Mit Mutzi, ca. 1960 |
Meine Ratlosigkeit beim Anblick eines halbtoten Vogels, welchen unsere Königin geschnappt und malträtiert hat. Jetzt liegt er zitternd am Boden und die junge Katze ist sowas von stolz. Auf den finalen Biss allerdings hat sie keine Lust. Muss ich jetzt die Tat selber vollziehen? Wie macht man sowas?
Feige verziehe ich mich für eine Weile und überlege, was zu tun sei und ob überhaupt etwas zu tun sei. Ich erinnere mich an meine Jugendzeit an der Winkelwiese, wo Mutzi zu wiederholten Malen halbtote Amseln heimbrachte und sie uns stolz präsentierte. Meine Mutter hielt dafür eine mit Stroh ausstaffierte Schuhschachtel bereit, um den erschöpften Tieren Unterschlupf zu bieten. Nach ein paar Stunden oder nach der ersten Nacht starben sie aber jeweils weg. So auch hier: Als ich nach einer Stunde nachschaute, war der Vogel tot, und ich schickte mich an, den Körper in eine Plastiktüte einzuwickeln und zu entsorgen. Die Federn wischte ich auf, während mich die Katze dabei ganz genau beobachtete. Ich tröstete mich beim Gedanken, dies sei halt die Natur, mich gehe es nichts an.
13. September
Rätselhafte Jahre |
4. Mai
Das unvollständige Datum: Zu ihrer Zeit als Redaktorin benutzte meine Mutter fürs Briefeschreiben meistens die Schreibmaschine. Ich nehme an, sie schrieb diese im Büro. Es waren fast immer A5-Blätter. Im Pensionsalter wechselte sie dann zur Handschrift. Dadurch wurden ihre Briefe unlesbarer.
Aus der Distanz von Jahrzehnten beschäftigt mich allerdings etwas Anderes: Ich kann ihre Briefe nur sehr ungenau einem bestimmten Jahr zuordnen. Ob einer aus dem Jahre 1975 stammt oder aus 1981 erschliesst sich erst aus dem Kontext, und auch dieser ist nicht immer eindeutig. Es scheint, als ob sie ihren Briefen keine historische Bedeutung beigemessen hätte. Wäre die Nennung des Jahres für sie mit zu viel Pathos verbunden gewesen? Sie schrieb ganz aus dem Moment und für den Moment. Die Inhalte bezogen sich auf die letzten Begegnungen und auf die Zweifel und Erfolge ihres Sohnes. Und sie beinhalteten Klatsch über Verwandte, Freunde und Bekannte jetzt, am 14. September oder am 19. Oktober. Das hatte zu genügen.
Konnte sie sich überhaupt vorstellen, dass ich ihre Briefe aufbewahrte, sei es aus Respekt oder weil sie mir tatsächlich etwas bedeuteten, oder weil ich mir vornahm, sie später wieder einmal zu lesen, dann, wenn sie vielleicht schon tot sein würde?
Bei mir lagen die Briefe bis zu deren Ablieferung ins Schweizerische Literaturarchiv in Bern stossweise und ungeordnet in Schachteln herum. Gedacht für später. Traf dieses Später je einmal ein? Meine Mutter ist jetzt immerhin schon seit über 20 Jahren tot.
Ja, ich las einige davon nochmals vor ihrem Verschwinden im Archiv. Nicht systematisch und wissenschaftlich, sondern nach dem Zufallsprinzip. Wühlen, hervorklauben, lesen, wieder weglegen, weiter wühlen, innehalten, sich erinnern, sich ein paar Gedanken dazu machen, etwas schreiben, weiter wühlen, übergehen, erschöpft liegen lassen, noch einmal lesen, fantasieren, rot werden…
Nun werden die Briefe im Lager nur noch mit weissen Handschuhen angefasst, Vorstufe zum Heiligen. Bern liegt fern.
Schweizer Nationalcircus Knie auf dem Zürcher Sechseläuteplatz Zürich. Ich ergatterte gestern noch den letzten der 1500 Sitzplätze. Sass bei der Abschrankung zum Orchester und überblickte nur die Hälfte der Manege, bekam aber mit, wie ein herumfliegender Papagei sich in den Schnüren, die vom Chapiteau herunterhingen, verhedderte und vor unseren Augen abstürzte.
Das Orchester hatte eine Art Weichspüler vorgeschaltet. Die Bässe dröhnten zwar überlaut, doch im mittleren und oberen Klangbereich vermisste ich Brillanz und Intonationsschärfe. Lag vielleicht daran, dass da gar keine Bläser mehr im Einsatz waren. Der Sound kam aus der Konserve, ergänzt mit einem Schlagzeuger und einem Mann an der Gitarre. Das Mischpult generierte zum grössten Teil diese Konservenmusik. Daran änderte auch der Harlekin nichts mit seinen gelegentlichen Saxophon-Einsätzen aus dem Publikum zum Heraufbeschwören alter romantischer Zeiten. Hätten sie doch zur Erinnerung ein paar Löwen, Zebras, Elefanten und Dromedars in die Manege gebracht. Doch nur noch gerade Pferde dürfen an den klassischen Zirkus erinnern. In Zürich liegt sogar eine parlamentarische Motion auf dem Tisch, in Zukunft dem Zirkus sämtliche Tiere zu verbieten...
Zum Schluss des Abends die Übergabe an die 159. Knie-Generation. Dieser Moment war insofern bemerkenswert, als ich meinte, einem historischen Akt beizuwohnen. Fakt aber ist, dass in jeder Aufführung diese Übergabe stattfindet, als Teil des Programms. 288mal oder so. Mit meinen Tränen der Rührung fiel ich auf die Einmaligkeit des Ereignisses total herein.
Es
ist so, als ob ich mich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten dem
unvermeidlichen Ende nähere. Da ist mein Körper, der mit seinen Falten
und seiner unappetitlichen Schwabbeligkeit schon resigniert hat, mit
seinen Schmerzen und seiner Unbeweglichkeit mir deutlich zu verstehen
gibt, dass ich jetzt im letzten Abschnitt meines Lebens angekommen bin.
Er nimmt das unabwendbare Schicksal hin und lebt mir vor, was jetzt noch
ansteht. Er verwandelt meine Gestalt in eine lächerliche Figur, die
zuweilen froh wäre, abtreten zu können. Ich sage mir, zieh doch
wenigstens deinen Bauch ein, und ich bedaure, meinem Körper nicht mehr
Unterhalt zukommen gelassen zu haben.
Ganz anders aber mein Geist, der immer noch von Liebesnächten und anderweitigem Erfolg träumt, vom Durchbruch
dorthin, wo der Honig fliesst und stets genug Geld vorhanden ist, um
mir jede Köstlichkeit zu leisten, genug Anerkennung, von allen
wohlwollend beachtet zu werden. Wo ich umgeben bin von dienstfertigen,
attraktiven Menschen, die mir alle Wünsche von den Lippen lesen und
diese alsogleich umsetzen in Tat.
Noch
bevor andere über meine Unverbesserlichkeit lachen, sperre ich meine
Gedanken in den Giftschrank, betrachte sie durchs Glas und sollte froh
sein, den Schlüssel verlegt zu haben. Nur nachts in meinen Träumen finde
ich ihn, öffne die Tür, nehme sie heraus, schmücke mich damit von Kopf
bis Fuss. Und siehe da, wer steht hier vor dem Spiegel? Ein alter Mann,
glücklich und dankbar.
Nicht immer, leider, vermag ich mich an die Träume der vergangenen Nacht erinnern.
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©Nikolaus Wyss
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