Jürg Ramspeck (rechts) mit seiner Frau Hildegard Schwaninger und dem Fotografen Willy Spiller anlässlich von dessen Fotoausstellung in der Photobastei am 20. August 2015 |
Ich war ihm in meiner Kindheit nie begegnet. Doch sein
Übername, den ihm die Familie meiner Gotte verliehen hatte, begleitete mich
durch meine ganze Jugend: der Rameli. Er war der Schulfreund eines der
Buben dort und ein sicherer Wert in den Erzählungen meiner Gotte. Der Rameli
ist ... der Rameli meint ... der Rameli hat gemacht ... Dieser Sohn aus dem Pianohaus Ramspeck an der Mühlegasse war
in den Augen meiner Gotte offenbar ein Tausendsassa, raffinierter und
musikalischer noch als die eigenen vier talentierten Söhne, auf die sie doch
sonst so stolz war.
Nach dem Gymnasium verzichtete er
auf ein Studium. Sanskrit und die Geschichte Mesopotamiens hätten ihn zwar
interessiert, doch er wandte sich stattdessen direkt dem Journalismus zu. Dazu
gibt es zumindest zwei Versionen: Die eine besagt, dass er wegen frühem
Nachwuchs unbedingt Geld verdienen musste; die andere, dass er mit seinem
grossen Talent ein Studium für nicht zielführend hielt.
Als ich 1972 aus Lateinamerika
heimkehrte, vernahm ich, dass dieser Rameli mittlerweile Karriere gemacht hatte.
Er hatte mit knapp 20 bei der Weltwoche als Journalist angeheuert.
Später wurde er Chefredaktor des Gratisanzeigers Züri Leu, einer
Publikation, die jede Woche in alle Briefkästen der Zürcher Haushaltungen
verteilt wurde und sich bemühte, neben dem üblichen Klatsch auch einen gewissen
Recherchejournalismus zu pflegen. Weil ich einen Job suchte, schrieb ich Jürg
Ramspeck einen anständigen Bewerbungsbrief. Als es zu einem
Vorstellungsgespräch kam, bot er mir sogleich das Du an. Beim Treffen damals
ging es dann eigentlich nur noch darum, ob ich schon morgen oder erst in einer
Woche anfangen sollte.
Diese Leichtigkeit im persönlichen
Umgang hielt das ganze Jahr, in dem ich meine Sporen als Redaktor abverdiente,
an. Jürg war ein unterhaltendes Klatschmaul. Er wusste zu jedem und jeder eine
Sottise, und es blieb sein Geheimnis, wieso ihm sein loses Mundwerk nie zum Nachteil
gereichte. Ich war mir sicher, dass er in meiner Abwesenheit auch über mich
lästerte. Doch Argwohn kam nicht auf. Lag es vielleicht daran, dass er, im
Gegenzug, unglaublich präzise arbeitete? Nicht nur gedanklich, auch technisch.
Neben seiner Schreibmaschine lag ein Blatt, wo er zuoberst die erforderliche
Zeilenzahl des Artikels aufschrieb. Jede Satzzeile, die er mit einer qualmenden
Zigarette im Mundwinkel in die Schreibmaschine hämmerte, zog er von dieser
Summe ab, bis er mit dem letzten Punkt bei null landete. Keine Zeile zu viel,
keine zu wenig. Keine Korrekturen. Fertig. – Diese effiziente Schreibweise
erlaubte es ihm, viel Zeit für anderes zu haben, zum Spielen mit uns
Redaktionskollegen beispielsweise. Damals war Acquire angesagt, ein nicht unspannendes Wirtschaftsstrategiespiel.
Manchmal aber wurde er zum Verleger
gerufen, zu Max Frey, dem Chef
der Jean Frey AG. Auch von diesen
Besuchen berichtete Jürg anschliessend in unterhaltend-abfälligem Ton. Wie er
zum Beispiel, zusammen mit Walter
Bosch, dem damaligen Chefredaktor der Annabelle, auf die
Verlegerjacht eingeladen worden sei, wo auch Frauen als Gespielinnen anwesend
gewesen seien. In den Augen Jürgs hatte Max Züge eines Mafiabosses. Eine andere
Geschichte handelte davon, dass er für Max – die beiden waren
selbstverständlich per Du – einen Flügel auswählen musste für dessen Schloss in
der Toskana, unter der zusätzlichen Bedingung, dort dieses Instrument selbst ab
und an auch zu bedienen. Als ob Jürg dafür Zeit gehabt hätte. Denn es kam
mindestens einmal im Monat vor, dass er ganze Wochenenden in den
Redaktionsräumen verbrachte. Wenn wir montags im Büro erschienen, lag der
Schlafsack noch ausgebreitet auf dem Boden, sämtliche Aschenbecher waren voll
mit seinen Kippen, und aus den Papierkörben stank es nach den nur halb fertig
gegessenen Sandwiches. Er sagte dann bloss, so eine Familie, von der er
getrennt lebte, koste halt. Deshalb redigierte er nebenher noch das 3M Kundenmagazin,
was ihm vermutlich mehr Geld einbrachte als sein Chefredaktorlohn.
Zu meinen Aufgaben auf der Redaktion
gehörten auch Strassenumfragen, die ich mit dem Fotografen Willy Spiller realisierte:
– Was sagen Sie zur Erhöhung der
Strassenbahntarife?
– Wie verbringen Sie den Sommer in
der Limmatstadt?
– Wohin würden Sie am liebsten
verreisen, wenn Sie nicht auf ihr Portemonnaie achten müssten?
Auch die Betreuung des Züri-Leu-Cups,
eines Eishockeyturniers auf der Kunsteisbahn Dolder, gehörte zu meinem
Portefeuille, wie auch das wöchentliche Einholen der Kolumnen. Die Anlieferung von
Werner Wollenbergers Texten war
stets ein Derby. Seine Frau Elfie
erschien auf der Redaktion am Talacker
39 mit dem Manuskript ihres Gatten regelmässig eine Stunde zu spät und
fragte des Öfteren aufgelöst, aber charmant, ob der Züri Leu die Busse für die von ihr begangene
Geschwindigkeitsübertretung übernehmen würde. Die Kolumnen Roman Brodmanns hingegen trafen
meistens fristgerecht ein. Sie hatten es in sich. Scharfzüngig, angriffig, auf
den Punkt gebracht. Mit Genuss übergab ich jeweils dem Boten diese gepfefferten
Texte weiter zur Setzerei. Doch eines Tages vernahm ich, dass Max Frey in
Begleitung von Jürg persönlich dort erschienen sein soll, Brodmanns Manuskript
einverlangt und dessen Publikation verboten habe. Ich kann mich nicht mehr an den
Inhalt erinnern, doch es erzürnte mich dermassen, und der Zorn traf auch Jürg,
dem ich mangelndes Rückgrat vorwarf, dass ich kurz entschlossen meine Arbeit
beim Züri Leu aufkündigte.
Jürg verübelte mir diese Aktion, und
unser Kontakt beschränkte sich in den folgenden 40 Jahren auf zufällige
Begegnungen an Vernissagen und anderen Events. Vor einigen Jahren jedoch setzte
ich an einem Donnerstagabend meinen Fuss ins Hotel Eden au Lac, um mir
seine Jazzband anzuhören. Dieser Altherrenklub berührte mich. Ich wusste nämlich
nach meiner Pensionierung lange Zeit mit mir nicht sehr viel anzustellen und
musste meinen Freiraum mit Aktivitäten füllen. Und da hörte ich diese Combo mit
Jürg am Klavier, die trotz fortgeschrittenen Alters unbeirrt dem Jazz frönte.
Das imponierte mir. In der Pause bestellte ich einen zweiten Gin Tonic und hatte ein sehr schönes
Gespräch mit Jürg, der zu mir kam und vor Anekdoten nur so strotzte – wie
immer. Er wollte unbedingt noch ein Buch über die Geschichte des Journalismus
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreiben. Wer sonst, wenn nicht er,
hätte das notwendige Wissen, die notwendigen Erfahrungen und den notwendigen
Witz dazu gehabt.
© Nikolaus Wyss
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