Montag, 21. Juli 2025

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 15)

 Ende Juni 2025, ein paar Tage im heissen Athen 

Den Omonia-Platz in Athen kannte ich zuerst vom Hörensagen. Der Schriftsteller Hugo Loetscher, der mir ab und zu von seinen erotischen Abenteuern hier und dort erzählte, schilderte mir, wie in der Unterführung dort, die zur U-Bahn führte, Soldaten herumlungerten. Der eine oder andere näherte sich Hugo und zeigte ihm Bilder von sich selbst im Adamskostüm. Es ging dabei offensichtlich um die Aufbesserung ihres erbärmlichen Solds.
Als ich später einmal selber in Athen herumstreunte, wollte ich selbstverständlich überprüfen, was es mit diesen hübschen Soldaten im Untergrund wirklich auf sich hat. Ich begab mich also in die Tiefen des Omonia-Platzes und verweilte dort eine geraume Weile in der Hoffnung, irgendein hübscher Soldat in Uniform würde sich mir nähern. Doch nichts geschah, niemand kam auf mich zu. So verlor der Omonia-Platz bei mir innerhalb einer halben Stunde seinen jahrelang aufgestauten Reiz.
Dies alles kam mir in den Sinn, als ich kürzlich wieder einmal in Athen war. Natürlich unterquerte ich den Omonia-Platz, allerdings ohne anzuhalten. Es gab auch nichts zu sehen. Eine U-Bahnstation halt, wie viele andere auch...
 

Auf Reise, Zwischenhalt in Venedig 

 Vor Jahrzehnten las ich mal die Memoiren von Simone de Beauvoir. Viel davon ist mir nicht in Erinnerung geblieben, aber dies, dass sie mit Jean-Paul Sartre in die angesagtesten Städte reiste, z.B. nach Marrakesch, sich dort aber aber die meiste Zeit im Hotelzimmer aufhielt, Bücher schreibend und lesend, und ich wunderte mich, dass ihnen das Kennenlernen, das Besichtigen des Ortes nicht so viel bedeutete. Die Ambiance der Stadt, die Geräusche, die ihnen ans Ohr drangen, schienen ihnen vollauf zu genügen. 
Da war ich mein Lebtag touristischer unterwegs. Musste alles aufsaugen, was eine Destination hergab. Nur jetzt, und deshalb erzähle ich das, kann auf den Gehwegen, in den Kirchen und Museen und auf den Kanälen Veneziens passieren was will, ich fühle mich wohl in unserem Hotelzimmerli mit Blick ins Grüne und erfreue mich am Korrigieren eines grösseren Manuskrips. So ändert sich im Laufe eines Lebens die Interessenslage. 
 

Anfangs Juni, Mailand 

 Es dürften 40 Jahre her sein, als ich in Mailand Leonardo da Vincis Abendmahl betrachten durfte. Ein leiser Schauer lief mir damals über den Rücken, Dankbarkeit auch. Heute wieder in Mailand, versuchte ich erneut, dort vorbeizugehen. Doch man beschied mir, ich solle für den Juli reservieren, vorher seien keine Eintrittskarten mehr verfügbar. Urlaub heutzutage ist genauso stressig wie der Alltag. Alles muss im Voraus geplant sein. Spontanes hat keine Chance. Und da kam mir meine Mutter in den Sinn. Vor 30 Jahren machte ich mit der alten Dame eine kleine Italienreise zu Giotto und Fra Angelico. Erste Station war Turin, und sie wollte unbedingt das Grab von Primo Levi aufsuchen und hatte dafür schon ein paar Blumen gekauft, um diese bei ihm niederzulegen. Doch der Friedhof war an jenem Tag geschlossen. Das hielt sie nicht davon ab, durchs Gitter einen Friedhofsgärtner anzusprechen, um ihm die Sachlage zu schildern. Nach einigem Hin- und Her schloss er das Tor auf, und wir gelangten zu Levis Grab. Vielleicht gelang mir heute der Zutritt zum Abendmahl nur deshalb nicht, weil ich weder Brot noch Wein bei mir hatte.
 

Venedig - Patras   

 
Nachts auf der Fähre
 
Habe ich noch Wünsche offen? Nun, eine Kreuzfahrt von Buenos Aires nach Santiago de Chile mit einem Abstecher zu den Pinguinen in der Antarktis und einem Zwischenhalt in Ushuaia, Feuerland, würde ich gerne noch machen. Doch der Blick auf die Preise eines solchen Unterfangens macht den Wunsch zu einem unerfüllbaren Traum. So erfreue ich mich halt kleinerer Schiffsreisen wie kürzlich, als wir mit der Fähre von Venedig nach Patras, Griechenland, übersetzten.
Ich meinte, besonders klug geplant zu haben, als wir mit einem Vaporetto zur Anlegestelle Zattere tuckerten und dort auf die Überfahrt nach Fusina warteten, wo unser Fährschiff bereitstehen sollte. Was ich nicht bedachte, waren die Distanzen. Das Boot landete bei weitem nicht in der Nähe des Fährschiffs. Die alten Männer, die an der Anlegestelle Fusina am Schatten hinter einer Bretterwand vor sich hindösten, bezeichneten ihren eigenen Aufenthaltsort als abgehängtes Niemandsland. Kein Bus, kein Taxi, nur Aussicht aufs ferne Venedig im Dunst, wo sich Jeff Bezos gerade bereitmachte, die attraktive Lauren Sánchez zu ehelichen und damit die ganze Stadt in Aufruhr brachte. Wir schätzten den Weg bis zur Fähre zu Fuss auf eine gute Stunde, und das mit unseren Koffern im Schlepptau und bei 36 Grad im Schatten. Doch dann erbarmte sich der Wirt der kleinen Schenke auf der anderen Strassenseite unser und fuhr uns bis zum Ort der Einschiffung. Ich verdankte seinen Dienst mit einem üppigen Trinkgeld.
Wir gehörten zu den wenigen, welche die Überfahrt ohne Vehikel machten. Die meisten reisten mit ihren Vans an, andere im SUV, und wieder andere mit normalen Fahrzeugen. Den Nummernschildern nach viele Schweizer, Deutsche und Holländer. Noch mehr beeindruckten mich aber die vielen Laster, die im Bauch der Fähre Platz finden wollten. Die Fähre hier verdrängte fast doppelt so viel Wasser wie seinerzeit unser Kursschiff Donizetti, das mich im Jahre 1970 von Genua nach Venezuela brachte.
Die Kabine mit Fenster aufs Meer hinaus begeisterte uns, die glitzernde Panoramabar vorne hinaus faszinierte uns, eine Inspektionstour über alle zugänglichen Decks war beeindruckend. Die Fähre war genug gross, um sich darauf leicht verlaufen zu können. Manche Passagiere, die keine Kabine reserviert hatten, rollten ihren Schlafsack an einer wenig begangenen Passage aus oder auf einem der Decks in der Hoffnung, es werde nicht regnen.
Das Besondere beim Schifffahren ist meines Erachtens die Notwendigkeit, das eigene Zeit-Management dem Tempo des Schiffes anzupassen. Es geht zwar vorwärts, und gleichwohl hat man das Gefühl, irgendwo in diesem Wasser stecken zu bleiben. Ungeduld ist das Dümmste, was einem dabei widerfahren kann. Das Schiff zwingt sich zu entspannen, untätig zu sein und, wenn es hochkommt, das Meer, den Himmel, die Wolken, selbst die raunzigen Kellner, die einem nach einer lausigen Mahlzeit aus dem Speisesaal vertreiben, als einmaliges Ereignis zu geniessen. Ist mir das gelungen? – Mich beschäftigte zuweilen die bevorstehende Ankunft in Patras. Sollte die Anlegestelle ähnlich weit vom gebuchten Hotelzimmer entfernt liegen wie damals in Venedig die Schiffstation Fusina von der Fähre, so störte dieser Gedanke etwas den Verlauf der Entspannung. Aber auch die Tatsache, dass man schon zwei Stunden vor der Ankunft in Patras aus der Kabine komplimentiert wird, damit das Personal die Bettwäsche für die neu ankommenden Passagiere wechseln konnte, beeinträchtigte etwas den Relax-Prozess. Das wäre bei einem Pinguin-Besuch in der Antarktis bestimmt anders, stellte ich mir vor. So aber hockten wir die letzten Stunden auf unseren Koffern im engen Empfangsraum, der sich mit immer mehr Passagieren füllte, die unser Schicksal teilten, bis wir dann endlich ein paar Decks weiter unten vom grossen Schiffsbauch hinausgespuckt wurden. Und da standen wir morgens um eins am Pier, und all die Vans, SUVs und sonstigen Personenwagen, aber auch die Trucks, die mit uns die Überfahrt machten, fuhren an uns vorbei in die Nacht hinaus, während unser GPS angab, dass das gebuchte Hotel 4,5km weit entfernt sei. Als wir nach mühsamem Kofferschieben eine Durchgangsstrasse erreichten, erbarmte sich ein Taxi unser. Der Fahrer wollte uns aber grad direkt nach Athen fahren. Es brauchte einige Überzeugungskraft, ihn davon abzuhalten. Schliesslich gelangten wir dann doch noch zum Hotel. Wir logierten in einem Zimmer mit WC und Bad für Behinderte. So kamen wir uns, müde wie wir waren, in diesem Moment auch selbst vor. Wir entdeckten zudem, dass sich das Duschwasser einen eigenen Weg zu bahnen versuchte, der aber nicht zum Ablauf führen sollte. So verwendeten wir zum Schluss eines langen Tages die bereitgelegten Badetücher dazu, mit einem textilen Damm unser Zimmer vor einer Überschwemmung zu schützen…    
 

Nicht ganz so, aber auch gut  

Nein, ich habe nicht vor, eine Autobiografie zu schreiben. Aber den Titel hätte ich schon (s.o.)

 

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©Nikolaus Wyss

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