Blick vom Wachturm aus über Forio, Ischia |
Neapel ist nicht meine Stadt. Das habe ich neulich
herausgefunden. Mein Unbehagen gründete aber nicht auf dem Umstand, dass der Vesuv
jederzeit ausbrechen oder die Phlegräischen Felder plötzlich explodieren
könnten. Auch nicht auf den Pizzen,
die anderswo durchaus besser schmecken als in der Stadt des Originals. Auch
über den öffentlichen Verkehr liesse sich klagen, über die laute und ruppige
U-Bahn zum Beispiel, aber nein. Es war vielmehr diese den Italienern oft
zugesprochene dramatische Überheblichkeit, die so tut, als ob das Erbe dieser
Stadt ihr eigenes Verdienst wäre. Ich machte ein ziemlich steiles Gefälle aus
zwischen dem Wichtigtun der Bewohnerinnen und Bewohner und dem in meiner
Einschätzung dafür nicht gerechtfertigten Zustand der Stadt. Die Neapolitaner
ignorieren sowohl die stinkenden Abfallberge als auch die Baufälligkeit ihrer
Häuser, und diejenigen, die sie nicht ignorieren, machen ein allzu grosses
Aufhebens darum, ohne aber aufs Wegwerfen weiterer Bierbüchsen oder
Plastikflaschen zu verzichten oder an den Häusern auch nur die kleinsten
Renovationsarbeiten durchzuführen. Rücksichtslos und mit einer
Selbstverständlichkeit ohnegleichen fahren sie auf ihren Rollern durch die
engen Gassen und haben Spass daran, Touristen zu erschrecken. Sie geben uns zu
verstehen, dass sie ihr Territorium zwar mit der Mafia teilen müssen, aber
nicht mit uns, den Besucherinnen und Besuchern. Sie reklamieren für sich
Eigenbedarf, was ich an sich gut fände, wenn sie denn damit auch etwas
anzufangen wüssten, indem sie ihre Stadt so herausputzten, wie es dem zur Schau
gestellten, überheblichen Stolz angemessen wäre. Doch am Schluss des Tages sind
es dann doch wieder wir Touristen, und nur wir, welche die Kassen klingeln
lassen und dafür sorgen, dass diese Könige der bröckelnden Fassaden ungeniert
weiter ihr lautes und inadäquates Theaterstück namens Napoli aufführen
können.
Grund genug, dieser Stirnrunzeln
verursachenden Stadt für einen Tag den Rücken zu kehren mit einem Ausflug in
die eigene Vergangenheit, zur Insel Ischia nämlich, wo ich im zarten Alter von
etwa zehn oder elf Jahren mit meiner Mutter ein paar schöne und herzerwärmende
Ferientage verbringen durfte. Auf der Fahrt im Schnellboot nach Forio kam mir
in den Sinn, dass es auf dieser Insel wohl das erste Mal passiert war, dass
meine Mutter sich und ich mich in denselben jungen Kerl verguckten. Er war
Hilfskellner in einem dieser Restaurants entlang der Via Matteo Verde, wo wir am ersten Abend Einkehr hielten. Von
diesem Moment an war uns klar, wo wir uns in den folgenden Tagen verköstigen
würden. Wir beide hatten nichts anderes mehr im Sinn als zu Giuseppe, Carlo oder Eros,
oder wie auch immer der Junge mit seinen wimpernumflorten blauen Augen, seiner
feinporigen Haut und seiner anmutigen Gestalt auch heissen mochte, essen zu
gehen. Sein einnehmendes Wesen würzte am Mittag die Pizza und am Abend die
Antipasta und das gebratene Hühnchen an neapolitanischer Sauce und sättigte uns
aufs Beste. Ich erinnere mich gerne an die komplizenhaften Gefühle zwischen
meiner Mutter und mir, wenn wir unsere Anwesenheit mit einer Nachspeise und
einem Espresso noch etwas zu verlängern wussten und uns schon aufs Wiedersehen
einige Stunden später freuten. Plötzlich spielte das Ersparte keine grosse
Rolle mehr. Dieser Engel raubte uns den Verstand und die dazugehörigen Liren,
auch wenn er selbst davon wohl gar nichts mitbekam. Das Schöne an diesen
täglichen, kulinarisch genügend begründeten Begegnungen war das
Unausgesprochene. Wir gaben uns mit der Verfeinerung des Augenblicks zufrieden
und waren glücklich dabei.
In Erinnerung an jene Zeit bleibt
mir auch noch die plötzliche Knallerei am Tag der Dorfheiligen. Zur
Mittagsstunde explodierten unzählige Böller über der Basilica di Santa Maria
di Loreto, und mich überkam ein fou
rire, weil mir ein Feuerwerk, das man am Tag nicht sehen und nur hören
kann, so sinnlos vorkam.
Die Hitze bei meinem Besuch, 60
Jahre später, temperierte meine Entdeckerlust. Kaum im Hafen von Forio
angekommen, mangelte es mir an Motivation herauszufinden, wo wir damals
logierten, und ich war mir auf meinem gemächlichen Spaziergang durch die engen
Gassen auch gar nicht mehr so sicher, ob sich ein Augenschein überhaupt lohnen
würde. Meine Erinnerungen klammerten sich eh nur an dieses Restaurant im
Zentrum mit diesem wundersamen Überirdischen, der jetzt, wenn er überhaupt noch
lebt, steinalt wäre und ein oder zwei Dutzend Enkel und Urenkel um sich scharen
dürfte.
Stattdessen nahm ich einen alten
Wachturm am Rande des Städtchens als Zielpunkt ins Visier in der Hoffnung, von
dort aus wenigstens einen Rundblick über Forio zu gewinnen. Beim Anstieg wurde
ich aber von einer attraktiven Frau reiferen Alters gestoppt. Sie sass ganz
alleine vor diesem Festungsturm, ass ihren gebratenen Fisch und trank dazu ein
Glas Weisswein. Sie beschied mir auf gut Italienisch, dass es sich hier um ein
Privatgrundstück handle, das von Unbefugten zu betreten verboten sei, worauf
ich mich in meinem schlechtesten Italienisch geflissentlich entschuldigte, was
die Dame wiederum auf die Idee brachte, es mit mir auf Deutsch zu versuchen.
Erfolgreich. Es stellte sich heraus, dass sie aus Karlsruhe stammte, wo ihr verstorbener Mann Bundesrichter gewesen
war. Seit seinem Tod übersommerte sie regelmässig auf Ischia in diesem für
Feriengäste umgebauten Turm. Nach ein paar Anstandsinformationen meinerseits
durfte ich ihre Sommerresidenz dann doch betreten. Keck liess sie mir beim
Treppensteigen in den oberen Stock den Vortritt mit der Bemerkung, Herren
dürften den Damen doch nicht unter den Rock blicken, was ich als untrügliches
Zeichen einer rasanten Erwärmung des Kommunikationsklimas deutete. Irgendwann
fragte sie mich, ob es sich lohne, Kolumbien zu besuchen und meinte dabei wohl
mich. Ich hatte es also in der Hand, sie dazu zu ermutigen oder ihr davon
abzuraten. Im Wissen darum, dass sie schon die ganze Welt bereist hatte, von Bali
bis Südafrika, von Norwegen bis Australien, von Rostock bis Neukaledonien, riet
ich ihr von einem solchen Vorhaben ab. Ich meinte, in ihren Augen zwar eine
gewisse Enttäuschung auszumachen, doch sie betonte gleichzeitig, wie sehr sie
doch meinen ehrlichen Rat zu schätzen wisse.
Vor der Rückreise nach Neapel blieb
mir dann noch eine Stunde Zeit, die ich am Hafen unten im Schatten einer
belanglosen Gelateria mit WLAN verbrachte. Auf einer Dating-App klickte mich Antonio an. Den Fotos nach zu
schliessen ein hinreissend gutaussehendes Fotomodell mit Waschbrettbauch und
kantigem Gesicht. So etwa könnte dieser Kellner damals auch ausgesehen haben.
Der perfekte Schwiegersohn aller Mütter, im Falle Antonios allerdings mit der
gut versteckt gehaltenen Eigenschaft, heimlich auf alte Männer zu stehen.
Antonio schlug mir ohne Umschweife vor, die Nacht mit ihm zu verbringen, da
seine Freundin glücklicherweise gerade auf dem Festland weile. Er verstand
nicht, wie ich ein solches Angebot ausschlagen konnte, als ich ihm zu erklären
versuchte, dass ich am selben Abend eine Eintrittskarte für die Oper in Neapel
hätte. Was für eine Enttäuschung für den erfolgsverwöhnten Träger von Calvin-Klein-Unterwäsche, Gaultier-Hosen und Sakkos von Versace, nachzuschlagen in den
einschlägigen Modejournalen.
Immerhin inspirierte mich Antonio
zum Gedanken, dass es vielleicht doch die unerfüllten Sehnsüchte und Begierden
sind, die den Reiz des Lebens ausmachen. Ich jedenfalls war sehr zufrieden mit
diesem Tag. Die Idee versöhnte mich auf der Rückfahrt nach Neapel sogar ein
bisschen mit den Neapolitanerinnen und Neapolitanern, deren lächerliches Gehabe
als Essenz unerfüllter Sehnsüchte interpretiert werden kann. Die Stadt ist zwar
nicht so, wie sie zu sein hätte, aber wir tun wenigstens so, als ob sie es
wäre.
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