Freitag, 5. Januar 2018

Vage Rekonstruktion eines entfernteren Teils meiner Familie

So ungefähr sah das Möbel aus, das mich mein Leben lang begleitete... (Screenshot von eBay)

Mein Leben lang begleitete mich ein Möbel aus furniertem Nussbaum, eine Art Sekretär, an den man sich aber nicht richtig hinsetzen konnte, weil die aufklappbare Schreibfläche zu hoch und zu wenig ausladend angesetzt war. Im unteren Teil erwies sich das Möbel als Kommode mit grossen Schubladen. Ein unmögliches Erbstück, wo ich unten meine Wäsche verstaute und oben Briefe, Fotografien, Kreditkarten, abgelaufene Pässe, Schul- und Arbeitszeugnisse aufbewahrte.
Das Möbel befand sich im Nachlass meiner Grosstante Lydia. Niemand wollte es damals. Irgendwie landete es dann bei meiner Mutter, die damit aber genauso wenig anzufangen wusste. Sie lagerte es im Keller ein in der Hoffnung, es mir dereinst vermachen zu können, wenn ich mich zu verselbstständigen anschicken würde. So war es denn auch.
Im Gedächtnis haften geblieben sind mir Tante Lydias gerötete Äderchen auf den mit viel Gesichtscreme eingeweichten Wangen. Sie hatte zwei Töchter: Käthi und Lotti. Diese waren also Cousinen meiner Mutter, für mich Tanten zweiten Grades. Beide wiesen dieselben Äderchen im Gesicht auf. Käthi versteckte sie hinter einer dicken Schicht Make-up. Sie verbat sich Zeit ihres Lebens, von mir Tante genannt zu werden. Das mache sie älter, pflegte sie zu sagen. Ihre nonchalante Eitelkeit bereitete mir jedoch Mühe. Wie einfach wäre es doch gewesen, sie Tante nennen zu dürfen. Ihrer uneitlen Schwester Lotti hingegen, die ihre Äderchen nicht versteckte, war das fragliche Wort egal. Dies hatte merkwürdigerweise zur Folge, dass es mir leichter fiel, sie bloss Lotti zu nennen, also ohne Tante vornedran, oder Lötter, eine seltsame Sprachschöpfung meiner Mutter, der ich irgendwie folgte: der Lötter. Lotti war Polizistin, blieb unverheiratet, hatte aber einen Freund namens Marc, mit dem sie regelmässig an den Neuenburgersee campieren ging. Marc mochte ich nicht besonders, er war mir in seinen Ansichten zu konservativ. Manchmal schämte sich Lotti seinetwegen, weil sie sich doch gerne aufgeschlossen gab. Käthi hingegen heiratete einen renommierten Arzt und führte ein gesellschaftlich-mondänes Leben in einer geräumigen Villa in Muri bei Bern. Sie richtete ihre Küche mit dem damals modernsten Schnickschnack ein. Zur Entledigung der Küchenabfälle beispielsweise war im Siphon des Abwaschbeckens eine Art Häckselmaschine eingebaut, welche die Kartoffelschalen und Apfelkerne so verkleinerte, dass sie mit dem Spülwasser fortgeschwemmt werden konnten.
Tante Käthi fuhr einen Mercedes 300 SL Coupé mit Flügeltüren. Dasselbe Modell fuhr auch ihr Gatte, und sie rechtfertigte die Doppelanschaffung mit dem Hinweis, dass sie mit dem Garagisten befreundet sei und es sich hier um ein ganz günstiges Spezialangebot gehandelt habe. Später vernahm ich, dass ihr auf dem Weg von Zürich nach Bern bei grosser Geschwindigkeit ein Reifen geplatzt und sie nur mit Glück und grosser Geistesgegenwart dem Tod entronnen war. Das führte dazu, dass meine Mutter vor Antritt einer Autofahrt eine Zeit lang ihren Mini umkreiste, um zu schauen, ob alle Reifen in Ordnung waren. Später liess sie es wieder bleiben.
Meine Mutter war in Muri zuweilen zu Partys mit Diplomaten, Magnaten und Geschäftsleuten eingeladen. Eine ihrer Standarderzählungen gipfelte jeweils im von Kichern begleiteten Eingeständnis, dass sie an einem dieser Empfänge den damaligen Bundesrat Nello Celio Cello genannt habe. Er war offenbar ein Charmebolzen, mit dem sie es gut konnte. Ein paar Gläschen Champagner taten das ihrige wohl dazu.
Tante Käthi hatte drei Kinder: Monika, Bärni und Jürg. Als Monika heiratete, war ich vielleicht 15 Jahre alt und auch zur Hochzeit eingeladen. Wir übernachteten bei Lötter, und am Morgen musste ich zu meinem Schrecken feststellen, dass ich ins Bett geschissen hatte, obwohl ich weder Durchfall hatte, noch sonst krank war. Lotti versuchte mich zu trösten mit dem Hinweis, dass dies jedem passieren könne. Das mochte ich aber ihr nicht glauben. Ich schämte mich sehr.
Die aufwendige und auch ziemlich laute Hochzeit galt noch Jahre später als das gesellschaftliche Ereignis Berns, auch wenn sich die Produktionen eher auf WC-Rollen-Niveau bewegten. Die Braut, ganz in Weiss, sah hinreissend aus, und der Bräutigam stammte aus gutem Hause. Am besten kann ich mich noch an Monikas jüngeren Bruder Bärni erinnern. Er trug einen perfekt geschneiderten Smoking und wusste alle mit seinem gewinnenden Lächeln für sich einzunehmen. Meine Mutter schwärmte noch Wochen später von ihm, und ich musste ihr unumwunden zustimmen. Zu seiner strahlenden Erscheinung passte auch der dominante, aus Zedernholz, Moschus und Tonkabohnen kombinierte Duft seines Acqua di Selva. Ich wünschte mir damals zu meiner ersten Rasur nichts sehnlicher als diesen starken Duft, der das Selbstbewusstsein eines jeden Mannes in ungeahnte Höhen zu treiben vermochte. Doch mein Taschengeld reichte nur gerade zu einer ordinären Flasche Pitralon aus der EPA. Dieses Warenhauswässerchen erwies sich, wie konnte es anders sein, als Demütigung, als Flop. Ich ertrug es schon nach dem ersten Auftrag nicht mehr und meinte sogar, davon Pickel zu bekommen. Schleunigst entsorgte ich die Flasche und schob das regelmässige Rasieren noch etwas hinaus.
Im Gegensatz zu den bereichernden und herzerwärmenden Begegnungen mit dem Strahlejungen Bärni fielen Lottis unter vorgehaltener Hand gemachten Kommentare über ihn negativ aus. Es machte ihr grosse Sorgen, dass jemand aus ihrer nächsten Verwandtschaft regelmässig in den einschlägigen Protokollen der Polizei vorkam. Von Drogendelikten war die Rede. Meine persönliche Reaktion darauf war, dass dies doch gar nicht wahr sein könne. Ich wollte mir das Bild dieses Jungen, der in vielem und im Speziellen wegen der ihn umschwärmenden Mädchen meinem Ideal der Mannwerdung entsprach, einfach nicht nehmen lassen. Ich begann Lotti zu misstrauen und machte dafür familiäres Konkurrenzdenken zwischen zwei unterschiedlichen Schwestern verantwortlich. Doch dann, einige Zeit später, erschütterte die Nachricht vom Drogentod Bärnis das ganze Familiengefüge. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich konnte die beiden Seiten dieses Jungen einfach nicht zusammenbringen.
Später verblasste der Kontakt zu Käthis Familie zusehends, sei es, weil die Strahlkraft dieser auf Erfolg getrimmten Familie aus Muri bei Bern durch das tragische Ereignis schlagartig nachliess oder weil ich jetzt meine eigenen Wege ging. Vom Lötter erhielt ich zum Geburtstag eine Zeit lang noch Grusspostkarten, sonst aber beschränkten sich die Beziehungen auf Kurzmeldungen meiner Mutter, die versuchte, den verwandtschaftlichen Status irgendwie aufrechtzuerhalten, soweit es ihre eigenen nachlassenden Kräfte noch erlaubten. Die Todesnachrichten von Käthi und Lotti Jahre später haben bei mir keine ausserordentlichen Emotionen mehr ausgelöst.
Vor vielleicht zehn Jahren aber wollte ich wissen, was aus der strahlenden Monika geworden war, die in ihrem überschwänglich-gesellschaftlichen Gehabe so stark ihrer Mutter glich. Dank der Möglichkeiten des Internets konnte ich die Koordinaten ihres Gatten ausfindig machen und schrieb ihm ein paar Zeilen. Postwendend kam seine Antwort mit der Nachricht, Monika sei schon seit einiger Zeit tot, er lebe jetzt mit einer neuen Partnerin zusammen, den Kindern gehe es gut.
Das unmögliche Möbelstück hingegen, das nirgends hineinpasste und mich gleichwohl von Umzug zu Umzug begleitete, erinnerte mich unaufdringlich, aber stetig an diese paar weit zurückliegenden verwandtschaftlichen Bezüge. Seine Entsorgung war mir einfach zu mühsam, und die Einrichtung eines Kontos bei Ricardo wollte mir auch nie so richtig gelingen. Erst als ich in der Absicht, nach Kolumbien auszuwandern, den Haushalt auflöste, liess ich die Zügelleute wissen, dass sie mit diesem Ding anfangen könnten, wie ihnen beliebe.

© Nikolaus Wyss

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