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Mit meiner Mutter Laure Wyss 1997 |
Am Nachmittag des 21. Augusts 2002 hatte ich einen
Termin in Bern. Als Veranstalter eines internationalen Kongresses von
Kunsthochschulen in Luzern fehlten mir noch 50 000 Franken, und ich erhoffte
mir von einem Vorsprechen beim Bundesamt für Kultur (BAK) Unterstützung.
Zu jener Zeit hatte ich die
Angewohnheit, mit dem Fahrrad in den Zug zu steigen und vom Bahnhof des Ankunftsortes
aus bis zu meinem Ziel weiterzuradeln. So konnte ich, wenn man mich
beispielsweise in Basel oder Genf oder Lugano fragte, mit was ich gekommen sei, stolz antworten: Mit dem Fahrrad, was
regelmässig ungläubiges Staunen auslöste. Am Mittag des fraglichen Tages stieg
ich am Bahnhof von Luzern vom Velo, um mir vor der Abfahrt in der Unterführung beim Bachmann
noch ein Sandwich zu erstehen. Da vibrierte mein Handy. Claudia Bissig war am Apparat. Sie teilte mir so schonungsvoll
wie möglich mit, dass meine Mutter soeben friedlich eingeschlafen sei. Die Ärztin
sollte später einmal sagen, es sei ein
schöner Tod gewesen. Claudia jedenfalls hatte sich in den vergangenen
Wochen, zusammen mit ein paar weiteren selbstlosen Frauen, in berührender Weise
um meine hinfällig gewordene Mutter gekümmert. Seit fünf Tagen lag sie im Koma.
Mit ihrem Ableben mussten wir rechnen.
Blitzschnell hatte ich mich
zu entscheiden, ob ich den Termin in Bern absagen und stattdessen nach Zürich zur
Bettstatt meiner Mutter eilen sollte. Ich entschied mich für Bern und versprach
am Telefon, zum Abend hin nach Zürich zu kommen.
Mit aufgesplitterten Gedanken sass ich
im Zug. Ich ging noch einmal alle Notizen und Argumente durch, um beim
Bundesamt eine gute Figur zu machen, und gleichzeitig beobachtete ich mich
während der ganzen Fahrt, ob und in welcher Weise mich die Nachricht vom
Hinschied meiner Mutter berühren würde. Doch ich konnte beim besten Willen
keine Erschütterung feststellen. Ich wunderte mich, dass mir die professionelle
Attitüde so leichtfiel, ja, ich war sogar ein bisschen stolz darauf. Auch bei
der Begegnung mit David Streiff,
dem damaligen Direktor des BAK, liess ich mir nichts anmerken und staunte, wie
sachlich ich diese Begegnung meisterte. Der Aussicht auf den finanziellen
Zustupf eines meiner Prestigeprojekte mass ich offenbar grössere Bedeutung bei
als dem schon lange erwarteten Tod meiner Mutter, dessen emotionale
Verarbeitung sich irgendwann schon noch einstellen würde. Einziges Tribut an
den speziellen Tag: Als ich am späten Nachmittag nach Zürich reiste, liess ich
mein Fahrrad in Bern stehen.
Die Wohnung an der Winkelwiese 6, wo meine Mutter die
letzten 50 Jahre gelebt hatte, strahlte Ruhe und Frieden aus. Claudia und ein
paar weitere Frauen warteten auf mich. Sie liessen mich alleine mit meiner
Mutter. Sie lag schön gekleidet und hergerichtet da. Mit einem Tuch ums Kinn.
Frische Blumen waren aufgestellt, Kerzen brannten, sanfte Musik spielte.
Streichelte ich sie noch? Sagte ich
etwas zu ihr? Ich erinnere mich nur, dass sie schon erkaltet war. Beim
Verlassen des Sterbezimmers stellte ich mich ernst und besonnen und meinte
damit, mich so zu verhalten, wie man sich verhält, wenn einem gerade die Mutter
weggestorben ist. An Weiteres vermag ich mich gar nicht mehr zu erinnern.
Wahrscheinlich besprach ich mit den Frauen noch, wie es weitergehen soll, und
bedankte mich für alles, was sie für meine Mutter und für mich getan hatten.
Ich stellte ein Essen in der Kronenhalle in Aussicht, wo sich meine
Mutter bei besonderen Gelegenheiten einen Matjeshering an einer Crème
fraîche gönnte. Begleitete ich sie, rundeten wir jeweils die Mahlzeit noch mit
einer halben Portion Mousse au
chocolat ab. Dann orientierte ich mit ein paar Anrufen die nähere
Verwandtschaft und den Verlag
meiner Mutter, der tags darauf ein Communiqué veröffentlichte, was in der Presse,
bei Radio und Fernsehen eine Welle von Nachrufen auslöste.
Am darauffolgenden Tag nahm ich frei
und war rechtzeitig zur Stelle, um im Stadthaus vorzusprechen, wo es um die
Wahrnehmung behördlicher Vorgaben und um Bestattungsvorbereitungen ging. Dann
trafen sich Verwandte und ein paar der pflegenden Freundinnen in Mutters Wohnung.
Der Leichenwagen kam, und die schwarz gekleideten Beamten sargten meine Mutter
ein. Ich wurde von der erfahrenen Claudia vorgewarnt, der Abtransport der
Leiche könne heftige Gefühle auslösen. So war es dann auch. Ich heulte los wie
ein Schlosshund. Es war ein untröstlicher Augenblick.
Einen Tag später rief Adolf Muschg an und fragte, wo meine
Mutter aufgebahrt sei. Er wolle sich von ihr noch verabschieden. Das rührte mich.
Ich selbst beabsichtigte nicht, sie im heruntergekühlten Aufbahrungsraum des
Krematoriums noch einmal zu besuchen. Rechnete Muschg damit, für die Abdankung
im Grossmünster als Redner angefragt zu werden? Sein Nachruf, den er in der WochenZeitung in der darauffolgenden
Woche veröffentlichte, erinnert in der Tonalität jedenfalls an eine Rede, die
einer Verabschiedung in einer der drei wichtigsten Kirchen von Zürich gut
angestanden wäre.
Später einmal, beim Aufräumen, kamen mir die letzten Verfügungen meiner Mutter in
die Hände. Da meinte ich doch, alles korrekt und im Sinne der Verstorbenen an
die Hand genommen zu haben – zum Beispiel keine Orgelmusik bei der Abdankung –,
und jetzt las ich da: Keine Besuche im Aufbahrungsraum des Krematoriums. Es war ein Moment, in dem ich
darüber sinnierte, ob meine Mutter vielleicht doch noch unter uns weilen und
sich jetzt grässlich aufregen könnte, weil ich Muschg die Erlaubnis erteilt hatte,
sie dort zu besuchen. Ich schämte mich sehr, nicht allen ihren Anweisungen
Folge geleistet zu haben.
© Nikolaus Wyss
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1 Kommentar:
Soeben bekam ich ein Feedback auf diesen Text von meiner lieben Cousine Elisabeth Kästli Conrad, welche mich in jenen Tagen hingebungsvoll unterstützte. Sie schrieb: «... Der Abtransport der Leiche war tatsächlich ein harter Moment für dich und in anderer Weise auch für uns, und ich erinnere mich, dass du darauf sagtest: „Jetz bruuche mr e Schnaps“ (oder so ähnlich), und dass wir dann einen tröstlichen Cognac oder eine andere edle Alkoholika tranken, was tatsächlich gut tat. Und die Bestattungsvorbereitung im Stadthaus, zu der ich dich begleitete, war Vetter-Nikolaus-gemäss nicht einfach traurig oder formell kühl, sondern auch von einer gewissen, gewollten Komik, wie du zum Beispiel darauf hingewiesen hast, dass Laure im edlen Christa-de-Carouge-Kleid eingeäschert werde.»
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