Mittwoch, 7. August 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 10)

 Klavier

Vierhändig mit Hans-Martin Bossert, Musiker, der lange Jahre mit mir an der Schwamendinger Bocklerstrasse gewohnt hat.

Mit meinem Vater selig verbindet mich, dass wir beide sehr nahe am Wasser gebaut sind. Und meine Mutter verstand es, dieses Wasser zum Fliessen zu bringen. Ich glaube nicht, dass sie es absichtlich tat, doch es gelang ihr meisterlich, mich immer wieder mal in feuchte Rührung, Trauer oder Freude zu versetzen.
    So entnehme ich grad meinem Tagebüchlein unter dem Datum 11. Dezember 1974, also vor nunmehr 50 Jahren: „Gestern Abend habe ich bitterlich geweint. Lang und laut. War wahnsinnig traurig. Auslöser war der Klaviertransport.“
    Dazu muss man wissen, dass ich in diesem Jahr nach Schwamendingen gezogen bin und offenbar den Wunsch äusserte, mein Klavier, das bis zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung meiner Mutter stehen blieb, in mein neues Zuhause zu verlegen.
Ich schrieb weiter: „Auf der Innenseite des Klaviaturdeckels hat meine Mutter einen Zettel geklebt, auf welchem geschrieben steht: ‘Vielen Dank meinem lieben Sohn, der mir mit seinem Klavierspiel gute Jahre geschenkt hat. M.'." (M. steht für Mutter.)
    Es war ein Zeichen des Abschieds, der endgültigen Veränderung, des Eintritts in eine neue Lebensphase, wo meine Musik anderen zu Gehör gebracht wird. Doch Mutter wird sie vermissen, muss auf sie verzichten.
    Heute, beim Mittagessen, erzählte ich meiner Wohnpartnerin Danika davon und konnte die Geschichte gar nicht zu Ende bringen, weil ich schon wieder zu weinen anfing wie damals. Der Geschmack meiner Tränen erinnerte mich auch an den Moment, als die Männer vom Bestattungsamt den Sargdeckel über dem Leichnam meiner Mutter schlossen und sich daran machten, die Kiste in ihren schwarzen Wagen zu tragen. Ich war vorgewarnt, doch ich konnte mich nicht halten und heulte drauflos wie ein Schlosshund. 

Tod und Suizid



 
 
Mich beschäftigt der eigene Tod kaum. Er kommt, wenn es Zeit dazu ist. Auf die Frage, was meine Nächsten hier in Kolumbien machen sollen, wenn er eintritt, habe ich keine Antwort. Ich sage nur, macht es so, wie es für euch stimmt. Wir wohnen ja nur zwei Fussminuten vom Sterbeinstitut Coorserpark/La Fé entfernt. Die sind bestimmt hilfreich, wenn das Geld stimmt.
Zum Leichentransport verfügen sie über ein Vehikel, das mir dann aber doch ein kleines Schmunzeln entlockt: einem würdigen Tod angemessen…
Und dann lese ich in der Zeitung, dass die Anzahl der Suizide und Suizid-Versuche hier in Kolumbien drastisch zugenommen hat. Besonders unter Jugendlichen. Gut, früher war Selbstmord tabuisiert, man sprach eher von Unfall und so. Doch dies erklärt noch nicht den ganzen Anstieg der Suizid-Rate. In meinem näheren jugendlichen Freundeskreis wollten sich schon drei das Leben nehmen. Andere packten die Gelegenheit am Schopf, auszuwandern («partir c’est mourir un peu»), jeder und jede auf seine Weise. Das nennt man dann brain drain, denn es sind wohl die clevereren (was für ein Wort, stimmt das überhaupt?), die sich auf die Socken machen und für sich einen Weg finden, ihrem Unglück hier in Kolumbien zu entrinnen, Kolumbien, das vielen nicht die Chancen bietet, die sie verdient hätten, und das eben auf die Clevereren angewiesen wäre, um weiterzukommen. So lastet auf vielen jungen Menschen eine existentielle Angst. Dazu kommt die Erwartung, nicht nur aus sich selbst etwas Rechtes zu machen, sondern auch noch für die Eltern und Grosseltern sorgen zu müssen. Eine glatte Überforderung.
 
Rudolf
"Bluetige Dumme"
    Am 29. Juni 1974 ging ich nach einem ereignisreichen Tag (am Nachmittag besuchte ich die Eröffnung der Ausstellung «Schweiz im Bild – Bild der Schweiz?» im Zürcher Helmhaus und traf dort viele Freunde und Bekannte; Adolf Muschg schmückte seine Eröffnungsrede ausgiebig mit Gottfried Keller-Zitaten) in den Bluetige Duume an der Marktgasse (Bild) und kam neben einen jüngeren, jedoch bereits zahnlosen Mann zu sitzen, der mir freimütig seine Lebensgeschichte erzählte, während ich mich bei einem Bier mit Läberli Rösti verköstigte. Er heisse Rudolf und sei 30, begann er seine Ausführungen. Sein Vater sei ein Nazi-Offizier gewesen, lebe jetzt aber unter anderem Namen mit einer neuen Familie in Australien. Seine Mutter hingegen wohne mit einem Oberförster zusammen in Bümpliz bei Bern. Sie sei steinreich und habe Rudolfs jüngerem Bruder zu Weihnachten einen Fiat 124 geschenkt. Von ihrem älteren Sohn aber will sie nichts mehr wissen. Mit 14 interessierte sich Rudolf für Kunst und Musik und wollte etwas in dieser Richtung studieren. Wieso er sich stattdessen dann aber als Seemann anheuern liess, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Als er 19 wurde, liess er sich ausmustern und wollte heiraten. Die Auserwählte war ein Bauernmädchen. Er bezahlte ihr eine ganze Aussteuer und kaufte für ihre gemeinsame Zukunft eine Dreizimmerwohnung, die damals 28.000 Franken gekostet haben soll. 14 Tage vor der Hochzeit jedoch wandte sich dieses Mädchen von ihm ab und liess ihn hocken. In seiner Verzweiflung ging Rudolf nach Frankreich und trat in die Fremdenlegion ein. Nach der Ausbildung zum Legionär wurde er in den Tschad verlegt. Gegen Malaria assen sie dort unten tonnenweise Chinin. Davon sei er süchtig geworden. Er wurde zum Fixer für allerlei Drogen. Nach zwei Jahren desertierte er, weil er mitansehen musste, wie in einem Gefecht sein bester Freund zu Tode geschossen wurde. Da kam ihm der Sinn des Lebens abhanden. In Lyon musste er dann wegen Fahnenflucht drei Jahre ins Gefängnis, denn ursprünglich hatte er sich für fünf Jahre Dienst verpflichtet. Später, zurück in der Schweiz, fühlte sich Rudolf nirgends mehr zu Hause und konsumierte weiter Drogen, was ihn erneut ins Gefängnis brachte. Weiter kam ich in seiner atemlos vorgetragenen Geschichte nicht, denn ich wollte bezahlen und raus an die frische Luft. Ach ja, tätowiert war er. Von oben bis unten. Ich gewann während seiner Erzählung den Eindruck, als suche er verzweifelt irgendwo Anschluss. Ich war bestimmt nicht der erste, dem er seine Geschichte auftischte. Das machte die Verabschiedung etwas mühsam. Ich floh gewissermassen (und mit schlechtem Gewissen, ihm keine Hand dargeboten zu haben) und genehmigte mir zum Absacken noch ein Bier in der Züri Bar, wo es zur vorgerückten Stunde schon ziemlich laut zu- und herging. Vielleicht weiss jemand, wie es mit diesem Rudolf damals noch weitergegangen ist?
 
Samstag, 1. Juni 1974, Rotachstrasse in Zürich
Blumenstrauss, (liebevoll hergerichtet von Bruno Egger)
    Ich habe Mutter zum Mittagessen eingeladen und wartete auf sie. Ich sass auf dem Balkon und beobachtete eine Frau, wie sie sich unserem Haus näherte. Sie sah auf den ersten Blick meiner Mutter nicht unähnlich. Doch sie war etwas fester, kleiner, vollbusiger und trug ein Kostüm, das meine Mutter nie in ihrer Garderobe hängen gehabt hätte. Diese Frau hatte Blumen bei sich, und mir schoss durch den Kopf, wie das wäre, wenn statt meiner Mutter diese unbekannte Frau zu Besuch käme. - Würde sie sich als meine Mutter ausgeben? 
    Plötzlich steht diese Frau vor der Wohnungstüre. Ich öffne und wir küssen uns auf die linke und die rechte Wange. Sie sagt: "Ich freue mich, bei dir eingeladen zu sein. Was hast du gekocht?" - Ich führe sie in die Küche, wo sie an den vor sich hinköchelnden Gerichten schnüffelt. Dann suchte sie eine Vase, um die mitgebrachten Blumen einzustellen. 
    Meine Mutter aber kommt nicht. Diese mir unbekannte Frau ist hier, sie isst bei uns zu Mittag (ich habe keinen Hunger, mit ist der Appetit vergangen), nur gezwungen führen wir ein Gespräch, und die Frau meint, ich sei nicht gerade bester Laune. Es kommt noch schöner. Sie fragt mich, ob ich schmutzige Wäsche hätte, am nächsten Dienstag sei Waschtag. Diese Frau sagt, sie führe einen Saab (wie meine Mutter), wohne an der Winkelwiese (wie meine Mutter) und behauptet zu wissen, dass ich Kalbsbratwürste nicht mag, was stimmt. 
    Ich weiss, dass, dass diese Frau nicht meine Mutter ist, und ich gewöhne mich an den Gedanken, dass diese Frau an die Stelle meiner Mutter tritt. Ich erkenne, nachdem wir uns ein bisschen aneinander gewöhnt haben, dass diese Frau ganz praktisch ist, leicht zu nehmen. Sie lässt mich leben, ich lasse sie leben. Und es gibt Phasen, wo ich traurig bin über meine verlorene Mutter, die woanders verblieben ist und sicher auch traurig über ihr Schicksal. Bestimmt macht sie das Beste daraus. 
 
Franz
    Vor sehr langer Zeit lebte ich an der Rotachstrasse in einer WG. Ich teilte die Räume unter anderen mit Franz, Franz Gnädinger, Künstler und Privatgelehrter, damals noch auf der Suche nach sich selbst. Er brachte die Erfahrung und die Bildung eines Klosterschülers aus Einsiedeln ins Haus. Sein Latein war exzellent, sein Griechisch wohl auch, was ich allerdings nicht genau beurteilen konnte. Ihn interessierten Mathematik (vor allem Geometrie), Astronomie und Leonardo da Vinci, dem er später mit theoretischen Schriften ein Gutteil seines Lebens widmete. Er empfahl mir immer wieder Buster Keaton-Filme und versuchte, aus Tomaten Konfitüre zu machen. Sein Tun und Lassen überforderten zuweilen den Haushalt bzw. mich, denn zur Befriedigung meiner eigenen Komfort-Ansprüche musste ich mich zuweilen zum Reinigungspersonal degradieren. Meine Appelle an seinen Gemeinsinn verhallten in den Zimmerfluchten meist ungehört.
    Manchmal erzählte er von seiner Schulzeit im Kloster. Vier Müsterchen hier, drei davon von Pater Carl. Zuerst aber dieses hier: "Klosterbruder Kasimir lernte das Wörterbuch Latein-Deutsch bis etwa zum Buchstaben L oder M auswendig. Dann trat er freiwillig in die Küchenmannschaft über und wusch von da weg sein Leben lang das Geschirr der 280 Klosterschüler. Als später die Gärtner den Klosterpark neu gestalten wollten, stiessen sie beim Umgraben auf Berge von schmutzigem Geschirr. Da erinnerte man sich, wie während einer gewissen Zeit in der Küche Geschirr verschwand. Kasimir schien es wohl zu stinken, die dreckigen Teller der Jungs zu spülen und liess sie im Klosterpark verschwinden."
    Das zweite Müsterchen geht so: "Pater Carl machte mit seinen Schülern einen Skiausflug. Er fuhr Ski in seiner Soutane. Ausgehungert nach einem langen Marsch kamen sie in eine Wirtschaft und setzten sich an einen der langen Tische, wo er aus seiner Soutane eine Ovomaltine- Büchse zog. Als er sie öffnete, kamen zwei Paar Wienerli mit Sauerkraut zum Vorschein. Pater Carl bat die Serviertochter, die Speisen aufzuwärmen und noch ein paar Gabeln zu bringen. Die aufgewärmte Ovomaltine-Büchse liess er dann unter den Schülern zirkulieren und forderte sie auf, sich damit zu stärken. Dann gab er der Serviertochter einen Franken Trinkgeld und verliess mit seinen Schützlingen das Lokal."
    Und nochmals Pater Carl: "Eine Zeitlang hielt er sich in einer Filiale des Klosters in Argentinien auf. Sie bestand aus einer Missionsschule und einem landwirtschaftlichen Lehrbetrieb. Er lernte Jeep fahren. Der Instruktor zeigte ihm, wie es geht, worauf sich Pater Carl ans Steuer setzte und losbrauste. Doch der Instruktor vergass offenbar zu zeigen, wie man das Fahrzeug wieder zum Stehen bringt. So fuhr Pater Carl den ganzen Tag über die Felder und kam erst gegen Abend zum Anhalten, als kein Benzin mehr im Tank war."
    Offenbar kristallisierten sich an der Person von Pater Carl allerlei Anekdoten. Niemand kann sagen, ob sie wirklich so stattgefunden haben. Ich schrieb mir Franz' Geschichten aber nicht zuletzt deshalb auf, weil ich das Klosterleben stets für sehr exotisch hielt und eigentlich selber gerne dort einmal eine gewisse Zeit verbracht hätte. "Pater Carl war Lateinlehrer. Zur Latsch-Prüfung brachte er einmal ein Kassettengerät mit und spielte während des Examens laut spanische Stierkampf-Musik ab. Die Resultate der Prüfungen sollen aber katastrophal ausgefallen sein. Niedergeschlagen meinte er darauf, dass es bei den Kühen doch so sei, dass sie bei Musik mehr Milch geben würden..."
    Franz verlor ich nie ganz aus den Augen, auch wenn er eine ganz andere Art von Leben einschlug als ich. Er deponierte seine theoretischen Schriften, die er in Leitz-Ordnern ablegte, über Jahre bei mir mit dem Wunsch, ich soll nach seinem Tod etwas damit anfangen. Und als ich zum Rektor der Kunsthochschule Luzern gewählt wurde, gab er mir die dringende Empfehlung mit auf den Weg, zum Vorkurs besonders Sorge zu tragen. Er sei das Wichtigste, was man einem jungen Menschen mit auf den Weg geben könne.
    Die Leitz-Ordner holte Franz übrigens wieder ab, als ich mich anschickte, die Schweiz zu verlassen und nach Kolumbien zu übersiedeln. 
    Franz starb am 23. Januar 2020. Sein Bruder Steve Gnädinger liess das Leitz-Ordner-Vermächnis digitalisieren und stellte Franzens gedanklichen Reichtum ins Netz. Franz meinte dazu, die Rezeption seiner Arbeit brauche wohl genauso viel Zeit wie die Niederschrift derselben. Irgendwann wird sie beginnen. 

"Fortsetzung des Forschungsberichts"
Frankfurter Allgemeine, 7. August 2024
    Die Wissenschaft entdeckt uns. Mehr als 40 Jahre nach der ersten Ausgabe unserer Zeitschrift "Der Alltag - Sensationen des Gewöhnlichen" würdigt die FAZ in ihrer heutigen Ausgabe, 7. August 2024, unsere Leistung und stellt sie als Pioniertat für einen ganzen Forschungszweig, der aus dieser Idee erwachsen ist, dar. Ein bisschen habe ich mich schon gefreut, als mein Berliner Freund Martin Schmitz, Chef des gleichnamigen Verlags, mir diesen Zeitungsausschnitt zugeschickt hat. (Schmitz lernte ich laut seinen eigenen Angaben im Jahre 1981 anlässlich einer Deutschen Werkbundtagung in Darmstadt kennen. Siehe Foto hier unten. Das Thema damals: „Architektur für den Alltag, bescheiden Bauen oder: Die Sensation des Gewöhnlichen“. Ich hielt damals auch einen Vortrag, natürlich über den "Alltag".)
    Hier nachfolgend der Text aus der FAZ, der sich auf eine kürzlich stattgefundene Fachtagung über Alltag bezieht: 

ALLTAGSKUNDE

Fortsetzung des Forschungsberichts

Von Thomas Thiemeyer

Sensationen beleben das Forschungsgeschäft, gerade wenn sie nicht danach aussehen. (Legende zum obigen Bild)

7. August 2024 · Vor einem halben Jahrhundert entdeckte die Empirische Kulturwissenschaft, damals oft noch Volkskunde genannt, den Alltag. Ist dieses Interesse inzwischen selbst nur noch Routine?

Im Jahr 1978 gründeten die beiden Studenten Walter Keller und Nikolaus Wyss in Zürich die Zeitschrift mit dem Titel „Der Alltag“, den sie alsbald um den recht schrillen Untertitel „Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ ergänzten. Grafisch gaben sich die Hefte bescheiden bis rotzig: Eine provisorisch wirkende Typewritertypographie mit unscharfem Schriftschnitt verband sich mit Fotos in Polaroidoptik, handgemachten Collagen und kaum redigierten Interviewtranskripten. Diese Ästhetik war unkonventionell und alltagsnah. Was die Grafik ankündigte, setzte sich beim Inhalt fort: „Kioskfrauen, Hebammen und Mütter, Coifeure, Brasilienreisende, Wirtinnen von Rockerkneipen, Polizisten, Heilsarmisten und Naturfreunde“ waren die Gewährspersonen der Redaktion, nicht Wissenschaftlerinnen oder Celebrities.

In den Heften schien das Unscheinbare und „Normale“ des Alltags ebenso durch wie das Freche und Ironische der Subkulturen als neuer kreativer Impuls für eine zunehmend entgrenzte Kunst und Kultur. Vor allem aber begegneten die Autoren der einfachen Frau und dem Mann von der Straße mit ganz neuem Ernst – nicht mehr von oben herab aus der Position des Besserwissers, sondern als ehrlich interessierte Vermittler ihrer Lebensgeschichten. Darin lag seinerzeit die „Sensation“: „Der Alltag“ versprach einen erfahrungsbasierten Blick auf die Welt aus der Perspektive der Bevölkerung. Er ließ die Bürger selbst zu Wort kommen und erhob sie zur erkenntnis- und kulturstiftenden Kraft.

Über die Anfänge des heute fast vergessenen Periodikums, das 1997 aufgab, erinnerte Wyss unlängst im Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich,wo das Magazinarchiv heute lagert. Im Herbst hatte schon der Zürcher Kulturwissenschftler Bernhard Tschofen in der Eröffnungsrede des 44. Fachkongresses der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaften in Dortmund das Magazin als Aufhänger genutzt, um das Kongressthema in einem Objekt einzufangen: „Analysen des Alltags“. Dabei erinnerte Tschofen an 1978 als das Jahr, in dem die Diszplin den Alltag endgültig zu ihrem Markenkern nobilitierte und Theorien zu ihm entwickelte: Die Frankfurter Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus veröffentlichte im Beck-Verlag ihr Grundlagenwerk „Kultur und Alltagswelt“, und ihr Tübinger Kollege Utz Jeggle definierte in einem bis heute zentralen Aufsatz Alltag als „problemlose, normale, wiederholbare, sicher auch mühevolle, aber auch darin akzeptable und akzeptierte Routinewirklichkeit“.

Die „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“

Alltag, hieß das, ist das Gewohnte und Gewöhnliche, so selbstverständlich, dass wir vieles von dem, was ihn ausmacht, gar nicht bewusst wahrnehmen. Er passiert eher, als dass er sich ereignet, und da er unspektakulär ist, bleibt er oft unbemerkt. Natürlich basiert er auf jeder Menge Erfahrungen, von denen aber kaum noch jemand weiß, welche das im Einzelnen sind. Das ist auch nicht nötig: Über den Alltag muss man nicht nachdenken, sondern man weiß aus dem Bauch heraus ziemlich sicher, was zu tun und wie etwas zu beurteilen ist. Als Sicherungsseil des Lebens kennzeichnet ihn für Jeggle die Angst vor Neuem: Alltage zu verändern bedroht die eigene Existenz, weil Routinen und Gewissheiten außer Kraft gesetzt werden, was im Extremfall als unzulässiger Eingriff in die soziale Intimzone verstanden wird. Pandemieleugner und Querdenker lassen grüßen.

Was den Alltag in den Siebzigerjahren so aufregend machte, war die Aussicht auf eine andere Gesellschaftsanalyse. Im Alltag ließ sich das Leben der Menschen in seinen täglichen Abläufen, Routinen, Fährnissen und Kontingenzen beobachten und mit den Augen derjenigen betrachten, die man beobachtete. Was die Menschen ganz konkret machten, bildete den Fokus einer von nun an mehr denn je auf Erfahrungen und Praktiken konzentrierten Kulturanalyse. Ihre Forschungen waren zwar kleinteilig, aber weniger abstrakt als Strukturanalysen, marxistische oder Systemtheorien, die den Menschen als fremdbestimmtes Rädchen im großen Getriebe der Institutionen, Ökonomien und Politiken verstanden. Individuelle Handlungsspielräume und eigenständige Urteile sahen diese Theorien eher nicht vor.

Die Entdeckung des Alltags war kein Spezifikum der Kulturwissenschaft. Wichtige Stichworte lieferte etwa die Wissenssoziologie. Unter dem Begriff „Lebenswelt“ hatte allen voran Alfred Schütz eine Phänomenologie des Alltagslebens entworfen, die das Handeln der Menschen auf pragmatische Motive und Erfahrungen zurückführt: Der Mensch macht schlicht das, was sich in bestimmten Situationen für ihn bewährt hat. Wer diese Motive verstehen will, muss tief in die Wissenshorizonte der Menschen eintauchen und die „gemeinsame kommunikative Umwelt“ ihres Milieus verstehen. Vor allem aber muss er sie in ihrem Denken, Glauben und Fühlen ernst nehmen und aus diesem heraus ihre „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“ erklären.

Wie verändert sich unser Alltag durch digitale Technologien?

Für die Empirische Kulturwissenschaft (die damals vielerorts noch Volkskunde hieß) war der analytische Fokus auf den Alltag einschneidend. Er veränderte den Blick auf die Gruppen, die sie untersuchte, und er zwang sie, an den Problemen der Gegenwart beobachtend teilzunehmen, statt sich auf urtümliche Relikte der „Volkskultur“ aus der Zeit vor der Industrialisierung zu beschränken. Konkret hieß das: Arbeitskultur statt Bauernleben, Fernsehen statt Folklore, Schlager statt Volkslied. Für Tschofen landete die Disziplin so unversehens in der Mitte des aktuellen Lebens und konnte gesellschaftlich und politisch wieder relevanter werden.

Das Streben zu den heißen Themen der Gegenwart hat das Fach seither nicht verloren. Die beim Fachkongress präsentierten Forschungen widmeten sich dem Leben im Lockdown und dem Strukturwandel in Neckarwestheim nach dem Aus des dortigen Kernkraftwerks. Sie schauten auf das Verhältnis von Mode, Kleidung und Körperwahrnehmungen und darauf, wie sich der Alltag durch Künstliche Intelligenzen und digitale Technologien verändert. Sie analysierten, wie Gefühle eingeübt und aufgeführt werden oder was ein Leben ohne Arbeit und in Armut mit Menschen macht. Und sie zeigten in einem besonders eindrucksvollen Panel zu Ethnographien im Gefängnis, bei Polizei, Militär und rechtsradikalen Hooligans, dass der Alltag nicht nur bräsig und behaglich, sondern auch brutal sein kann, und Forschende dann vor massive ethische Probleme stellt: Macht man bei Schlägereien und polizeilichen „Sicherungsmaßnahmen“ mit? Oder erreichen dort Teilnahme und „Kollaboration“ ihre Grenzen?

In Dortmund hat der Alltag als Dachthema zudem das Assoziationsfeld sichtbar gemacht, das der Begriff heute hervorruft: Das ist nach wie vor das Unscheinbare, Gewöhnliche, Routinierte, das in der Krise besonders deutlich vor Augen tritt. Dass sich die Gegenwart mit Krieg, Pandemie und Klima im Zustand der „Permakrise“ befinde, dieser Befund wurde von Tine Damsholt (Kopenhagen) mit Blick auf Pandemietagebücher empirisch untermauert. Er machte den Bezug zum Alltag als irgendwie geartetes Gegenteil der Krise fast schon trivial.

Nichtmenschliche Wesen als neue Sensation

Überhaupt lud der Alltagsbezug viele Vortragende dazu ein, ihn eher assoziativ zu nutzen, statt ihn analytisch weiterzudenken. Dabei wäre gerade das heute nötig: Das Ernstnehmen der je individuellen Ansichten und Verständnisse von der Welt und ihren Zusammenhängen, das den Alltag einst so attraktiv machte, bedarf in Zeiten der Chatbots, Verschwörungstheorien und Echokammern einer Revision. Nicht jede Meinung ist gleichwertig, nicht jedes Faktum beliebige Konstruktion, nicht jede Stimme spricht mit derselben Autorität.

Darüber hinaus fordern die postkolonialen Grundsatzkritiken an „westlichen“ Kategorien und Deutungen die Kulturforschung heute ebenso heraus wie die „ontologische Wende“. Deren Vertretern geht es, wie Mirko Uhlig (Mainz) zeigte, um fundamental andere Epistemologien. Radikalontologische Theorien gehen nicht mehr davon aus, dass die Lebewesen der Erde dieselbe Realität lediglich unterschiedlich wahrnehmen, sondern dass jedes von ihnen in einer anderen Welt lebt, weil sich jeder Körper unterscheidet. Für die Kulturwissenschaft ist das eine schlechte Nachricht: In fremde Ideenwelten kann man sich hineindenken (es zumindest versuchen), in fremde Körper nicht. Was bliebe, wäre die bloße Dokumentation anderer Weltsichten, die aber nicht mehr intersubjektiv zugänglich und damit kritisierbar wären. 

Die postkolonialen und ontologischen Provokationen haben die Analysen des Alltags gleichwohl aktualisiert. Das Interesse gilt – auch das wurde in Dortmund deutlich – nicht mehr allein menschlichen Beziehungen, sondern den größeren Netzwerken zwischen Menschen, Dingen, Tieren, Planzen, Technologien, Infrastrukturen und Algorithmen, in die das menschliche Handeln eingewoben ist. „Posthumanismus“, „Multispezies“, „Assemblage“, „RessourcenKulturen“ oder „NaturenKulturen“ lauten Schlagworte für interdisziplinäre Ansätze, die den Platz des Menschen in der Welt neu zu bestimmen suchen. Rund fünfzig Jahre nachdem das Konzept des Alltags die Weltsichten der (einfachen) Leute aufgewertet hat, sind nun die nichtmenschlichen Wesen und Phänomene die neuen Sensationen der Alltagswissenschaft. 

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© Nikolaus Wyss

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