist das Merkwürdige an dieser Geschichte. Er beschafft sich draussen auf der Strasse alles selbst. Da er den lieben langen Tag am Kücheneingang sitzt, nutzt er wohl die Nacht dazu. Ich sah ihn einmal draussen aus einer Pfütze Wasser trinken, nachdem er sich durch eine Lücke im Gartenzaun hinaus auf die Strasse gezwängt hatte. Sein weiterer Lebensunterhalt bleibt aber im Dunkeln. Wie viele Nachkommen hat er wohl schon gezeugt? Wo beschafft er sich seine Nahrung? Wohin scheisst er? Hat er ausser Hauses Freunde? Jagt er Katzen? Welche Düfte mag er am liebsten?
Alex wird, ausser dass man über ihn hinwegsteigen muss, von den Menschen im Haus kaum wahrgenommen und schon gar nicht gestreichelt. Bei diesem struppigen Fell, das stets neue Nagespuren seines täglichen Kampfes mit den Blutsaugern aufweist, mag ihn niemand so richtig anfassen. Er aber liebt den Betrieb. Er geniesst die Konzerte auf dem Vorplatz. Er entspannt sich dabei und streckt beim grellen Saxofonsolo alle Viere von sich. Nach dem Gig stolziert er zwischen den Beinen der Gäste herum, als ob er selbst Gastgeber wäre und mit den Besuchern die Begeisterung fürs Dargebotene teilen möchte.
Das Haus verteidigt er nach Gutdünken. Es scheint, als ob er sich ein paar Mal am Tag vornimmt, für Ordnung zu sorgen. Pflichtbewusst steuert er dann zum Gartentor und bellt Leute und Fahrzeuge an. Nach getaner Arbeit trottet er befriedigt zurück zur Küchentür und widmet sich wieder seiner Flohkolonie.
Wieso nur hat es mir dieser Strassenköter so angetan? Wieso schreibe ich als erstes über ihn statt über das beeindruckende Kulturwerk von Heinz? – Vielleicht liegt es an meinen mangelnden Hundekenntnissen. Vielleicht sind Hunde einfach so. Alex beeindruckt mich jedenfalls mit seiner schicksalsergebenen, realistischen Einschätzung der eigenen Situation. Vielleicht entspricht das Arrangement seines jetzigen Hundealltags seinem Traum und ist zehnmal besser, als was er vorher je gehabt hatte. Zudem fehlt ihm vermutlich die Vorstellung davon, dass es Hunden durchaus noch besser gehen könnte. Er weiss nicht, wie es ist, mit Flohpuder behandelt worden zu sein und einen Fressnapf vorgesetzt zu bekommen. Sein Schicksal ist seins, er kommt gut damit zurecht. That’s it. Er vermittelt mir keinen Augenblick lang das Gefühl, ihn bemitleiden zu müssen. Wie angenehm, so einen Hund am Kücheneingang. Jeder steigt respektvoll über ihn hinweg. Er verdankt es mit Anspruchslosigkeit und uneingeforderter Treue.

© Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Valentin hat gesagt…

Wunderbar..