Samstag, 3. August 2019

Unerfüllte Begierden

Blick vom Wachturm aus über Forio, Ischia


Neapel ist nicht meine Stadt. Das habe ich neulich herausgefunden. Mein Unbehagen gründete aber nicht auf dem Umstand, dass der Vesuv jederzeit ausbrechen oder die Phlegräischen Felder plötzlich explodieren könnten. Auch nicht auf den Pizzen, die anderswo durchaus besser schmecken als in der Stadt des Originals. Auch über den öffentlichen Verkehr liesse sich klagen, über die laute und ruppige U-Bahn zum Beispiel, aber nein. Es war vielmehr diese den Italienern oft zugesprochene dramatische Überheblichkeit, die so tut, als ob das Erbe dieser Stadt ihr eigenes Verdienst wäre. Ich machte ein ziemlich steiles Gefälle aus zwischen dem Wichtigtun der Bewohnerinnen und Bewohner und dem in meiner Einschätzung dafür nicht gerechtfertigten Zustand der Stadt. Die Neapolitaner ignorieren sowohl die stinkenden Abfallberge als auch die Baufälligkeit ihrer Häuser, und diejenigen, die sie nicht ignorieren, machen ein allzu grosses Aufhebens darum, ohne aber aufs Wegwerfen weiterer Bierbüchsen oder Plastikflaschen zu verzichten oder an den Häusern auch nur die kleinsten Renovationsarbeiten durchzuführen. Rücksichtslos und mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen fahren sie auf ihren Rollern durch die engen Gassen und haben Spass daran, Touristen zu erschrecken. Sie geben uns zu verstehen, dass sie ihr Territorium zwar mit der Mafia teilen müssen, aber nicht mit uns, den Besucherinnen und Besuchern. Sie reklamieren für sich Eigenbedarf, was ich an sich gut fände, wenn sie denn damit auch etwas anzufangen wüssten, indem sie ihre Stadt so herausputzten, wie es dem zur Schau gestellten, überheblichen Stolz angemessen wäre. Doch am Schluss des Tages sind es dann doch wieder wir Touristen, und nur wir, welche die Kassen klingeln lassen und dafür sorgen, dass diese Könige der bröckelnden Fassaden ungeniert weiter ihr lautes und inadäquates Theaterstück namens Napoli aufführen können.
Grund genug, dieser Stirnrunzeln verursachenden Stadt für einen Tag den Rücken zu kehren mit einem Ausflug in die eigene Vergangenheit, zur Insel Ischia nämlich, wo ich im zarten Alter von etwa zehn oder elf Jahren mit meiner Mutter ein paar schöne und herzerwärmende Ferientage verbringen durfte. Auf der Fahrt im Schnellboot nach Forio kam mir in den Sinn, dass es auf dieser Insel wohl das erste Mal passiert war, dass meine Mutter sich und ich mich in denselben jungen Kerl verguckten. Er war Hilfskellner in einem dieser Restaurants entlang der Via Matteo Verde, wo wir am ersten Abend Einkehr hielten. Von diesem Moment an war uns klar, wo wir uns in den folgenden Tagen verköstigen würden. Wir beide hatten nichts anderes mehr im Sinn als zu Giuseppe, Carlo oder Eros, oder wie auch immer der Junge mit seinen wimpernumflorten blauen Augen, seiner feinporigen Haut und seiner anmutigen Gestalt auch heissen mochte, essen zu gehen. Sein einnehmendes Wesen würzte am Mittag die Pizza und am Abend die Antipasta und das gebratene Hühnchen an neapolitanischer Sauce und sättigte uns aufs Beste. Ich erinnere mich gerne an die komplizenhaften Gefühle zwischen meiner Mutter und mir, wenn wir unsere Anwesenheit mit einer Nachspeise und einem Espresso noch etwas zu verlängern wussten und uns schon aufs Wiedersehen einige Stunden später freuten. Plötzlich spielte das Ersparte keine grosse Rolle mehr. Dieser Engel raubte uns den Verstand und die dazugehörigen Liren, auch wenn er selbst davon wohl gar nichts mitbekam. Das Schöne an diesen täglichen, kulinarisch genügend begründeten Begegnungen war das Unausgesprochene. Wir gaben uns mit der Verfeinerung des Augenblicks zufrieden und waren glücklich dabei.
In Erinnerung an jene Zeit bleibt mir auch noch die plötzliche Knallerei am Tag der Dorfheiligen. Zur Mittagsstunde explodierten unzählige Böller über der Basilica di Santa Maria di Loreto, und mich überkam ein fou rire, weil mir ein Feuerwerk, das man am Tag nicht sehen und nur hören kann, so sinnlos vorkam.
Die Hitze bei meinem Besuch, 60 Jahre später, temperierte meine Entdeckerlust. Kaum im Hafen von Forio angekommen, mangelte es mir an Motivation herauszufinden, wo wir damals logierten, und ich war mir auf meinem gemächlichen Spaziergang durch die engen Gassen auch gar nicht mehr so sicher, ob sich ein Augenschein überhaupt lohnen würde. Meine Erinnerungen klammerten sich eh nur an dieses Restaurant im Zentrum mit diesem wundersamen Überirdischen, der jetzt, wenn er überhaupt noch lebt, steinalt wäre und ein oder zwei Dutzend Enkel und Urenkel um sich scharen dürfte.
Stattdessen nahm ich einen alten Wachturm am Rande des Städtchens als Zielpunkt ins Visier in der Hoffnung, von dort aus wenigstens einen Rundblick über Forio zu gewinnen. Beim Anstieg wurde ich aber von einer attraktiven Frau reiferen Alters gestoppt. Sie sass ganz alleine vor diesem Festungsturm, ass ihren gebratenen Fisch und trank dazu ein Glas Weisswein. Sie beschied mir auf gut Italienisch, dass es sich hier um ein Privatgrundstück handle, das von Unbefugten zu betreten verboten sei, worauf ich mich in meinem schlechtesten Italienisch geflissentlich entschuldigte, was die Dame wiederum auf die Idee brachte, es mit mir auf Deutsch zu versuchen. Erfolgreich. Es stellte sich heraus, dass sie aus Karlsruhe stammte, wo ihr verstorbener Mann Bundesrichter gewesen war. Seit seinem Tod übersommerte sie regelmässig auf Ischia in diesem für Feriengäste umgebauten Turm. Nach ein paar Anstandsinformationen meinerseits durfte ich ihre Sommerresidenz dann doch betreten. Keck liess sie mir beim Treppensteigen in den oberen Stock den Vortritt mit der Bemerkung, Herren dürften den Damen doch nicht unter den Rock blicken, was ich als untrügliches Zeichen einer rasanten Erwärmung des Kommunikationsklimas deutete. Irgendwann fragte sie mich, ob es sich lohne, Kolumbien zu besuchen und meinte dabei wohl mich. Ich hatte es also in der Hand, sie dazu zu ermutigen oder ihr davon abzuraten. Im Wissen darum, dass sie schon die ganze Welt bereist hatte, von Bali bis Südafrika, von Norwegen bis Australien, von Rostock bis Neukaledonien, riet ich ihr von einem solchen Vorhaben ab. Ich meinte, in ihren Augen zwar eine gewisse Enttäuschung auszumachen, doch sie betonte gleichzeitig, wie sehr sie doch meinen ehrlichen Rat zu schätzen wisse.
Vor der Rückreise nach Neapel blieb mir dann noch eine Stunde Zeit, die ich am Hafen unten im Schatten einer belanglosen Gelateria mit WLAN verbrachte. Auf einer Dating-App klickte mich Antonio an. Den Fotos nach zu schliessen ein hinreissend gutaussehendes Fotomodell mit Waschbrettbauch und kantigem Gesicht. So etwa könnte dieser Kellner damals auch ausgesehen haben. Der perfekte Schwiegersohn aller Mütter, im Falle Antonios allerdings mit der gut versteckt gehaltenen Eigenschaft, heimlich auf alte Männer zu stehen. Antonio schlug mir ohne Umschweife vor, die Nacht mit ihm zu verbringen, da seine Freundin glücklicherweise gerade auf dem Festland weile. Er verstand nicht, wie ich ein solches Angebot ausschlagen konnte, als ich ihm zu erklären versuchte, dass ich am selben Abend eine Eintrittskarte für die Oper in Neapel hätte. Was für eine Enttäuschung für den erfolgsverwöhnten Träger von Calvin-Klein-Unterwäsche, Gaultier-Hosen und Sakkos von Versace, nachzuschlagen in den einschlägigen Modejournalen.
Immerhin inspirierte mich Antonio zum Gedanken, dass es vielleicht doch die unerfüllten Sehnsüchte und Begierden sind, die den Reiz des Lebens ausmachen. Ich jedenfalls war sehr zufrieden mit diesem Tag. Die Idee versöhnte mich auf der Rückfahrt nach Neapel sogar ein bisschen mit den Neapolitanerinnen und Neapolitanern, deren lächerliches Gehabe als Essenz unerfüllter Sehnsüchte interpretiert werden kann. Die Stadt ist zwar nicht so, wie sie zu sein hätte, aber wir tun wenigstens so, als ob sie es wäre.




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