Donnerstag, 11. Mai 2023

Bei laufendem Motor - Ein Selbstgespräch

Kaffee-Ausschank auf einer Durchgangsstrasse. Der Barrista ging schnell Pipi machen und bat mich, so lange auf den Jeep aufzupassen. Kunden kamen während meiner Präsenzzeit keine vorbei, dafür hupten aber viele Autos.

     Von Ferne betrachtet scheinst du hier in Kolumbien glücklich zu sein. Ist das richtig? Ist denn das Land so grossartig?

    Mein Glück zeigt sich im Fehlen von Depressionen und allfälligen, weiteren Sehnsüchten. Es zeigt sich in einer gewissen Zufriedenheit und Gelassenheit. Ist vielleicht auch altersbedingt. Welche Rolle in meinem Gemütszustand das Gastland dabei spielt, ist dadurch nicht abschliessend definiert. Es gibt so vieles, was mich hier aufregt, aufregen könnte. Was mich vor eventuellem Ärger rettet, ist die Distanz, die ich hier zu den Menschen, zum Land, zu den Verhältnissen habe. Ich bin hier nicht integriert, ich picke mir die Dinge heraus, die mir behagen, und davon gibt es viele, und ich versuche Dinge, die mir nicht behagen, zu ignorieren und ihnen, wenn immer möglich auszuweichen. Wobei ich mich manchmal schon äussere, sollte mich etwas über alle Massen stören. Doch ich habe keinen missionarischen Eifer, hier der Umgebung meinen Stempel aufzudrücken, auch wenn es mich manchmal juckt.

    Beispiel?

    Ich war kürzlich beim Arzt. Im Wartezimmer nahm sich eine reifere Frau heraus, ihre Beine samt Schuhen auf den gegenüberliegenden Stuhl zu legen. Sah lässig und relaxed aus. Sie sprach laut in ihr Handy, damit alle ein Ohr davon mitbekommen konnten. Als Gesamtperformance in meinen Augen ein absolutes No-Go. Das kommt in der Schweiz nur noch bei Jugendlichen vor, die der Umgebung beweisen wollen, dass sie auf Normen pfeifen, und dass Hygiene für sie nicht gilt. Hier in Bogotá allerdings muss nicht unbedingt demonstrativer Protest Ursache solchen Verhaltens sein. Es kann sich auch um Ignoranz handeln. Oder um mangelndes Vorstellungsvermögen, wie eigenes Agieren auf andere wirkt.

    Haben denn die anderen im Wartezimmer nicht moniert, dass dies nicht angehe?

    Nein. Alle blieben stumm. Nach ein paar Minuten richtete ich mich an diese Frau und teilte ihr mit, dass mich ihre Schuhe auf dem Stuhl stören würden. Es sei unhygienisch, sagte ich in meinem gebrochenen Spanisch, und im Übrigen würde mich ihre fernmündliche Unterhaltung nicht interessieren, worauf alle Wartenden mir zustimmend zunickten. Die Frau nahm darauf kommentarlos ihre Schuhe vom Stuhl und ging auf die Toilette, wo sie ihr Gespräch fortsetzte. Man konnte es noch durch die geschlossene Türe hören.

    Was folgt daraus?

    Dass offenbar viele nicht wagen, sich zu äussern, wenn sie etwas stört. Wahrscheinlich spielt da auch Angst vor den Konsequenzen einer kritischen Äusserung mit. Wir befinden uns schliesslich in einem Macho-Land. Alle wollen immer Recht behalten, weil sie sonst das Gesicht verlieren könnten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand, der sich infrage gestellt und kritisiert sieht, zu drohen beginnt und einen unschönen Streit anzettelt, um den Widersacher in die Schranken zu weisen. Womöglich zückt er sogar seine Waffe. Das hat in Kolumbien Tradition. Derjenige, der wagt, den Mund aufzumachen, wird schnell selbst zur Zielscheibe. Der vermeintlich Stärkere verteidigt sein Territorium und sein angebliches Recht wie Gorilla-Silberrücken ihre Grossfamilien. Selbst aufgebrachter Zwist wird gerne sofort und oft bis zum bitteren Ende ausgehandelt. Argumente spielen in solchen Situationen kaum mehr eine Rolle. Es geht um die physische Dominanz.

    So sind Angst und Schweigen alltägliche Faktoren, um einem Kräftemessen aus dem Weg zu gehen?

    Die Geschichte Kolumbiens basiert nicht auf gegenseitigem Vertrauen, sondern auf Drohungen, Gewalt, Krieg, und, im friedlicheren Falle, auf Aushandlungen, wobei es auch dort meistens eindeutige Profiteure und eindeutige Verlierer gibt.

     Die Überlebensstrategie vieler wird somit geprägt von Kuschen, Hinnehmen, Nichthinterfragen, weil die Konsequenzen einer Kritik tödlich sein können. 

    Wäre das auch eine Erklärung für den chaotischen Strassenverkehr?

    Zum Teil schon. Rücksicht wird hier anders interpretiert als bei uns in Europa und fängt erst dort an, wo unmittelbar Blechschaden am eigenen Auto droht. Doch bis dorthin wird gedrängelt und versucht, dem anderen zu zeigen, wer der Stärkere ist. Diese kleinen ungenierten Versuche der Vorteilsnahme geht nahtlos über in eine schon demonstrative Ignoranz.

    Wie das?

    Mir fällt auf, dass hier im Strassenverkehr Vorkommnisse aufeinandertreffen, die sich, nach meinem Verständnis, ausschliessen müssten. Alle Verkehrsteilnehmer sind doch daran interessiert, dass es vorwärts geht. Jedes Hindernis hemmt den Fluss, weil man dann ausweichen muss. So entsteht Stau, der niemandem dient. Bei Hindernissen wird gehupt, was das Zeug hält. - Doch meine Beobachtung geht dahin, dass es die das Hindernis verursachenden Automobilisten oder Motorradfahrer, die irgendwo anh den anderen im Weg zu stehen. Wenn es hochkommt, schaltet er noch das Warnblinklicht an, was schon als sehr rücksichtsvoll gilt. Ansonsten ignoriert er das Hupen geflissentlich. Das ist dann die Machtdemo des kleinen Mannes. Vielleicht verspürt er sogar Genuss, wenn die anderen Autos sich an ihm vorbeizudrängelschlängeln versuchen. Er richtet seinen Blick stur aufs Handy, als ob er nach etwas suchen würde. Dabei wartet er einfach, bis seine Geliebte, die er abholt, von der Arbeit kommt. Das kann eine halbe Stunde dauern. Bei laufendem Motor.

    Bei laufendem Motor?

    Ja, bei laufendem Motor. Alle jammern, dass die Benzin- und Dieselpreise steigen, doch fehlt wirklich fast allen das Verständnis, dass sie mit umweltfreundlicherem Verhalten viel Treibstoff sparen könnten. 

    Es scheint, dass die Kolumbianer auf den Umweltschutz pfeifen.

    Ich habe den Verdacht, es kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn, dass der laufende Motor etwas mit Umweltverschmutzung zu tun haben könnte.  

    Gibt es denn keine Kampagnen für den Umweltschutz?

    Doch, doch. Gibt es. Der öffentliche Verkehr wird Schritt für Schritt auf Elektromobilität umgestellt. Die chinesische Autofabrik BYD mit ihren Elektro-Bussen erlebt hier das Geschäft ihres Lebens. Es gibt auch zweierlei Abfalleimer auf den Strassen. Der eine ist gedacht für Wiederverwertbares, der andere fürs Andere. Aber es gibt eben Unsicherheit darüber, was denn überhaupt wiederverwertbar ist und was nicht. So schmeisst man halt alles in den nächstliegenden Kübel, ob wiederverwertbar oder nicht. Bereits in unserem Haus wirft Danika alles ins Wiederverwertbare. Ob Plastik, Papier, Flaschen oder Dosen, während ich immer noch zwischen Pet und Nicht-Pet unterscheiden möchte und die Aludosen nicht zusammen zum Papier werfen würde. Nur gerade der Kaffeesatz und die Orangenschalen gelangen bei Danika ins Nichtwiederverwertbare, Dinge, die ich als Kompostmaterial bezeichnen würde, wofür aber hier in unserem Stadtteil kein Abfuhrprogramm existiert. Die fleissigsten Abfalltrenner übrigens sind die Menschen mit ihren grossen Schubkarren auf den Strassen, die den Verkehr auch massgeblich behindern. Immerhin legitimieren sie ihre Präsenz mit der akribischen Durchsuchung aller Abfallsäcke und mit der Vornahme einer individuellen Trennung der Inhalte. Den Rest lassen sie weit verstreut auf der Strasse liegen, bis nach Mitternacht der Müllwagen aufkreuzt und das Übriggelassene einsammelt.

    Alles paletti also?

    Für mein Gefühl nicht. Der übrig gebliebene, nicht getrennte Abfall wird ausserhalb der Stadt auf riesigen Müllhalden deponiert, die das dortige Grundwasser verschmutzen. Doch irgendwie lebt der Durchschnittskolumbianer noch in der Vorstellung, das Land sei gross genug, um unseliges Wirken verkraften zu können, worin es auch immer bestehen mag. Klar gibt es in der Presse öfters schockierende Berichte über verschmutzte Flüsse, vergiftete Fische, kontaminierte Luft. Auch das Wort "ambiente", d.h. Umwelt, ist hier kein Fremdwort. Doch so, wie man das Auto mit laufendem Motor inmitten der Strasse laufen lässt und sich nicht um Verkehrsbehinderung und Luftverpestung schert, so scheint auch die Umwelt etwas, das einen letztlich nichts angeht. Gerade in der Umwelt und im Verkehr kann man seinen Widerstand gegen staatliche Verordnungen und seinen Protest gegen Ungerechtigkeiten des Staates manifestieren, indem man Dinge ignoriert, die einer Allgemeinheit nutzen könnte, unterschiebe ich jetzt mal.

    Ignoranz und Protest als toxische Mischung sozusagen...

    ... und Mangel an Empathie, würde ich noch hinzufügen.

    Und das ist auszuhalten?

    Ich trage schon lange den Gedanken mit mir herum, ein Zettelchen zu drucken und dieses wartenden Automobilisten mit laufendem Motor zuzustecken, auf welchem Folgendes stehen würde: 

    - Ich gratuliere Ihnen. Ich hoffe, Sie haben Aktien bei der Ecopetrol. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors tragen Sie erfolgreich dazu bei, dass die kolumbianische Oel-Industrie saftige Gewinne einfährt;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors beweisen Sie, dass Ihnen die ständige Erhöhung der Benzinpreise nichts antut. Sie gehören zu den Vermögenden in diesem Lande;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors unterstützen Sie die hiesigen Lungenstationen in den Spitälern, weil immer mehr Menschen wegen der Luftverschmutzung, die hauptsächlich durch Autoabgase verursacht wird, an Atemwegsbeschwerden leiden. Auch Lungenkrebs gehört dazu;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors tragen Sie dazu bei, dass Bogotá in Zukunft weniger kalt sein wird, weil der ausgestossene CO2-Gehalt Ihres Autos die Atmosphäre aufheizt...

    Und so fort. Doch ich realisierte die Aktion  bis jetzt aus zwei Gründen nicht. Erstens läuft Ironie in diesem Land anders, als ich sie von der Schweiz her kenne. Und Ironie birgt immer die Gefahr, dass die anderen es anders verstehen, als man es selbst meint. Und zweitens bin ich des Spanischen zu wenig mächtig, um für dieses Unterfangen die besten Worte zu wählen. Ach ja, und ein drittes kommt mir noch in den Sinn. Ich möchte nicht unbedingt in eine Messerstecherei geraten oder wegen eines beleidigten Chauffeurs abgeknallt werden.  

    Ach, so funktioniert das bei euch?

    Mehr oder weniger und tendenziell schon... 

    Das mit der CO2-Neutralität kann in Kolumbien also noch etwas dauern. 

    Mehr als etwas.

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© Nikolaus Wyss

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