Samstag, 24. Februar 2024

Mein täglicher Spaziergang - oder der Furor von Olga, Santiago, Nohora und den anderen

Fotos aus dem Gruppen-Chat

Wenn es trüb aussieht, nehme ich den Schirm. In der Regel brauche ich ihn dann nicht. Wenn ich ihn jedoch nicht mitnehme, so kann ich mir fast sicher sein, dass ich auf meinem Spaziergang verregnet werde.

Vor dem Haus begegne ich zuerst oft Benjamin. Er wohnt gegenüber, sitzt gerne auf dem Treppenabsatz vor seinem Haus, raucht Zigaretten und bearbeitet sein Handy. Seine Tür steht dann offen, und aus dem Hintergrund ertönt jeden Tag ein anderes Genre Musik. Die Stücke reichen von Dmitri Schostakowitsch über Vivaldi bis zu John Coltrane. Ich fühle mich jeweils bei meinem Gruss über die Strasse aufgefordert, die Musik zu erraten, die gerade vom Innern seines Hauses heraustönt, und ich konnte Benjamin mit meinem Wissen schon ein paarmal überraschen. Er ist ein schwarzhaariger, bärtiger Argentinier von eher kleinem Körperwuchs. Er fährt ein elegantes, schwarzes Fahrrad mit blauleuchtenden Felgen. Er studiert Musikkomposition an der Uni Nacional. Erst kürzlich erfuhr ich, dass er und seine Wohngenossen, die ich eher selten zu Gesicht bekomme, Vegetarier sind. Als wir nämlich das letzte Mal etwas von unserem Weihnachtshuhn hinüberbrachten, bedauerte er, sie würden kein Fleisch essen. Gleichwohl nahm er unsere Gabe an, denn sie erwarteten am selben Nachmittag Freunde, von denen er wusste, dass sie das Mitgebrachte gerne verspeisen werden.

Einmal auf der Strasse gehört zur täglichen Routine die Entscheidung, in welche Richtung ich mich denn diesmal bewegen soll. Gegen Norden, ins Chico, ginge es in eine vornehmere Gegend, wo für die Bewohner Strom, Wasser, Telefonabonnement und Abfallentsorgung um die Hälfte teurer sind als bei uns. Dort könnte ich mich mit einem feinen Cappuccino im Café Pomeriggio für meinen Spaziergang belohnen, serviert von weiss livrierten Kellnern.

In Richtung Süden reicht mein Perimeter normalerweise bis zur Buchhandlung Santo & Seña an der 4. Carrera mit der 54. Strasse. Dort gibt es auch Kaffee, vor allem aber gibt es dort Bücher, die zum Verweilen und zum Kauf anregen. Dort überkommen mich meistens Erinnerungen an meine eigene Buchhändlerzeit in Bogotá: der Geruch des Papiers, die gedämpfte Stimmung, die Gewissheit, wenigstens etwas mit allen anderen in diesem Raum zu teilen, nämlich die Liebe zum geschriebenen Wort. Wobei zum heutigen Sortiment einer anständigen Buchhandlung auch Comics, Vinyl-Schallplatten und Fanzines unterschiedlichster Provenienz gehören, was damals bei meinem Chef Karl Buchholz undenkbar gewesen wäre. Er war Vertreter der reinen Buchdeckel-Lehre. Schon Broschuren fasste er lediglich mit spitzen Fingern an, schliesslich verdiente er daran viel weniger, und sie wurden auch viel schneller alt und sahen vergriffen aus. Seine wahre Leidenschaft aber war der Kunsthandel. Dort fasst man die Gegenstände in der Regel schon gar nicht an, oder dann nur mit weissen Archivhandschuhen.

Gegen Osten hin würde mich ein steiler Anstieg erwarten an unseren Lieblingsrestaurants (zum Beispiel dem Salon Tropical oder dem Tierra) und weiter bergauf an den schwedischen und russischen Botschaften vorbei bis zur Quebrada La Vieja, einem steilen Tälchen bergauf, das Wanderern eigentlich nur an Wochenenden auf Anmeldung hin offensteht.

Im Westen schliesslich liegt der eher schmucklose Stadtteil Barrios Unidos, der aber insofern interessant ist, als man dort weder interessante Kunstgalerien, ausgezeichnete Fisch-Restaurants noch schöne Parks erwartet. Doch es gibt sie, und gerade deshalb sind sie bei einem Spaziergang einer Entdeckung wert.

Ich weiss allerdings nicht, ob ich textlich einen ganzen Rundgang in alle vier Himmelsrichtungen zusammenbringe. In den ersten 100 Metern passiert bereits so viel Berichtenswertes, dass das verbale Abschreiten aller Optionen wohl Romanvolumen annehmen würde, was ich sowohl mir als auch der Leserschaft nicht zumuten möchte.

Die Begegnung mit dem zahnlosen, herzensguten Carlos, der zehn Jahre älter aussieht als er ist, gehört zum festen Bestandteil eines jeden Spaziergangs. Entweder schlürft er grad einen Tinto bei Juan next door, der dort Portier ist, oder er versucht, seiner Arbeit nachzugehen, nämlich auf geparkte Autos am Strassenrand aufzupassen und auf ein paar Pesos zu hoffen, wenn der Besitzer zurückkehrt. Unser Grussritual besteht in einem Fingerzeig gegen den Himmel. Regen? Sonne? Meistens stecke ich ihm darauf ein paar Pesos zu mit der Bemerkung, mein Auto stehe dort drüben, und er solle gut aufpassen, damit es nicht gestohlen werde. Natürlich stimmt das so nicht, denn mein Auto steht ja wohlversorgt in unserer Garage. Doch Spass muss sein, und es soll nicht nach Almosen aussehen. Dann lachen wir beide und gehen unserer Wege.

Im nächsten Haus befand sich vor der Pandemie ein Swingerclub mit einem Jacuzzi-Bad im Treppenhaus. Ich weiss das, weil morgens jeweils die Putzfrau vor unserem Haus auf die Ankunft des Betreibers wartete und mir allerlei berichtete von den Überbleibseln der vorangegangenen Nacht. Der neue Besitzer jedoch, der zuweilen mit seinem neuen Volvo vorfährt und zum Rechten schaut, vermietet heute die Räumlichkeiten Start-ups und politischen Kampagnen. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hat sich der mittlerweile gewählte Bürgermeister Bogotás, Carlos Fernando Galán, mit seinem Team für die Wahlvorbereitungen dort einquartiert. Es wird behauptet, er sei nur deshalb gewählt worden, weil sein Vater, Luis Carlos Galán, einst Präsidentschaftskandidat Kolumbiens, 1989 von politischen Gegnern ermordert worden sei. Der Sohn habe also vom Mitleidbonus profitiert. Befand sich Galán in der Nachbarschaft, so war die ganze Strasse jeweils mit kugelsicheren und mit verdunkelten Scheiben versehenen Toyota Cruisern und Polizeieskorten überstellt, an deren wartenden Fahrern und an den Zigaretten rauchenden Leibwächtern ich mich, freundlich grüssend, vorbeischlängeln musste. Ihre Präsenz erhöhte mein Sicherheitsgefühl nicht unbedingt. Sie führte mir eher vor Augen, mit welchen Gefahren hier zu rechnen ist. Es ist aber auch ein Ding des Prestiges: je mehr Aufwand um eine Person, umso mehr Wichtigkeit wird ihr zugeschrieben.

An unserer Strasse befindet sich auch ein peruanisches Restaurant, klein, fein und teuer. Wir gingen dort schon ein paarmal essen. Doch dann verleidete es uns, weil der Kellner Jhon, der uns vom Vorbeigehen her bestens kennt, jedes Mal so ausführlich erklärte, was er uns gerade auftischt, dass die Speisen zum Schluss nur noch lauwarm waren.

Vor dem Peruaner sitzt morgens jeweils Fernando, der mich doctor nennt. Er dürfte um die 60 sein. Muy buenos dias, doctor. Como esta, doctor?, sagt er jeweils. Dann öffnet er unaufgefordert seine Brieftasche und zeigt mir die Einladung zu seinem nächsten Arzttermin, was mich immer etwas verlegen macht. Ich ging auch schon Umwege, um ihm nicht zu begegnen. Seine Krankheitsgeschichten kenne ich mittlerweile auswendig: Kropf und schmerzhafte, geschwollene Beine, manchmal Rücken und Gicht. Er glaubt bekenntnisreich an Gott, der ihn tröstet und schon weiss, was für ihn vorgesehen ist. Er verkauft an seinem kleinen Stand Lutschbonbons und Zigaretten und wäscht auf Wunsch den Parkierenden auch deren Autos. Zu Weihnachten bekommt er von mir etwas zugesteckt.

Ab und zu begegne ich auch Jaime, das heisst, er ruft mir vom dritten Stock aus zu, wo er gerade altes Brot auf die Strasse schmeisst und so die Tauben rund ums Haus füttert. Er kann ein paar Brocken Deutsch, die er bei jeder Begegnung anbringt. Er ist kleinwüchsig und ein Dandy, zieht sich also extravagant an und trägt auf der Strasse einen Strohhut, unter welchem die zu einem Rossschwanz gebundenen, weissen Haare hervorlugen. Es ist zuweilen schwierig, sich von ihm wieder zu lösen, denn am liebsten verstrickt er einen in einen never ending Monolog über die ganzen Stockwerke hinweg. Manchmal macht er mit seiner Partnerin Lili, die in der Nachbarschaft den Musikclub Matik Matik führt, und mit seiner Exfrau einen Ausflug in seinem stets putzfein gewaschenen, eleganten schwarzen Mercedes aus dem Jahre 1961.

Etwas seltener begegne ich Liz. Sie ist Galeristin und bespielt mit ihrer Kunst internationale Messen in Mexiko-City, São Paulo und Miami. Sie wohnt mit ihrem Gatten, einem Computerfachmann und Liebhaber von Vinyl-Schallplatten, zwei Häuser weiter oben in einem Objekt, das lange Zeit zum Verkauf stand. Auch wir interessierten uns damals dafür, doch es schien uns etwas teuer angesichts der vielen Dinge, die noch hätten renoviert werden müssen. Die beiden sind jetzt dort zur Miete. Doch sie beklagen sich über die Feuchtigkeit im Haus und über ignorante Vermieter.

Vor ein paar Monaten lud mich Liz ein, einem Nachbarschafts-Chat beizutreten. Dort würden Belange des Quartiers verhandelt. Zum Chat gehöre auch eine direkte Linie zur Polizei, die man wählen könne, wenn Gefahr droht. Das sei effizienter, als wenn man sich als Einzelperson über die Nummer 123 an die Polizei wenden müsse.

Seit ich Teilnehmer dieser Nachbarschaftsverbindung bin, ist nichts mehr wie früher, und meine Spaziergänge drohen in Depressionen zu enden. Der Chat wird von geschätzten 60 Nachbarn fleissig genutzt, so fleissig und erbarmungslos, dass einem davon übel werden kann. Olga, Santiago, Nohora und ein Dutzend andere lassen hier ihren Beobachtungen, Verdächtigungen, Ohnmachtsgefühlen, Früsten, Anschuldigungen und Ressentiments freien Lauf. In ihren Augen lauert an jeder Strassenecke des Quartiers ein suspektes Subjekt. Kürzlich zum Beispiel parkte ein Gast von mir sein Mietauto vor unserem Haus, und plötzlich musste ich dem Chat entnehmen: „Polizei-Patrouille bitte an Calle 68#11-63, verdächtiges Fahrzeug steht seit drei Stunden hier…“ Ein Foto wurde auch gleich beigefügt. – Umgehend musste ich antworten, das Fahrzeug gehöre einem Gast von mir. Ich konnte es mir nicht verkneifen anzufügen, dass vielleicht nicht jedes geparkte Auto verdächtig sei…

Hauptthemen sind Abfall und geparkte Autos, gefolgt von Lärmbelästigungen und Drogenkonsum. Ja, unsere ruhige Strasse wird von Jugendlichen der nahen Schulen gerne frequentiert, um sich hier einen Joint zu drehen und hereinzuziehen, und es kommt öfters vor, dass mein Heimweg durch Schwaden von Marijuana-Rauch führt. Nicht weiter schlimm in meinen Augen, doch Santiago, den ich persönlich nicht kenne, bekommt deswegen im Chat regelmässig Panikattacken. Kaum identifiziert er eine rauchende Gruppe, ruft er nach einer Polizeipatrouille. – Während ich diese Zeilen hier schreibe, jetzt, am Samstag, 24. Februar, 17.38 Uhr, verschickt Olga gerade zehn Fotos von falsch geparkten Autos und bittet, die Polizei solle doch umgehend vorbeikommen. Und ich denke dabei intensiv an den herzensguten, armen Carlos, der sich seine paar Pesos mit dergestalt geparkten Autos verdient. Kürzlich, so berichtete er mir, hätte ihn die Polizei fortgeschickt unter dem Hinweis, hier habe er nichts zu suchen. Ich dachte sogleich, diese Aktion sei unserem Chat zu verdanken. Woher soll er jetzt, klagte er mir, die paar Pesos bekommen, die ihm bisher sein knappes Überleben sicherten? – In derselben Manier verfährt unser Chat mit den Abfallverwertern mit ihren grossen Schubkarren. Sie durchwühlen Abfallsäcke am Strassenrand und entnehmen unter Hinterlassung von stinkendem Müll Reziklierbares, um damit ein paar Pesos zu verdienen. Im Chat sind sie aber nur als lästiges Gesinde identifiziert, und Nohora, die offenbar eine Schwiegertochter in der Schweiz hat und sie einmal besuchen ging, schwärmte davon, dass es dort sowas nicht gebe.

Nun trage ich mich mit dem Gedanken, aus dieser unerträglichen virtuellen Gemeinschaft wieder auszusteigen. Wie kann ich meinen Spaziergang geniessen, wenn ich mich umstellt sehe von missgünstigen Nachbarn, die hinter ihren Vorhängen den lieben langen Tag das Geschehen auf der Strasse beobachten und Verdächtigungen kultivieren?

Vorgestern allerdings hatten wir wieder einmal den Sänger vor unserem Haus, der alle zwei bis drei Monate im Vollsuff auftaucht und mit seiner rauhen Stimme und falschen Gitarrenklängen von Mitternacht bis zum frühen Morgen Flamencoähnliches von sich gibt. Es gibt niemanden in unserer Strasse, der davon nicht geweckt wird, und ich dachte, jetzt sei der Moment, die Nützlichkeit einer direkten Linie zur Polizei unter Beweis stellen zu können. Subito vermeldete ich den Tatbestand und wartete am Fenster auf die Ankunft einer Polizeipatrouille, um den Störefried zum Schweigen zu bringen. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, meine Füssen wurden schon kalt, so dass ich mir Socken überstreifen musste. Doch nichts geschah. Der nimmermüde Sänger waltete immer noch seines vom Alkohol diktierten Amtes. Auch Nachbarin Liz verlangte nach einer Patrouille, dreimal, wie ich dem Chat entnehmen konnte, und auch ich doppelte alle halbe Stunde nach. Um halb fünf morgens schliesslich zog er davon - ohne polizeiliche Aufforderung.

Ich sehne mich nach meinen früheren, sorgenfreien Spaziergängen zurück und beobachte den Zwiespalt, der sich vor meinen Augen auftut. Ich verstehe ja, dass sich meine Nachbarn nach einem ordentlichen Leben sehnen, wie es ihnen die Schweiz vormacht, und gleichzeitig anerkenne ich die Notwendigkeit, dass arme Schlucker und Strassenbewohner mit irgendwelchen Drehs in dieser chaotischen, korrupten Stadt zu überleben versuchen, einer Stadt, die nicht bereit scheint, ihren ärmsten Einwohnern entgegenzukommen. Und wenn wir schon dabei sind: eigentlich gehört auch die Polizei mit ihren Minimallöhnen hier zu den armen Schluckern, angewiesen auf Zusatzeinnahmen, die mit der Wegweisung von Abfallverwertern und Störefrieden nicht zu erwirtschaften sind. Da hält man sich doch eher an Falschparker, die sich mit ein paar Geldscheinen freikaufen und am nächsten Tag wieder dort auftauchen, wo es meine Chatgemeinschaft stört.  

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©Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Einen Spaziergang mit Nikolaus Wyss gemacht, herrlich! Nun freue ich mich auf ganz viele weitere Beobachtungen und Erlebnisse. Toller Schreibstil!