Freitag, 1. Dezember 2017

Das Frauenhaus von Getsemani

Ich weiss nicht, an welchen Wegmarken diese Geschichte noch vorbeikommen wird. Ich weiss nur, wie sie endet: in einer weihnachtlichen Sammlung für das Frauenhaus von Getsemani. Was für ein Ortsname für diese Jahreszeit! (Würde doch eher auf Gründonnerstag zutreffen...) Naja. Gerade vorhin habe ich mit meiner Bank in der Schweiz Kontakt aufgenommen und fragte nach, wie die Einrichtung eines Spendenkontos technisch funktioniere. Ich hoffe, ich bekäme die notwendigen Informationen bis zum Ende dieses Textes.
Getsemani ist eines von 14 Dörfern im Indio-Reservat von Caño Mochuelo am Rio Casanare weit draussen in den Llanos, der immensen und heissen Tiefebene im Osten Kolumbiens, wo Grossgrundbesitzer regieren, Rinderherden weiden, Vögel Paradiese vorfinden und besonders des Nachts urweltliche Schreie ausstossen, Anakondas im Unterholz ihr Fressen erwürgen, Kaimane in den Nebenarmen der Flüsse lauern und Mücken ihr Unwesen treiben. Es ist unwegsam. In der Regenzeit findet der Verkehr auf den Flüssen statt, in der Trockenzeit gibt es Trampelpfade durch endlose, steppenartige Landschaften, auf denen man sich am besten zu Pferd fortbewegt. Wer keine Angst vor platten Reifen hat, dem bieten sich als Alternative robuste Velos oder Motorräder an. 
Unsere Anfahrt schafften wir in zwei Tagen: Mit dem Flugzeug nach Arauca, wo wir übernachteten, und dann in einer sechsstündigen Fahrt in einem schweisstreibenden Bus
auf holpriger Naturstrasse bis nach Cravo Norte. Eigentlich wollten wir dort nach dieser anstrengenden Reise eine weitere Nacht verbringen, doch der örtliche Sicherheitschef, dem unsere Ankunft vorgängig gemeldet worden war, riet uns zur sofortigen Weiterreise: im Busch vernehme man verdächtige Bewegungen! Er wollte wegen uns wohl keine Scherereien bekommen. Vielleicht hatte er schon die Schlagzeile des El Espectador vor Augen: Schweizer entführt! Millionen-Lösegeld gefordert. Und er wäre an allem schuld gewesen... 
Im östlichen Teil Kolumbiens gibt es immer noch ein paar Guerilla-Nester der ELN. Vielleicht sind es auch Paramilitärs. Versprengte, kriminelle Banden, die im Zuge des einst blühenden Cocain-Narko-Imperiums von Pablo Escobar, der in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ganz Kolumbien in Angst und Schrecken versetzte, ihre Rolle als Verteidiger irgendwelcher selbsterfundener Rechte fanden. Das Polizei-Hauptquartier in der Stadt Arauca schmückt zur Erinnerung an jene Zeit seinen Garten vor dem Hauptgebäude mit der beschlagnahmten Avioneta des Drogenkönigs.
So bestiegen wir, schon etwas erschöpft, in Cravo Norte ein bereits vollbepacktes Motorboot, das uns in zweistündiger Fahrt flussabwärts nach Getsemani brachte. Es nachtete ein, als wir von unserer Gastgeberfamilie Gualdron mit grossem Bahnhof empfangen wurden. Der Rektor des örtlichen Colegios, Don Alberto, war zugegen, das Pastorenpaar der evangelikalen Kirche kam vorbei, und eine Verwaltungsbeamtin aus Yopal, welche die Dorfbewohner für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen registrieren liess, begrüsste uns und befreundete sich alsogleich - noch mehr als mit uns - mit dem Papagei der Gualdrons an. Am nächsten Tag jedenfalls flog das Viech, das nichts als absolut unerträglich und unaufhörlich krächzen kann, in Erinnerung an den vorangegangenen Abend direkt auf die Arme der jungen Frau und zerkratzte sie schön.
 Weitere Nachbarn stellten sich am Willkommensabend ein. Sie beäugten uns im Halbdunkel aus etwelcher Entfernung. Zum Schluss fuhr noch die Attraktion des Dorfes auf ihrem Motorrad vor: eine junge, schwarze Chemie-Lehrerin aus dem Choco, dem Westen Kolumbiens, die hierher versetzt wurde und sich rigoros zum Umweltschutz bekannte. Sie bat mich alsogleich, ihr bei der Evaluation von Abfallverwertungsmethoden zu helfen. 
Im Dorf gibt es kein elektrisches Netz. Jede Familie muss sich selber zu helfen wissen. Diejenigen, die sich einen Generator leisten können, bringen ihn abends zum Laufen, um Handys aufzuladen und eine halbe Stunde über Satellitenfernsehen das Neueste vom Tag zu erfahren. Fürs Licht jedoch ist der Kraftstoff zu teuer. Deshalb installierten wir unsere Hängematten bei Taschenlampenlicht und hatten erst am darauffolgenden Morgen Gelegenheit, bei Regen unser Werk zu begutachten.
Dann setzten wir uns zu Tische. Als Gäste wurden wir zuerst bedient. Alle anderen warteten, bis wir fertig gegessen hatten. Es gab Bohnen, Yuca und Reis. Diese Speisen sollten für die nächsten Tagen unsere Grundnahrungsmittel sein. Nein, nicht ganz. Unseretwegen schlachteten sie ein Rind. Was für eine Ehre!
Sein Fleisch begleitete unseren Aufenthalt in der Gestalt von Suppenknochen, Würsten, (zähen) Plätzlis, Kutteln, Leberli und Gelatine (für einen feinen Nachtisch). Andere Teile des Fleisches wurden den Nachbarn verkauft.
Schon am ersten Abend kam das drängendste Problem des Reservats zur Sprache: die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur. Wir waren zu Gast bei einer Sikuani-Familie. Ihre eigene Sprache sei am Sterben, sagten alle. Geeignete, attraktive Lehrmittel scheint es keine zu geben, und die Jungen sehen auch kaum mehr einen Sinn darin, die Sprache ihrer Eltern zu lernen, mit welcher sie ausserhalb des Dorfes überhaupt nichts anfangen können (weitere Sikuani-Dörfer gibt es nur noch in ein paar hundert Kilometern Entfernung, in anderen Reservaten). In diesem Reservat Caño Mochuelo jedoch wurden in den letzten 30 Jahren neben den Sikuanis noch sieben weitere Ethnien mit unterschiedlichsten Sprachen zusammengeführt und angesiedelt, ungefähr die Hälfte davon waren zuvor Nomaden. Sie verstehen einander nicht. Das Spanische als lingua franca hingegen höhlt die sprachliche Identität der einzelnen indigenen Gemeinschaften aus. 
Hätte ich ins erwartete Mitleid und Bedauern einstimmen sollen? Dieser beklagte Verlust schien mir unter diesen Umständen nur logisch und ist wohl Folge von jahrhundertealten Versäumnissen, Vertreibungen und politischen Fehlentscheidungen. Kommt hinzu, dass die modernen Kommunikationsmittel, die Globalisierung, die wirtschaftlichen Verstrickungen und Abhängigkeiten dem Erhalt von sehr kleinen, isolierten, kulturellen Einheiten nicht förderlich sind. Wie könnte der tief empfundene Verlust, diese Verunsicherung der eigenen Identität, mit irgend etwas Attraktivem, Zukunftsträchtigem aufgewogen werden? Das Zurückdrehen des Rades kann doch nicht die Antwort sein auf die herrschende Ohnmacht.
Während unserer Anwesenheit im Dorf standen Festivitäten an. Wir freuten uns darauf, bis wir vernahmen, dass der Gobernador des Reservats unsere Teilnahme kategorisch ablehnte. Als wir nach den Gründen fragten und um ein klärendes Gespräch baten, liess man uns wissen, dass er jetzt wegen übermässigem Alkoholkonsum für die nächsten 24 Stunden nicht ansprechbar sei. Später lockerte die Junta der Dorfältesten das Verbot ein wenig und erlaubte uns zuzuschauen, allerdings mit der Auflage, keine Fotos zu schiessen.
Es gab Kinderprogramme, kulturelle Events, an denen Gesänge aus dem eigenen Dorf vorgetragen wurden, Festspeisen, und am zweiten Abend Tanz (am ersten regnete es). Am Spannendsten waren die Fussballspiele. Zum einen diejenigen auf den Micro-Plätzen, wo eine Mannschaft nur aus fünf Spielern und einem Torhüter besteht, und wo sich vor allem einsatzfreudige Frauenmannschaften hervortaten. Zum anderen die Burschen auf dem grossen, unebenen und von Löchern durchsetzten Rasen, wo sie mit einer Verbissenheit sondergleichen um den Gesamtsieg kämpften. Im Final kam es nach einem 4:4 in der regulären Spielzeit zum Penalty-Schiessen zwischen Getsemani und Morichito. Erstere gewannen. Sie hatten offenbar die stärkeren Nerven. Abends kippte dann die Stimmung zu unseren Gunsten. Zum einen wurden wir plötzlich ausgiebig als Schweden (suecios statt suizos) gefeiert und herumgereicht, zum anderen waren wir ein willkommener Vorwand, mit uns noch eins mehr über den Durst zu trinken.
In den folgenden Tagen besuchten wir mit dem Motorrad noch andere Dörfer, wo uns dasselbe Bild in unterschiedlicher Gestalt begegnete.
Dasselbe Jammern über die sterbende Sprache und den Niedergang der Kultur. Vor den Hütten flochten Frauen schöne Körbe, Hüte, Taschen oder Armbänder, um sie nach der Fertigstellung einem Zwischenhändler in Kommission zu geben, der sie dann in Bogota auf den Markt bringt. Fast nichts bleibt ihnen von diesem Handel übrig. Gleichwohl, es sind die Frauen, die mit dem Fleiss der Verzweiflung versuchen, einigermassen anständig über die Runden zu kommen.
Auch wenn sie im Reservat die unterschiedlichsten Sprachen sprechen: in ihren kunsthandwerklichen Produkten lässt sich eine einheitliche gestalterische Linie erkennen. Sie alle häkeln und knüpfen und flechten und schleifen und färben und feilen an einem Strick, und ich hätte nicht unterscheiden können, ob jetzt diese Tasche nur von der einen Ethnie und dieser Schmuck nur von der anderen stammt. 
Zum Schluss unserer Explorationstour zeigten uns dann die Leute noch ein Haus stattlichen Ausmasses, das, so sagten sie, eigentlich als Frauenhaus und Handwerkszentrum für die ganze Region gedacht gewesen sei (siehe Bild ganz oben). Eine Tafel über dem Eingang erinnert daran, dass die katholische Stiftung Populorum Progressio diesen Bau ermöglicht hatte. Im Andenken an deren Gründer, Papst Paul VI, der 1968 Kolumbien besucht hatte, in Würdigung des Kolumbien-Besuches von Papst Johannes Paul II 1992, und in Erinnerung an den kürzlich stattgefundenen Besuch von Papst Franziskus unterstützt dieses Werk Initiativen, welche die Selbstbestimmung verschiedener Volksgruppen stärken soll. - Doch das Haus in Getsemani blieb leer.

Es fehlten wohl Gemeinsinn und noch vielmehr Geld, um diesem Rohbau Leben einzuhauchen. 
So, und hier sind wir nun. Schnell stand angesichts dieses grossen Rohbaus, in welchem sich so vieles machen und herstellen liesse, und der die Frauen vor Ort zu neuen Zielen und Vorhaben inspirieren könnte, mein Entschluss fest, zu versuchen, für die Belebung dieses Zentrums Geld zu sammeln. Meine Bank konnte mir dabei nicht helfen. Doch dann kamen mir die Freunde der Crowd-Funding-Organisation wemakeit in den Sinn. Und so entwickelte ich ein kleines Projekt, das ich hiermit zu weihnächtlichem Markte trage: Das Frauenhaus von Getsemani. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich geneigte Leserinnen und Leser dieses Blogs finden würden, die diese Idee unterstützen könnten. Mit einem Click auf diese Zeilen befindet man sich bereits im Projekt. Jede Spende, so klein sie auch sein mag, ist willkommen. Besonders willkommen sind natürlich auch grosse Spenden mit der Aussicht, das Frauenhaus persönlich in Augenschein zu nehmen. Vielen Dank. 

© Nikolaus Wyss

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