In den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat
sich im Hause des damaligen Stadtpräsidenten von Zürich, Sepp Estermann, und seiner Frau Maggie ein seltsames Geköch
zugetragen. Eine illustre Gästeschar aus Literaten, Schriftstellerinnen,
Journalisten und Musikerinnen fand sich zusammen, man sass an einem grossen
Tisch und trank exquisiten Wein. Die Gespräche waren durchaus unterhaltsam und anregend,
doch der eigentliche Gastgeber hörte nur von Weitem zu. Er stand in der Küche,
verbat sich jede Hilfe und richtete die Speisen an. Seine gelegentlichen
Kommentare beschränkten sich aufs Geklapper von Kochgeschirr und auf Zurufe an
Maggie, dass ein neuer Gang zum Servieren bereit sei. Damals befremdete mich
dieses Setting. Wann immer ich später in die Situation geriet, eine Anekdote
zum damaligen Stadtoberhaupt zu liefern, kam mir dieses Abendmahl in den Sinn.
Nicht ohne die originelle Kochschürze zu vergessen, die ihn vor Flecken auf
seinen piekfeinen Bügelfaltenhosen schützen sollte.
Sepp Estermann ist mir vor ein paar Jahren wieder in
den Sinn gekommen, als ich mich hier in Kolumbien
für eine junge Gästeschar ins Zeug legte. Zehn hungrige und plappernde Mäuler
versammelten sich um unseren Tisch, und ich kochte ihnen das, wovon ich am
meisten etwas zu verstehen meine: Improvisiertes. Das, was der Kühlschrank halt
so hergibt. Ich stand also hinter den dampfenden Kochtöpfen und klapperte zuweilen
mit dem Geschirr, und im Hintergrund fand eine etwas laute, aber durchaus
sympathische Party statt. Manchmal kam der eine oder andere hungrig schauen, ob
die Gerichte schon gar seien, schnappte sich etwas aus einer Pfanne und
kommentierte es. Ich war zufrieden in meiner Rolle. Ich fühlte mich in dieser
Runde gut aufgehoben, trug meinen Teil zum allgemeinen Wohlbefinden bei,
erntete Zustimmung, musste mich aber nicht an den Gesprächen beteiligen, die
mich sowohl sprachlich als auch gedanklich überfordert hätten. Ich blieb in
meiner eigenen kleinen Welt der Gewürze und Küchendämpfe und trug gerade damit
zu einem erfolgreichen Abend bei.
Wahrscheinlich war es nicht einmal
mein kulinarischer Beitrag, der mich an diesem Abend glücklich stimmte.
Vielleicht waren es bloss die Stimmen, die an mein Ohr drangen. Ich hörte gar
nicht zu, ich nahm sie einfach wahr. Ich war nicht allein und doch ganz bei
mir.
Meine Mutter übrigens bezeichnete die letzten drei
Monate ihres Lebens als ihre glücklichsten. Sie war schon hinfällig und
bettlägerig. Doch während sie die Jahre zuvor unter quälenden Depressionen
litt, überstrahlte zum Schluss Heiterkeit ihr Dasein. Ich fragte mich oft, wie
es ohne Psychopharmaka zu dieser Wende kommen konnte, und erklärte mir ihren
Gemütswandel mit der Anwesenheit vieler, hilfsbereiter Freundinnen, die es sich
zur Aufgabe gemacht hatten, sie in den letzten Wochen ihres Lebens nicht allein
zu lassen. Im Gegensatz zu ihrem früheren Alleinsein war sie jetzt rund um die
Uhr von Menschen umgeben. Sie liessen sie zwar in Ruhe und reagierten erst,
wenn sie ihr Glöcklein betätigte. Doch sie unterhielten sich in
Zimmerlautstärke in der Küche oder im Wohnzimmer, und die Tür zu ihrem Schlafraum
blieb immer einen Spalt weit offen. So waren im Hintergrund stets menschliche
Geräusche präsent und beruhigten sie – etwa so wie eine Hand, die einen
streichelt. Es gab übrigens mit der Zeit immer mehr Frauen, die einander abwechselten.
Ich kannte nicht alle. Als ich einmal unangemeldet vorbeischauen wollte, öffnete
eine mir unbekannte Dame die Tür. Sie liess mich wissen, dass Frau Wyss jetzt keine Besuche empfangen
könne. Erst als ich mich als deren Sohn zu erkennen gab, liess sie mich
eintreten. Mir gefiel dieses Vorkommnis, es entlastete mich in meiner Sorge um meine
Mutter und bestärkte mich im Wissen, dass sie gut beschützt wird.
Vermenge ich Begebenheiten, die nicht zusammengehören?
Auf assoziativer Ebene mögen sie miteinander zu tun haben, doch die Beweggründe
Sepp Estermanns, sich in der Küche nützlich zu machen, haben womöglich nichts
mit meinen weiteren Überlegungen zum Wohlbefinden bei der Wahrnehmung von
Gesprächsfetzen zu tun. Vielleicht wollte der Stadtpräsident wirklich nur etwas
Feines kochen und nahm dafür die Distanz zur geladenen Gesellschaft einfach in
Kauf. Immerhin konnte er aus der Ferne den Unterhaltungen folgen und in etwa
abschätzen, ob sich die Gäste gut vertrugen oder ob er in irgendeiner Weise
intervenieren müsse. Mein Verdacht aber bleibt, dass ihm beim Kochen wohler war
als bei Tisch, wo ein unausgesprochener Wettbewerb der besten, gescheitesten
und assoziationsreichsten Einwürfe im Gange war. Wer heimste wohl die
heftigsten Lacher ein? Ich glaube, Sepp Estermann hätte in Anbetracht der
illustren Gästeschar, worunter sich auch solche Kaliber wie der sowohl
schlagfertige als auch redselige Hugo
Loetscher befanden, einen schweren Stand gehabt. So aber war er dabei,
ohne dabei sein zu müssen.
Seis drum. Es geht mir in meinen mäandernden
Überlegungen letztlich um Folgendes: über den Wert von Gesprächen, denen man
nicht zuhören muss, die aber gleichwohl oder vielleicht gerade deswegen auf
eigene Weise wirken und einem gestatten, in seiner eigenen Welt zu bleiben. Ich
halte sie für therapeutisch relevant und kündige schon einmal vorsorglich an: Bitte
die Türe einen Spalt breit offen lassen. Danke.
2 Kommentare:
Als Kind einzuschlafen, dir Türe einen Spalt geöffnet und das Gespräch der Erwachsenen zu belauschen. Das ist oder war sowas von Geborgenheit.
Wie recht du doch hast. Ich lasse heute schon gerne die BalkonTüren etwas offen. Aber beide zugleich. So verschwinden ungewollte Töne gleich wieder. So wie bei den Ohren. Da rein und da raus, oder so.
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