Montag, 7. Februar 2022

Bruno, mein Lebensretter...

 Kürzlich fiel mir dieses Foto wieder in die Hände. Nach vielleicht 35 Jahren.

Um mit einer Nebensache zu beginnen: Mir fällt auf, dass ich offenbar über eine rechte «Kiste» verfügte. Das war mir damals nicht bewusst. Heute hängt an mir sowieso alles schlaff herunter. Doch vielleicht täuscht das Bild nur. Vielleicht ist es einfach das Badetuch, das den Eindruck eines straffen Hinterteils vermittelt.

Links von mir steht Bruno, um den es hier geht, beziehungsweise um meine Gefühle für ihn.

Wir befanden uns damals zu viert auf einer Bergwanderung im Berner Oberland. Vor dem steilen Anstieg zur Blüemlisalphütte, wo wir zu übernachten gedachten, gönnten wir uns ein erfrischendes Bad im kalten Oeschinensee.

Der Dritte in unserer Wandergruppe hiess Georges. Ich glaube, die Aufnahme stammt von ihm. Er war seinerzeit mit seiner Biografie unzufrieden, bis er herausfand, dass er das uneheliche Kind eines spanischen Adligen ist. Heute lebt er glücklich mit seinem Freund im australischen Busch und schreibt mir jeweils zu Weihnachten.

An den vierten Wanderkameraden mag ich mich kaum mehr erinnern. Hiess der nicht Fritz und versuchte uns während des Aufstiegs die Monteverdi-Kompositionen zu erklären? Ich meine mich zu entsinnen, dass er uns darlegte, wie diese kurzatmigen Sequenzen zu verstehen seien, nämlich als selbständige Einheiten, nicht so wie bei Mahler oder Bruckner, wo alles durchgängig miteinander verwoben ist. Ohne Tonbeispiele und im atemraubenden Anstieg zur Blüemlisalphütte entpuppte sich dieser Musikunterricht als eine anstrengende Angelegenheit. Doch Fritz ging davon aus, dass wir alle noch L’Orfeo mit Nikolaus Harnoncourt im Zürcher Opernhaus im Ohr hätten. – Gleichzeitig litt aber unser Dozent unter partieller Schwerhörigkeit, was ich heute in meinem Alter insofern nachvollziehen kann, als ich bei lauter Musik oder bei grossem Stimmengewirr auch nicht mehr richtig höre.

Ich weiss nicht, ob meine Wanderfreunde damals auch einen geheimen Plan mit sich führten. Ich jedenfalls freute mich schon den ganzen Tag auf die bevorstehende Nacht im Massenlager. Eine wunderbare Gelegenheit, endlich an Brunos Seite schlafen zu dürfen. Ich schwärmte schon eine ganze Zeitlang für ihn und umwarb ihn. Unglücklich, aber konstant. Leider wollte er von mir nichts wissen. Nett, aber bestimmt. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte. Dabei gefiel er mir doch so in seiner reinen, unschuldigen Art. Ich fühlte mich bei ihm besonders herausgefordert, seine zarte Unschuld zu respektieren und ihm ein anständiger Lover zu sein – wenn er mich nur gelassen hätte. Ich wollte ihm beweisen, dass es unter schwulen Männern auch welche gibt, die nicht nur das Eine suchten. Doch nichts nützte.

Nun aber ergab sich die wunderbare Gelegenheit, in dieser Berghütte auf über 2000 Metern über Meer meine edle Gesinnung in die Tat umzusetzen. Ich würde ihn zwar nicht küssen und umarmen können in Anbetracht von 25 schnarchenden Bergwanderern im selben Raum, doch seinen Atem würde ich spüren dürfen, seine Wärme würde zu mir herüberstrahlen, und ich würde ihm die Hand halten und ihn streicheln. Von mir aus konnte er dabei auch schlafen…

Heute, 35 Jahre später, frage ich mich, was mich überhaupt veranlasst haben mochte, zu meinen, er sei eine unschuldige Seele? Seine Mandelaugen? Seine zarte Haut? Sein verschmitztes Lächeln? Seine angenehme Stimme? Sein besonnener Gesichtsausdruck? Seine anmutige Gestalt? – Idealere Bedingungen für eine Menge romantischer Projektionen gibt es wohl kaum! Nur durchschaute ich sie in meiner Verliebtheit nicht, wollte sie wohl auch gar nicht wahrhaben. Ich baute mir im Kopf einen Bruno zusammen, über den sich der reale Bruno wohl nur gewundert hätte. Denn ich lernte ihn in einer Männersauna kennen, in einer Umgebung also, wo es zur Sache ging. Wo meiner Erfahrung nach reine Seelen gar nicht erst anzutreffen sind. Das war die Fallhöhe. Einem Typen wie Bruno dort zu begegnen, rief förmlich nach einem Rettungsversuch. Darin sah ich meine Aufgabe. Ihn wegzuzerren von all den vielen grobschlächtigen, schwitzenden, haarigen Männern, die ungeniert zur Schau stellten, worum es ihnen ging. Abstossend und ohne Charme. Was hatte Bruno in einer solchen Umgebung überhaupt verloren? Was hatte ich in einer solchen Umgebung überhaupt verloren?

Wir kamen dort auf einem abgesessenen, feuchten Sofa ins Gespräch und unterhielten uns auf eine Art, die mir Hoffnung machte. Er berichtete von seiner Arbeit als Buchhalter, von seinem Engagement in der Zürcher Jugendbewegung und im Autonomen Jugendzentrum hinter dem Bahnhof, er erzählte auch von seiner Teilnahme an Protesten, wo er regelmässig Schwaden von Tränengas abbekam. Er behauptete, die leichte Rötung seiner Augen käme davon. Von mir hingegen, so schien mir, wollte er nicht viel wissen. Und irgendwann verschwand er im Dampfbad und liess mich sitzen. Sollte ich ihm gierig folgen? – Ich hielt dies für zu billig, es hätte auch gar nicht dem entsprochen, was ich als Essenz meiner eigenen Persönlichkeit ansah. Wahrscheinlich hatte ich aber auch Angst, in der erdrückenden Schwüle dieser feuchtheissen Kapelle der Lust abgewiesen zu werden. Die Situation stachelte mich an, mit einer anderen Taktik den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten. Ich wartete geduldig, bis er wieder herauskam, schweissüberströmt und erschöpft, wie mir schien. Immerhin lächelte er mir zu, was mir die Gewissheit vermittelte, dass er mich nicht schon vergessen hatte. Ich versuchte es nochmals mit einem Gespräch, zu welchem er aber keine grosse Lust mehr verspürte. Wir tauschten wenigstens unsere Telefonnummern aus und verblieben so, uns einmal auf ein Bier zu treffen.

Was darauf folgte, war eine ziemlich verhaltene Freundschaft, die sich übers Jahr in einigen wenigen Abmachungen zu einem Bier manifestierte, bei denen ich mich allerdings eher langweilte, weil sich keine Zeichen der Annäherung einstellten – bis eben die Idee auftauchte, zusammen mit weiteren Freunden eine sommerliche Bergtour zu unternehmen. Er sagte zu meiner nicht geringen Freude sofort zu, was meine Gefühle für ihn aufs Neue entfachte.

Als es dort oben auf der Blüemlisalp darum ging, das Nachtquartier zu beziehen, geschah genau das, was passieren musste. Fritz, wenn er denn so hiess, schob sich zwischen Bruno und mir. Da mein Plan geheim und unabgesprochen war, sah ich auch keine Gelegenheit, irgendein Recht einzufordern und die Plätze zu tauschen. In Bruno hatte ich sowieso keinen Verbündeten. Wahrscheinlich war ihm das getroffene Setting sogar lieber. In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. Zu sehr war ich besessen vom Gedanken, zwischen Fritz und Bruno könnte auch nur eine kleine Annäherung stattfinden. Argwöhnisch behielt ich die beiden im Auge und litt dabei Qualen, die sich am darauffolgenden Morgen in Übermüdung und schlechter Laune niederschlugen.

Nach diesem Wochenende sah ich ein, dass Bruno für mich in meinem Sinne nicht erreichbar war. Ich weiss nicht mehr, ob ich ihn nachher überhaupt noch einmal getroffen habe. Ich musste mir schweren Herzens eingestehen, dass es wohl ausgerechnet diese unappetitlichen, grobschlächtigen Männer mit viel Brusthaar waren, die ihn anzogen, und eben nicht der zartbesaitete Nikolaus, der meinte, zwischen Anstand und Verwerflichkeit unterscheiden zu müssen. Ja, aufgrund meiner frustrierenden Freundschaft zu Bruno begann in mir bei späteren Begegnungen mit jungen Männern ähnlicher Art sogar eine Alarmglocke zu läuten. Sie bewahrte mich wohl vor weiteren unglücklichen Erfahrungen.

* * *

Eines Tages, es dürfte vielleicht ein Jahr später gewesen sein, bekam ich den Anruf einer mir unbekannten Frau. Sie stellte sich als Brunos Schwester vor und erklärte, sie hätte meine Nummer in Brunos Telefonverzeichnis gefunden. Und dann sagte sie mit gefasster Stimme: «Ich muss Ihnen mitteilen, dass Bruno vor ein paar Tagen an Aids verstorben ist. Wenn Sie Lust und Zeit haben, so laden wir Sie gerne zur Urnenbeisetzung im Friedhof Sihlfeld ein.» Sie nannte Datum und Uhrzeit. Ich bedankte mich zögerlich und mit erstickter Stimme für ihre Nachricht und blieb betroffen neben dem Telefonapparat sitzen.

So ist Bruno plötzlich wieder in mein Bewusstsein gerückt. Erinnerungen wurden wach, und ich konnte neben vielen weiteren Gedanken und Überlegungen auch erahnen, wo er sich angesteckt haben mochte. Mich beeindruckte dieser Tatbestand, und ich gewann ein ganz neues Bild von Bruno, eines, das mit Dankbarkeit durchwirkt war, Dankbarkeit dafür, dass zwischen uns nichts gelaufen ist. Als ich zur Trauergemeinde im Friedhof Sihlfeld stiess, war ich schon der festen Überzeugung, ich verdanke Brunos Verhalten mein Leben. Sie erschütterte mich, und ich weinte, wie alle anderen auch.


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©Nikolaus Wyss

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