Dienstag, 4. Oktober 2022

Un po' di spaghetti alla bolognese

Lina Rossi in der Küche von Mutters Wohnung an der Winkelwiese 6
Ich kann ziemlich genau sagen, wieviele Male im Jahr mir Lina Rossi in den Sinn kommt: ein- bis zweimal. Nämlich immer dann, wenn ich ein Bolognese-Ragù zubereite. Sowas koche ich nur, wenn ich das Hackfleisch für ein Chili con carne oder für einen Braten nicht ganz aufgebraucht habe. Dann gibt es eben eine Bolognese, was nicht mehr als ein- bis zweimal im Jahr vorkommt.

Frau Rossi aus dem Friaul war die Haushaltshilfe meiner Mutter im fortgeschrittenen Alter. Sie kam einmal pro Woche an die Winkelwiese in Zürich und hielt nicht nur die Wohnung sauber, sie kochte auch das Mittagessen, und zwar in grösserer Menge, damit meine Mutter das Übriggebliebene später einfach aufwärmen konnte. 

Es kam vor, dass ich Frau Rossi antraf, wenn ich meine Mutter besuchen ging. Oft köchelte dann auf dem Herd gerade eine Bolognese-Sauce vor sich hin und verströmte ihren appetitanregenden Geruch in der ganzen Wohnung. Eine Stunde lang. Besser zwei. Bis alles sämig war. Frau Rossi erklärte immer wieder gern aufs Neue, worauf es dabei ankam: bei sehr kleinem Feuer lange kochen. Den Deckel einen Spalt breit offenlassen, im Laufe der Zeit mit Wasser etwas nachgiessen, damit die Sauce flüssig bleibt und nicht anbrennt. Weitere Schlüsselwörter von ihr waren jeweils "un po": un po' di olio d'oliva, un po' di passata di pomodoro, un po' d'aglio und so weiter. Und zum Schluss: un po' di burro. Ich wartete jeweils noch auf den Hinweis "un po' di vino rosso", der allerdings stets mit einiger Verzögerung vorgebracht wurde, denn Alkohol war in ihrer Familie ein leidiges Thema. Ihr Mann war ihm allzufest zugetan, so dass der Gutsch Wein in der Sauce einer kleinen Sünde gleichkam.  

Meine Mutter konnte es gut mit Frau Rossi. Sie besuchte ihre Familie manchmal in Seebach draussen und wurde dabei wie eine Königin empfangen. Herr Rossi zeigte sich stets von der besten Seite und liess seinen lateinischen Charme spielen, und die halbwüchsigen Kinder zogen sich extra schön an, wenn sie zu Besuch kam. Die Tochter Francesca konnte anpacken und war ehrgeizig. Die Schulen schaffte sie mit Bravour. Die zwei Söhne hingegen, deren Namen mir entfallen sind, waren eher von sanfter Natur und wirkten schüchtern und fragil. Doch wenn es bei meiner Mutter in der Wohnung etwas zu reparieren oder anzustreichen galt, waren sie immer zur Stelle. Ja, meine Mutter stattete einmal sogar einen Besuch bei der Familie Rossi im Friaul ab.  Daraus entstand ein Text, der glaub ich in ihrem Lesebuch "Das blaue Kleid" publiziert wurde. Da ich aber schon fast aus Prinzip die Bücher meiner Mutter nie las, kann ich das nicht genau belegen. 

Mir schien, dass sich die beiden Frauen in bestimmten sprachlichen Dingen im Laufe der Zeit annäherten. Aus dem Mund meiner Mutter meinte ich immer öfters Diminutive zu hören, wenn es um Quantitäten ging. Sie antwortete zum Beispiel auf die Frage, ob sie noch etwas Wein möchte, mit "nur ganz weneli" (nur ganz wenig). Oder wenn sie sich zum Mittagsschlaf hinlegte, so ruhte sie sich "nur es bitzeli" (nur ein bisschen) aus. Sie wurde öfters "e chli" (ein wenig) müde, und wenn es ihr zu viel wurde, dann bezeichnete sie es "es Spürli zvill" (eine Spur zuviel). 

Was der einen die Sauce war, waren der anderen ihre Empfindungen. Wobei ich glaube, dass ihre Gefühle um ein Vielfaches stärker waren, doch sie wurden in Rossi'scher Art gefiltert und auf ein undramatisches Niveau eingekocht. Dies war umso erstaunlicher, als meine Mutter gleichzeitig gewisse Dinge, die ich für nicht so besonders schlimm hielt, mit Worten wie "grauenhaft", "entsetzlich" oder "wahnsinnig" bezeichnen konnte. Auch diese hemmungslosen Urteile schienen mir bei ihr im Verlaufe des Alterns inflationär. Ein Auseinanderdriften also von einer von Bescheidenheit getriebenen Sanftmut und übertriebener Erschrockenheit.

Frau Rossi habe ich aus den Augen verloren. Ist sie ins Friaul zurückgekehrt? Was ist aus ihren Kindern geworden? Wobei: diese Fragen interessieren mich eigentlich nur "es bitzeli", nicht so, dass ich sie jetzt wirklich beantwortet haben möchte. Die Erinnerungen genügen mir vollauf mit der jährlichen Würdigung ihres Wirkens beim Kochen meiner Bolognese-Sauce.

©Nikolaus Wyss  

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1 Kommentar:

Tobias Kaestli hat gesagt…

Ein wunderbarer Text! Essen und Gefühle hängen eng zusammen, Gerüche und Erinnerungen ebenso. Das hat schon Proust dargelegt, aber in deinem Text, lieber Nikolaus, kommt mir die Erfahrung es bitzeli nöcher.