Samstag, 8. Oktober 2022

Brief an meinen ungeborenen Bruder

Lieber Karlsohn oder Emilsohn, was weiss ich

    Karl war längere Zeit der Geliebte meiner Mutter, und Emil hiess mein Vater, vielleicht auch deiner, was weiss ich. Oder wärst du ein Mädchen geworden? Mein Schwesterherz? Was weiss ich... Ich weiss lediglich, dass unsere Mutter dich abgetrieben hat.

    Es gab in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Welle von selbstbewussten Frauen, welche das Thema an die Öffentlichkeit trugen. Meine Mutter war auch darunter und bekannte sich in einer grossen Zeitungsannonce, zusammen mit tausend anderen Frauen, zu ihrer Tat. Das Inserat bekam ich nie zu Gesicht. Doch anlässlich einer späteren Begegnung sah unsere Mutter in der Meinung, ich hätte von dieser Veröffentlichung erfahren, den richtigen Zeitpunkt für gekommen, mich auch noch persönlich von deinem kurzen Leben in ihrem Bauch in Kenntnis zu setzen und allfällige Fragen zu beantworten. Daraus hätte sich bestimmt ein lohnendes Gespräch entwickeln können. Doch ich sah mich in diesem Moment ausserstande, darauf in adäquater Weise einzugehen. Ich hätte überrascht und neugierig sein und alles über dich erfahren müssen. Diese Neugier aber wurde gestört vom lächerlichen Umstand, dass ich ihre Mitteilung für unpassend hielt, weil sie meines Erachtens dreissig oder vierzig Jahre zu spät gemacht wurde. Meine Mutter ging zu diesem Zeitpunkt auf die 80 zu, und ich war nicht darauf vorbereitet, so ein Bekenntnis, das sie so lange und so cool bei sich aufbewahren konnte, als tiefgreifendes Erlebnis in ihrem eigenen Leben zu begreifen und zu würdigen. Das tut mir heute leid für sie wie auch für dich. Ändern kann ich es nicht mehr. Vielleicht bist du ihr drüben schon einmal begegnet, und ihr konntet eure Standpunkte - hoffentlich friedlich - austauschen, was weiss ich. Ich meine einzig zu wissen, dass du auf seltsame Weise bei mir immer wieder präsent gewesen bist, auch zu Zeiten, wo ich noch gar nicht von deiner allzu kurzen Existenz wusste.

    Überdeutlich zum ersten Mal, als ich als Dreikäsehoch dem Christkind einen Zettel schrieb mit dem Wunsch, ein kleines Brüderlein zu bekommen. Meine Mutter half mir beim Texten, und gemeinsam legten wir das Stück Papier, mit einem Stein beschwert, abends auf das Fenstersims. Am nächsten Morgen war der Zettel weg, und bei mir wuchs die Hoffnung, das Christkind würde meinen Wunsch erfüllen. An Weihnachten jedoch lag unter dem Christbaum lediglich ein Teddybär.

     Zum zweiten Mal warst du mir präsent im Skilager auf Trübsee. Ich war da vermutlich in der 5. Primarklasse und musste in Reih und Glied warten, bis ich an einem der paar Kaltwasser-Spülbecken meine Zähne putzen und mit dem Waschlappen übers Gesicht fahren konnte. Das Warten machte mir aber nichts aus, denn vor mir stand ein Junge, der mir ausserordentlich gut gefiel. Ich erschrak über meine Empfindungen, gleichzeitig fühlte ich mich diesem Buben aber so nah und verbunden, dass ich meine Gefühle für ihn als brüderliche Nähe deutete.

    Dieses Erlebnis wurde zu einem Grundmuster in meinen Neigungen zu jungen Männern. Ich war wohl auf der Suche nach dir, mein Lieber. So legte ich mir das wenigstens zurecht. Und es hält an bis heute. 

Wieso ich dir aber ausgerechnet heute schreibe, hat mit der Verleihung des diesjährigen Nobelpreises für Literatur zu tun. Ich habe zwar von der Preisträgerin Annie Ernaux nichts gelesen, aber bei der Würdigung ihres literarischen Schaffens erwähnte ein begeisterter Literaturkritiker im Radio das Buch L'Autre Fille aus dem Jahr 2011, worin die Schriftstellerin einen Brief an ihre Schwester schreibt, die als sechsjähriges Kind, zwei Jahre vor der Geburt der Autorin, gestorben war. Offenbar hatte die Familie einen Mantel des Schweigens über deren Tod gelegt, und Ernaux hat erst viel später von der Existenz der verstorbenen Ginette, so ihr Name, erfahren, was sie dann anregte, zu ihr eine persönlich-literarische Verbindung herzustellen, um ihr nicht nur vieles geschwisterlich anzuvertrauen, sondern ihr auch ein ehrendes Denkmal zu setzen.

    Ich glaube zwar nicht, dass es zwischen uns so weit kommen wird. Aber der Gedanke, dass zu mir eigentlich ein Bruder (oder doch eine Schwester?) gehört, macht mich glücklich und rückt mich in die Nähe familiärer Normalität, deren Ausbleiben ich damals, in jungen Jahren, so schmerzlich empfand. Ich wuchs, du weisst es, als Einzelkind bei unserer Mutter auf, der Vater war in unserem Alltag kaum präsent. Im Kindergarten bei Fräulein Werling und später im Wolfbach-Schulhaus wurde ich oft nach meinem Vater und meinen Geschwistern gefragt und hatte darauf keine passende Antwort. Ich beneidete meine Schulkameraden aus kinderreichen Familien, den Rolf Stoffner zum Beispiel von der Froschaugasse, und konnte nicht verstehen, dass Rolf wiederum mich beneidete, weil ich die Spielzeuge mit niemandem teilen musste. - Wie wäre das bei uns gewesen, Karl-Emil? Ich als älteres Geschwister hätte vermutlich stets nachgeben und dir die Spielsachen überlassen müssen. Und hätte mich dann eifersüchtig an den Rockzipfel unserer Mutter gehängt und weinend mein Schicksal beklagt. Diese Situation halte ich noch heute für zehnmal attraktiver als das Alleinsein mit all seinen angeblichen Privilegien. Ich hätte mit dem Akzeptieren solcher Situationen zusätzlich noch soziale Kompetenz gelernt. Du hast mir gefehlt.

    Ja, du wurdest umgebracht. Das ist schon so. Noch bevor du hättest leben können. Du warst ein Opfer der Umstände, die ich auch nicht so genau kenne. Wenn dein Vater auch mein Vater war, dann sicher auch wegen der Unverträglichkeit unserer Eltern. Unsere Mutter wollte sich wohl nicht noch mehr Lärm, wie Vater ihn zu veranstalten pflegte, aufhalsen. Warst du hingegen Karls Fötus, so hätten wohl auch noch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle gespielt. Karl war verheiratet, hatte selbst zwei Kinder und eine schweizweit bekannte Frau. Er hätte unsere Mutter wohl wissen lassen, dass er nicht bereit wäre, dich anzuerkennen. Damals konnten Männer noch bestimmen, ob sie sich zu ihrer Brut bekennen wollten oder nicht. Das war bei meinem Vater (oder dem unsrigen) auch so. Ich war als uneheliches Kind nicht erbberechtigt und trug den Familiennamen meiner Mutter, welche wiederum auf den Ämtern als "Fräulein Wyss" angesprochen wurde.

    Ich glaube, unsere Mutter sah sich damals wohl als Opfer und körperlich wie seelisch überfordert, noch ein weiteres Kind aufzuziehen, was ihren Scharfsinn zur Situation der Frauen in unserem Land sicher schärfte, der sich dann später in ihrem feministisch-journalistischen und schriftstellerischen Wirken fruchtbar niederschlug. Doch davon hast du nichts. Was du hingegen allen, die jetzt noch leben auf diesem Planeten, voraus hast, ist dein Tod. Du weisst, wie es drüben aussieht, während wir hier immer noch darüber rätseln. Klar, wir gehen unwissend unseren Weg, bis es so weit ist. Wir machen uns unsere Gedanken über Verstorbene und über den eigenen Tod, und wenn es gut kommt, so stellt sich sogar eine gewisse Befriedigung und Dankbarkeit ein über das, was wir verleben durften. Das fehlt dir. Du kannst dich lediglich für die Wärme im Uterus unserer Mutter bedanken, hast vielleicht von aussen auch noch Stimmen vernommen oder Mutters vielgeliebten Mozart. Tröstet dich das, oder hast du das Gefühl, unsere Mutter sei dir noch etwas schuldig?

    Ich sage dir, und vielleicht kannst du es von weitem beobachten, unsere Welt hat auch schon bessere Tage gesehen. In meinem Umkreis lebte ich meine 73 Jahre in der falschen Gewissheit, dass wir Menschen anstehende Probleme auf anständige und friedliche Art lösen können, ohne eindeutige Opfer und ohne eindeutige Sieger. In Balance sozusagen. Du hingegen musstest die Erfahrung machen, dass unsere Mutter deine Präsenz nicht auf die Reihe kriegte und dich, als Konsequenz davon, abtrieb. Du wirst für ewig dich als eindeutiges Opfer sehen und kaum Verständnis dafür finden, dass sich meine Mutter auch in einer beklemmenden Situation befinden mochte und Entscheidungen treffen musste, über die sie später offenbar jahrzehntelang schwieg, weil sie sie so heftig schmerzten. Deine traumatische Sterbenserfahrung hingegen lässt dich anders auf die Weltgemeinschaft blicken, die momentan in existentielle Krisen hineinschlittert. Du hast den Zusammenbruch, das Nicht-mehr-Können früh erfahren und musstest mit deinem Leben büssen. Ich hingegen, ohne von deinem Schicksal zu wissen, wog mich im Glauben ans Gute im Menschen, an die Liebe, an die Machbarkeit und an die Lösung von Konflikten, an Vergebung, Reue, Zuversicht und Vernunft. In mir taucht erst jetzt allmählich die Ahnung auf, dass wir kurz davor sein könnten, in globo von dieser Welt abgetrieben zu werden.

    Ohne dass ich von dir wusste, hast du mir in der Gestalt verschiedener Liebhaber und treuer Freunde immer wieder das Gefühl vermittelt, das Leben sei schön und lebenswert. Dafür danke ich dir. Deine feinstoffliche Präsenz ermöglichte mir Glücksgefühle, Erfahrungen und auch Enttäuschungen, die mich, unter dem Strich, immer ein Stück weitergebracht haben. Aber solange ich selbst bin, bist du mir immer etwas voraus. Soll ich mich freuen, mich bei dir dereinst einzufinden. Was rätst du mir? Was ist noch zu tun, bevor ich komme?

    Ich warte gerne noch ein bisschen auf deine Antwort.   

Alles Liebe

dein Bruder Nikolaus

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©Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Arthur Spirk hat gesagt…

Sehr berührend, klug und so wie Deine Wunschvorstellung von der Menschenwelt. Auch wenn sie sich im Ganzen als Wunschtraum erweisen sollte, der Einzelne kann sie einlösen. Danke Dir, Nikolaus.