Dienstag, 16. März 2021

"Das unbeabsichtigte Meisterwerk" - Milena Mosers Vorwort zu meinem Amakong-Buch

Zoom-Gespräch mit Milena Moser, wo es darum geht, ob sie mir ein Vorwort zum Buch Auf dem Amakong - Lesebuch gegen den Hunger schreibt.

Nikolaus Wyss hat ein Buch geschrieben. Nikolaus Wyss hat ein Buch geschrieben. Ich schreibe es noch einmal: Nikolaus Wyss hat ein Buch geschrieben!

Darauf habe ich jetzt sicher zwanzig Jahre lang gewartet. Vielleicht länger. So lange wir uns kennen jedenfalls. Ich erkannte in ihm nicht nur das Talent, sondern auch das Bedürfnis zu schreiben. Ganz zu schweigen von den brillanten Ideen, die er mir regelmässig unterbreitete. Irgendwann habe ich aufgehört, sie zu zählen.

Wenn ich aus San Francisco anreisend im Medienausbildungszentrum in Luzern unterrichtete, wohnte ich jeweils bei ihm. Und manchmal erwähnte ich ihn als mahnendes Beispiel dafür, dass eine geniale Idee eben noch kein Buch ausmacht. Weil man ein Buch in erster Linie schreiben muss. Das Schreiben an sich ist es, worauf es ankommt. Nicht die Idee, so toll sie auch ist. Nikolaus greift das übrigens in einem seiner Texte, in «Vorwürfe am Wegrand» auf: «Der wahre Grund meiner steigenden Reiseunlust aber ist, dass ich nicht weiter von diesen Wartehäuschen verhöhnt werden wollte», schreibt er. «Sie erinnerten mich schmerzvoll an mein Unvermögen, einen Plan, den ich für gut befunden hatte, in Angriff zu nehmen und umzusetzen.»

 

Was also ist passiert? Nikolaus hat sich selbst überlistet. Er hat einfach angefangen zu schreiben, ohne an ein Buch zu denken. Er hat sich gesagt, ach, es ist ja bloss ein Blogeintrag. Und dann noch einer. Und noch einer. Das ist unbestritten die beste Art, ein Buch zu schreiben: Ohne es zu wissen.

Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Tatsache, dass Nikolaus die Schweiz verlassen hat. Unsere gemeinsame Heimat macht es einem nicht leicht, sich neu zu erfinden. Die soziale Kontrolle ist sozusagen Nationalsport. «Hast du gehört, was der-und-der jetzt macht?

Wieso schreibt der jetzt ein Buch? Muss der jetzt ein Buch schreiben? Da könnte ja jeder kommen!» In anderen Bereichen seines Lebens hat sich Nikolaus immer wieder über diese Grenzen hinweggesetzt, hat sich als Kulturvermittler, als Schuldirektor und als Lokalpolitiker der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Dass er sein Schreiben davor schützen wollte, kann ich durchaus nachvollziehen, konnte ich trotz meinem ständigen Nörgeln immer nachvollziehen. Es zeigte mir aber auch, wie wichtig ihm das Schreiben ist. Wie wichtig es ihm die ganze Zeit war.

 

In Kolumbien konnte er sich von diesen Bedenken befreien. Sein Blog entwickelte sich geradezu explosionsartig; nicht nur in der Zahl seiner Leser, sondern auch in der Fülle der Themen: Vom Erfahrungsbericht eines späten Auswanderers zu Kindheitserinnerungen, Gedankenspielen, Meinungsstücken. Nikolaus erzählt von seinen Reisen, von seiner Kindheit an der Winkelwiese in Zürich, von beruflichen Begegnungen und Erfahrungen, und manchmal interviewt er sich selbst. Er schreibt so offen, wie ich es nicht von ihm kenne, auch über seine Sexualität, seine Streifzüge durch einschlägige Datingseiten. Seine Sprache ist manchmal augenzwinkernd altmodisch wie seine Wollsocken, manchmal unerbittlich wie ein Vergrösserungsglas. Seine Beobachtungen sind genau, feinfühlig, berührend, messerscharf und vernichtend. Er nimmt keine Rücksicht mehr, schon gar nicht auf sich selbst. In mehreren Texten spricht er seine Eitelkeit an. Im Gegensatz zu den meisten Memoiristen beschränkt er sich nämlich nicht auf Erinnerungen, in denen er gut wegkommt. Im Gegenteil: Manche dieser Texte («Maskenball auf hoher See», «Das Drama vom Rösslibrunnen») sind trotz des ironisch-distanzierten Tons geradezu schmerzvoll zu lesen. Als Leserin schätze ich diese Ehrlichkeit. Ich weiss, dass das Schreiben sie verlangt. Als Freundin zucke ich manchmal zusammen. Ich würde das Buch gern hier und da mit bunten Post-its verkleben, auf denen «Na, na, so ganz stimmt das aber nicht!» steht. «Nein, so ist Nikolaus nicht!»

Doch ihn kümmert das nicht mehr. Die Frage, was «die anderen» denken könnten, hat er in der Schweiz zurückgelassen, wo sie auch hingehört. Wo sie ihren Ursprung hat und wo sie nur so lange von Bedeutung ist, wie man ihr Bedeutung zumisst. Das Auswandern kuriert einen da ganz schnell: «Die Menschen, die in Zürich die Rolle der Einheimischen spielen, kommen mir eigenartig fremd vor. Welcher Regisseur hat ihnen die Anweisung gegeben, ihre Selbstgefälligkeit so zur Schau zu stellen?», fragt er sich verwundert bei einem Besuch in der alten Heimat.

Nikolaus schreibt wie einer, der nichts mehr beweisen muss. Seine Texte sind lustvoll, frei, übermütig. Es ist, als ob er uns in seinen Kopf einladen würde, wo wir uns mit ihm auf dem mäandernden Fluss seiner Gedanken treiben lassen. Die Beschreibung eines etwas unpraktischen Möbelstücks führt zu einem Versuch, einen beinahe vergessenen Zweig des Familienbaums wieder aufleben zu lassen. Die Frage, was aus diesen entfernten Verwandten geworden ist, führt zu einem urschweizerischen Sittenbild. In wenigen kurzen Sätzen wird eindrücklich eine gutbürgerliche, auf Erfolg getrimmte Familie gezeichnet, deren Probleme nur so lange unter den edlen Perserteppich gekehrt werden können, bis einer der Söhne den Drogentod stirbt. Doch mit seinem Eingeständnis, dass er das damals nicht wahrhaben, dass er sich das Bild dieses Goldjungen nicht nehmen lassen wollte, macht uns Nikolaus zu Komplizen. Er erlaubt uns nicht, selbstgefällig nickend die Bourgeoisie zu verurteilen. Er fordert uns auf seine höfliche, beinahe beiläufige Art heraus, wie er das in all diesen Texten tut, nicht laut, nicht provokativ, aber unmissverständlich.

 

Eine meiner Lieblingsgeschichten in diesem Band beginnt mit einer etwas ungnädigen Abrechnung mit der Stadt Neapel, die partout nicht hält, was sie verspricht. Und führt dann zu einer äusserst berührenden Erinnerung an längst vergangene Ferien auf Ischia, wo sich Mutter und Sohn in denselben glutäugigen Kellner vergucken und nun in stillschweigendem Einverständnis jede Mahlzeit in diesem Restaurant zu sich nehmen, mit zusätzlichen Bestellungen hinauszögern und so ihr ganzes Budget verpulvern. Diese Szene, diese Konstellation zu beschreiben, ohne sie ins Ironische oder Anzügliche zu ziehen, ist allein ein schriftstellerisches Meisterwerk. «Das Schöne an diesen täglichen, kulinarisch genügend begründeten Begegnungen war das Unausgesprochene. Wir gaben uns mit der Verfeinerung des Augenblicks zufrieden und waren glücklich dabei.»

Der Text mündet in eine Art Versöhnung mit Neapel und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, «deren lächerliches Gehabe als Essenz unerfüllter Sehnsüchte interpretiert werden kann». Und endet mit dem «Gedanken, dass es vielleicht doch die unerfüllten Sehnsüchte und Begierden sind, die den Reiz des Lebens ausmachen».

 

Mich macht es einfach ganz glücklich, dass Nikolaus Wyss sich diese alte Sehnsucht erfüllt hat: ein Buch zu schreiben. Und ich hoffe, dass ich auf das nächste nicht noch einmal zwanzig Jahre warten muss.

 

Milena Moser

San Francisco, Juni 2020

 

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Das Buch ist für Fr. 30.- erhältlich entweder in der Buchhandlung im Volkshaus, Zürich, oder bestellbar bei info@trigonis.ch  

 

Welche Texte im Buch Auf dem Amakong - Lesebuch gegen den Hunger vorkommen, und welche nicht, ersieht man hier: 

 

Fast sämtliche Blog-Beiträge von Nikolaus Wyss  

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