Dienstag, 17. Dezember 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 12)

 22. September 2024

Wer über die Jahre meine Bemerkungen zu meinem Wohnort Bogotá etwas verfolgt hat, durfte mit Fug feststellen, dass es hier regnerisch zu- und hergeht. Regnerisch und kalt. Deshalb war es nur natürlich, auf meinem kürzlich errichteten Balkon einen Wassertank einzuplanen, der das Regenwasser vom Dach sammeln würde für die Wässerung der Pflanzen im gedeckten Teil. Nun ist der Tank seit geraumer Zeit angeschlossen. Doch von Wasser keine Spur.
    Anfangs dieses Jahres sprach man vom Wetterphänomen "El niño", das hier alle 6-7 Jahre das Niederschlagssystem durcheinander bringt mit einer Trockenperiode (sogar zahlreiche Waldbrände sind deswegen ausgebrochen und haben Naturschutzgebiete rund um die Stadt zerstört), die dann aber normalerweise abgelöst wird von einer Phase besonders heftiger Niederschläge, "La niña" genannt. Sogar der Bürgermeister von Bogotá, Carlos Fernando Galán, bereitete die Bevölkerung darauf vor, dass es nach dem Niño heftig werden könnte. Doch seit dem Januar dieses Jahres fiel bis jetzt kaum ein Tropfen Regen. Hat es der Niño auf eine Verlängerung angelegt? Oder ist die Niña auf dem Weg hierher verkommen? Tatsache ist jedenfalls, dass das Leitungswasser aus den umliegenden Stausees hier seit geraumer Zeit rationiert ist und mein Balkon-Tank bisher keinen Tropfen Wasser sammeln konnte.
    Ich glaube langsam, das Familienspiel zwischen dem Buben (niño) und dem Mädchen (niña) ist zu Ende, und der globale Klimawandel ist endgültig auch hier in der hochgelegenen Andenstadt angekommen.
 
27. Oktober 2024

Sonntagmorgen. Das ganze Haus schläft noch. Wir waren gestern in einem Club an einer Halloween-Party, wo Danika (Lomaasbello) auftrat. Doch ich hielt den Lärm nicht lange aus und fuhr nach ihrem Auftritt mit einem Uberfahrer, der an den Strassenkreuzungen der nächtlichen Stadt prinzipiell sämtliche Rotlichter ignorierte, brav und froh nach Hause, während die anderen durchfeierten bis ich weiss nicht wann. Jetzt schlafen sie nicht nur ihren Kater sondern auch ihren Hörschaden aus. Ich jedoch setzte nach meinem Frühstück, nach der Fütterung der Katze, nach dem Giessen der Blumen, nach einer Patience und nach ausgiebiger Zeitungslektüre einen Topf auf mit Kalbsknochen (aus dem Tiefgefrierer, deshalb ragen sie hier noch etwas aus dem Wasser), Lorbeeren, Nelken, Zwiebeln, Knoblauch und mit dem, was ich an welkem Gemüse im Kühlschrank noch vorfand. Dazu einen Sprutz Limettensaft, damit die Brühe nicht allzufest aufschäumt. Salz und etwas Zucker natürlich.
    Das Haus wird später also anstelle von Kaffeeduft mit einem Hauch von Bouillon in der Nase aufwachen, nicht unbedingt der angenehmste Weckdienst. Was soll’s. Dafür gibt es dann in den folgenden Tagen feinen Risotto, oder Ravioli in brodo und andere Köstlichkeiten, wie zum Beispiel eine reichhaltige Gemüsesuppe mit in Butter und Knoblauch gerösteten Brotbröckli.
 
13. November 2024
Wer hat das nur schon gesagt:
A man said to the universe "Sir, i exist!"
"However," replied the universe, "this does not evoke in me a sense of obligation".
Auf Deutsch: "Hallo ihr Süssen, Ich bin ein Pappbecher und winke euch zu mit dem anderen Ende des Teebeutels."
Und die Süssen antworten: "Und?"
Soweit etwas zu den Grössenverhältnissen...
 
Veit Stauffer tot
Ich kannte Veit Stauffer kaum. Doch sein exotischer Vorname verlieh ihm von vorneherein eine gewisse Prominenz, die meine Wahrnehmung streifte. Ich wusste also, wer er war, woher er kam und welcher Beschäftigung er nachging, aber ich wusste zum Beispiel nicht, dass er mich gekannt hatte. Umso überraschender der herzliche Empfang, den er mir, dem Auswanderer nach Südamerika, vor ein paar Jahren bei einer kurzen Stippvisite in der alten Heimat, in seinem RecRec-Laden bereitete, als ob wir seit langem befreundet gewesen wären. Offenbar nahm er auf Facebook meine Blog-Einträge zur Kenntnis, war so gut informiert über mich, dass ihm nicht einmal entgangen war, dass ich vor langer Zeit Mitbesitzer eines Bordells in Niamey, der Hauptstadt von Niger, war, was ihm missfiel, wie mir ein Freund von mir, der mit Veit in Kontakt stand, glaubhaft versicherte. Ich selbst war in den 70er Jahren einmal Kursbesucher bei Hans-Rudolf Lutz an der Kunstschule F+F und begegnete dort ein paarmal Veits Eltern, welche diese Institution gegründet hatten. Diese Schule lebte damals nach dem Motto, sich freikünstlerisch zu äussern sei wichtiger als das daraus resultierende Kunstwerk.
Bei meinem Besuch von RecRec, Jahrzehnte später, stand die Aufgabe seines Musikalien-Geschäfts unmittelbar bevor. Veit verschleuderte seine CDs deswegen nicht, er pries sie vielmehr als besondere Preziosen an. Ich hingegen besass weder einen Plattenspieler noch einen CD-Player. Kommt hinzu, dass ich die RecRec-Auswahl für eine ziemlich anstrengende Musik hielt, kaum zum genussvollen Anhören. Ja, sie war oft eine Zumutung, die kratzbürstige Alternative zum Gefälligen. Mir schien, bei dieser Musik sei der Wunsch der Vortragenden auf der Bühne, etwas zu Gehör zu bringen, wie auch immer es tönen mochte, wichtiger, als das Bedürfnis, damit beim Publikum zu punkten. War das nicht die Fortsetzung der Kunstschule seiner Eltern? Bei meinen Konzertbesuchen früher in der Roten Fabrik jedenfalls, bei denen Veit und seine Gesinnungsgenossen als Veranstalter auftraten, erfuhr ich mich selbst als Zeuge der Befreiungsschläge der Musiker, die sich allerdings kaum je auf mich übertrugen. Vielleicht fehlten mir die entsprechenden Drogen oder zumindest das Vermögen, mich mit diesem Gedröhns in einen freieren Zustand versetzen zu können. Das Bekenntnis zu dieser Art von alternativem Kunstschaffen barg in seinen besten Zeiten Kultstatus. Entweder gehörte man als „Kenner“ dazu, oder man blieb aussen vor und kam sich dabei doof vor, das Tor zum Glückserlebnis nicht zu finden. 
Veit, und das rechne ich ihm hoch an, liess mich dies jedoch nicht spüren. Seine Herzlichkeit bei meinem Besuch an der Rotwandstrasse war ansteckend, und ich meinte nachher, einen neuen Freund gefunden zu haben. Von da an las ich seine facebook-Einträge aufmerksamer, nahm seine Bedenken, Begeisterungen und Erinnerungen mit Interesse zur Kenntnis, sein Ringen um seine Krankheit, die kurzzeitige Besserung auch, und jetzt berührt es mich sehr, von seinem Tod erfahren zu müssen. Welche Musik ist wohl bei seinem Abschiedsfest, das er sich für kommenden Sommer gewünscht hat, angebracht? Versöhnliche, harmonische Melodien, oder doch eher ein letztes, schräges und lautes Aufbäumen gegen Leichtgängiges?
 
Kurz vor Weihnachten 2024

In Kolumbien begegnet man oft Lastwagen, die mit Lichtern und Leuchtern so reichhaltig ausgestaltet sind, dass sie wie fahrende Weihnachtsbäume aussehen. Einige dieser Brummis haben sogar unter den Kotflügeln ein Lichtlein brennen, und andere leuchten, vornehmlich in Blau, unter dem Chassis hervor. Dieses Unterflurlicht verleiht den Lastern den Eindruck des Schwebens, das aber mit dem doch ziemlich ungehobelten Diesel-Lärm in gewissem Widerspruch steht.

Diese Lichtorgie kam mir spontan in den Sinn, als ich kürzlich auf einem der Klos des Seratta im Shopping Center Atlantis mein Geschäft verrichten wollte. Da leuchtet es in der WC-Schüssel tatsächlich so, dass man den liegengelassenen Haufen bei Lichte bestaunen kann. Fehlt nur noch, dass ich Leute einlade, die ausgeleuchtete Hinterlassenschaft zu bestaunen. Ich fragte mich bei dieser Gelegenheit auch, wie viele KolumbianerInnen noch ein Foto davon machen, wie sie eigentlich auch jede Speise abfotografieren und ins Netz stellen. Und so wären wir dann bald bei den Kleinkindern, die wir ausgiebig belobigen, wenn sie im Zuge der Windelentwöhnung brav in den Topf geschissen haben.

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©Nikolaus Wyss
 


 

 





Montag, 16. Dezember 2024

Brahms am Tota-See

Kolumbien zählt 16 Feiertage im Jahr. Die meisten davon werden jeweils ohne Rücksicht auf historische Daten auf einen Montag gelegt. Daraus ergeben sich verlängerte Wochenenden. Richtigen Urlaub hingegen kennt man hier kaum, höchstens um den Dreikönigstag herum, reyes genannt, oder in der semana santa, der Osterwoche. Dann kosten die Transporte und die Flüge oftmals das Dreifache.

Für ein verlängertes Wochenende im Juni 1971 entschlossen wir uns zu einem Ausflug an den Tota-See, dem grössten Binnengewässer Kolumbiens. Es liegt im Departement Boyacá auf 3015 Metern Höhe über Meer und erstreckt sich über 55 km2. Damals brauchten wir für die Fahrt von der Hauptstadt Bogotá aus etwa fünf Stunden. Seit es Autobahnen gibt, dürfte die Fahrt etwas weniger lang dauern. Doch was sind schon Autobahnen hier? Man bezahlt zwar eine Maut, die für lokale Verhältnisse recht teuer ist, doch die Fahrbahnen werden von Radfahrern ebenso genutzt wie von Fussgängern und Fuhrwerken aller Art. Also.

Wir waren zu sechst. Werner am Steuer seiner Mary, wie er den geländegängigen Toyota nannte, Marianne und ich daneben, und auf dem Rücksitz Rita, Fanny und Perucho. Wir fuhren an einem späteren Freitagnachmittag los und kamen erst in tiefer Nacht an einem unbeleuchteten Landungssteg an. Der ortskundige Perucho wies uns im Scheinwerferlicht der Mary den Weg. Dort luden wir unser Gepäck in ein Motorboot und tuckerten so über den See. Es war stockdunkel und bitterkalt. Auf der anderen Seite suchten wir im Schein einer Taschenlampe die richtige Anlegestelle, um von dort aus zum Ferienhaus von Perucho zu gelangen. Perucho schien überall in Kolumbien zu Hause zu sein. Natürlich hatte er eine Wohnung in Bogotá, dann aber auch Kaffeefarmen und Ländereien hier und dort. Ob sie alle ihm gehörten, wussten wir nicht, doch er hatte überall Zugang dazu und plante mit uns schon die nächsten Reisen. Eine davon sollte uns in den damals weitgehend unberührten Vichada führen, einem Urwald-Departement ganz im Osten Kolumbiens. Mit der indigenen Bevölkerung ein Paradies für Ethnologen, mit der Fauna eines für Zoologen und mit der Flora eines für Biologen.   

Fünf Gehminuten von der Anlegestelle entfernt erreichten wir das komfortable Chalet, eiskalt zwar, doch mit diversen Cheminées ausgestattet, die wir gleich mit gut gelagertem, trockenem Brennholz anfachten. Das knisternde Feuer schenkte uns schon in Kürze etwas Wärme. Bei dieser aufkeimenden Wohligkeit mochten wir nicht gleich in die kalten Betten der unbeheizten Schlafzimmer steigen. Stattdessen kochten wir uns mit Brühwürfeln eine Suppe, assen dazu etwas vom mitgebrachten Käse und Brot und tranken dazu einen warmen, gezuckerten Tee, den wir mit einem kräftigen Schluck Rum anreicherten.

Die Schallplattensammlung in Peruchos Haus zeugte von erlesenem Geschmack. Sie umfasste fast die ganze Klassik. Etwas viel Mozart zwar, doch auch Bach, Beethoven, Schubert und Mendelssohn. Auch ein paar Verdi-Opern waren darunter, selbst Puccini fehlte nicht. Daneben lagen zum Abspielen auch Volksweisen bereit, Cumbias, Bambucos, Merengues, Champetas, und, damals ganz neu, Salsas. Und natürlich rauchten wir Marijuana, bis uns die Kehlen brannten und uns die Augen zuzufallen drohten.

Irgendwann stellte sich bei mir ein bemerkenswertes musikalisches Erlebnis ein, das meinen Aufenthalt am Tota-See prägen sollte. Es war der erste Satz (und alle weiteren Sätze desselben Werkes) von Johannes Brahms‘ 1. Symphonie. Deutlich fielen mir die suchenden, geheimnisvollen Paukenschläge und die sehr zögerliche Melodieentwicklung auf,  die ich vorher in dieser Intensität noch nie wahrgenommen hatte. Sie bereiteten dem weiteren musikalischen Geschehen Boden und Halt, und sie erinnerten mich an die nächtliche Überfahrt des Sees Stunden zuvor: Ungeduld und Sehnsucht, endlich anzukommen, etwas Selbstmitleid, mitgegangen zu sein und jetzt jämmerlich zu frieren, das rhythmische Plätschern der Wellen, wenige Lichter am Horizont, die kaum wahrnehmbaren Bergketten im Hintergrund, bei denen niemand so richtig weiss, was sich dahinter noch verbirgt… - Irgendwie fasste die Musik, durchmengt mit Sehnsucht und Grundtrauer, alles zusammen, was uns auf der Hinfahrt widerfuhr. Und die kontrapunktische Basslinie hielt das Widerspiel der Gefühle zusammen und deutete eine Ewigkeit an, die mich zwang, mich mit allem zu versöhnen, was mich stören wollte. Und immer, wenn man etwas high ist, verschiebt sich auch die Zeitachse. Sekunden dauern eine kleine Ewigkeit, und der Mund trocknet aus. Durst, Durst und ein Kratzen in der Kehle rundeten das elementare Erlebnis ab. – Sehr bewegt stieg ich Stunden später (oder waren es doch nur ein paar Minuten?) ins kalte Bett, und es war mir irgendwie nicht so kalt wie befürchtet. Brahms als eine Art Wärmeflasche, dachte ich.

Womit ich am darauffolgenden Morgen nicht rechnete, war eine Diskussion über die Musik-Auswahl vom Vorabend. Einige fanden sie völlig abwegig. Brahms in diesen kolumbianischen Höhen zu zelebrieren sei Kolonialismus. Sie plädierten für einheimische Volksmusik, zu welcher man auch tanzen könne. Andere hingegen schlugen passendere Komponisten oder Kompositionen der Klassik vor. Genannt wurden unter anderen Richard Wagner und Richard Strauss. Ich aber wollte in diesem Moment nur den Zauber der vergangenen Nacht wiederholen. Vielleicht mit der zweiten oder dritten oder sogar vierten Symphonie von Brahms, der reifsten von allen, fand aber für meinen Vorschlag kein Musikgehör.

Etwas, das bei anderen auf Ablehnung stösst, bleibt bei einem selbst oft besonders intensiv hängen. Ich entwickelte schon fast eine Obsession, dass Brahms und der Tota-See irgendwie zusammengehören müssten. Was ich etwas vernachlässigte, war der Kitt des Marijuanarausches vom Vorabend, der die beiden Dinge zusammenzubringen vermochte. Dessen wurde ich erst gewahr, als ich Jahre später in der Zürcher Tonhalle einer Brahmssymphonie lauschte. Die Musik versetzte mich in einen Trip - dabei war ich doch stocknüchtern. Doch wie beim Hund der Speichel zu rinnen beginnt, wenn er einen Knochen vor sich sieht, begannen sich bei mir in Anbetracht von Brahms’scher Musik meine Gehirnwindungen zu drehen, als ob ich vorher eins geraucht hätte. Ich sah mich plötzlich an den Tota-See von damals versetzt, und ich sah, als ob es gestern gewesen wäre, wie wir am nächsten Tag mit dem Motorboot zur Fischereiaufsicht fuhren, um fürs Angeln eine Tageslizenz zu lösten. Die Idee war, dass wir zum mitgebrachten Reis ein paar Forellen fangen und über dem Feuer braten würden. Der Fisch musste erdauert werden. Die Sonne wollte nicht scheinen, wir froren wie in der Nacht zuvor, bis sich endlich eine fette Forelle am Angelhaken festbiss und uns in bessere Laune versetzte. Und noch eine, und noch eine. Es sollten die besten Forellen meines Lebens werden, nur noch vergleichbar mit der Forelle im „Bären“ von Utzensdorf, der ich unter dem Titel „Der Bären im Bernbiet“ vor meiner Übersiedlung nach Kolumbien in einem kulinarischen Führer im Magazin des Tages-Anzeigers gehuldigt hatte.

In diesem Herbst, 55 Jahre später, stand ich an einem Punkt, wo ich die Sache mit Brahms am Tota-See überprüfen wollte. Wie verhält sich heute der Zauber von damals? Werde ich high sein? Wird mir der Anblick des Sees in meinem inneren Ohr Brahms‘sche Klänge entlocken? Oder wird eine Entzauberung dieser Obsession für ein abruptes Ende sorgen? Soll ich mich dessen überhaupt aussetzen? Ist es nicht zauberhafter, die Erinnerung bis ans Lebensende zu pflegen? Ohne Realitätstest? Ich tat mich mit einer Entscheidung schwer.

Als ich einem unserer Gäste meine Überlegungen schilderte, fand er die Idee eines neuerlichen Ausflugs dorthin ziemlich cool. Also konkretisierten wir das Vorhaben und fuhren vor ein paar Wochen an einem verlängerten Wochenende los. Auf der Strasse stundenlange Staus, verkürzt durch Brahms-Symphonien auf Spotify. Drei Stunden später als geplant erreichten wir die Provinzstadt Sogamoso. Vielleicht nicht gerade die grösste Zier in diesem Kolumbien. Doch Alejo wohnte dort. Ich lernte ihn vor längerer Zeit einmal in Bogotá kennen. Er sollte unser local guide werden, und in der Folge erfüllte er seine Aufgabe mit grosser Hingabe und zu unserer höchsten Zufriedenheit. Er studierte Hotellerie, und wir waren für ihn so etwas wie ein Praxistest. Er zeigte uns unter anderem das Thermalbad von Iza, wo wir im offenen Bassin bei leichtem Rieselregen schwimmen gingen. Später übernachteten wir auf einer wunderbaren Finca mit grossem Garten. Der Dauerregen konnte uns nichts anhaben, wir waren allzu sehr beschäftigt, wer in welchem Zimmer mit wem schlafen geht. Am darauffolgenden Morgen begleitete uns derselbe Regen während der ganzen Fahrt zum Tota-See hinauf.

Und dann, und dann auf der Krete oben mit Blick auf den vor uns liegenden, grauen, regengetrübten Tota-See, beschienen jetzt von einem fahlen Sonnenstrahl, passierte bei mir etwas Ähnliches wie 1971, nur in umgekehrter Richtung. Statt Brahms‘scher Töne blieb es stumm in meinem inneren Ohr. Keine Musik störte den Anblick dieses überwältigenden Panoramas. Stattdessen eine glücklichmachende, tonlose Entzauberung. Meine Gefährten und ich liessen uns von dieser Landschaft einfach beeindrucken. Was brauchte es da noch Brahms?

Wir fuhren rund um den See, fotografierten uns immer wieder in heiterer Stimmung und kamen zum Schluss, dass sich der Ausflug auf jeden Fall gelohnt hat. Ich schmunzelte innerlich, wusste aber nicht genau, wie ich meine persönliche Neutralisierung von Freund Johannes zu bewerten hatte. Allerdings gibt es schlimmere Zustände als diesen. Es war schon Nacht, als wir wieder Bogotá erreichten.    

vrnl: Alejo, Mike, Esteban und ich am Tota-See

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©Nikolaus Wyss