Kolumbien zählt 16 Feiertage im Jahr. Die meisten davon werden jeweils ohne
Rücksicht auf historische Daten auf einen Montag gelegt. Daraus ergeben sich verlängerte
Wochenenden. Richtigen Urlaub hingegen kennt man hier kaum, höchstens um
den Dreikönigstag herum, reyes genannt, oder in der semana santa,
der Osterwoche. Dann kosten die Transporte und die Flüge oftmals das Dreifache.
Für ein verlängertes Wochenende im Juni 1971 entschlossen wir uns zu einem
Ausflug an den Tota-See, dem grössten Binnengewässer Kolumbiens. Es liegt im
Departement Boyacá auf 3015 Metern Höhe über Meer und erstreckt sich über 55 km2.
Damals brauchten wir für die Fahrt von der Hauptstadt Bogotá aus etwa fünf
Stunden. Seit es Autobahnen gibt, dürfte die Fahrt etwas weniger lang dauern.
Doch was sind schon Autobahnen hier? Man bezahlt zwar eine Maut, die für lokale
Verhältnisse recht teuer ist, doch die Fahrbahnen werden von Radfahrern ebenso
genutzt wie von Fussgängern und Fuhrwerken aller Art. Also.
Wir waren zu sechst. Werner am Steuer seiner Mary, wie er den geländegängigen
Toyota nannte, Marianne und ich daneben, und auf dem Rücksitz Rita, Fanny und
Perucho. Wir fuhren an einem späteren Freitagnachmittag los und kamen erst in
tiefer Nacht an einem unbeleuchteten Landungssteg an. Der ortskundige Perucho
wies uns im Scheinwerferlicht der Mary den Weg. Dort luden wir unser Gepäck in
ein Motorboot und tuckerten so über den See. Es war stockdunkel und bitterkalt.
Auf der anderen Seite suchten wir im Schein einer Taschenlampe die richtige
Anlegestelle, um von dort aus zum Ferienhaus von Perucho zu gelangen. Perucho schien
überall in Kolumbien zu Hause zu sein. Natürlich hatte er eine Wohnung in
Bogotá, dann aber auch Kaffeefarmen und Ländereien hier und dort. Ob sie alle
ihm gehörten, wussten wir nicht, doch er hatte überall Zugang dazu und plante
mit uns schon die nächsten Reisen. Eine davon sollte uns in den damals
weitgehend unberührten Vichada führen, einem Urwald-Departement ganz im Osten
Kolumbiens. Mit der indigenen Bevölkerung ein Paradies für Ethnologen, mit der Fauna eines für Zoologen und mit der Flora eines für Biologen.
Fünf Gehminuten von der Anlegestelle entfernt erreichten wir das
komfortable Chalet, eiskalt zwar, doch mit diversen Cheminées ausgestattet, die
wir gleich mit gut gelagertem, trockenem Brennholz anfachten. Das knisternde Feuer
schenkte uns schon in Kürze etwas Wärme. Bei dieser aufkeimenden Wohligkeit
mochten wir nicht gleich in die kalten Betten der unbeheizten Schlafzimmer
steigen. Stattdessen kochten wir uns mit Brühwürfeln eine Suppe, assen dazu
etwas vom mitgebrachten Käse und Brot und tranken dazu einen warmen,
gezuckerten Tee, den wir mit einem kräftigen Schluck Rum anreicherten.
Die Schallplattensammlung in Peruchos Haus zeugte von erlesenem Geschmack.
Sie umfasste fast die ganze Klassik. Etwas viel Mozart zwar, doch auch Bach,
Beethoven, Schubert und Mendelssohn. Auch ein paar Verdi-Opern waren darunter,
selbst Puccini fehlte nicht. Daneben lagen zum Abspielen auch Volksweisen bereit,
Cumbias, Bambucos, Merengues, Champetas, und, damals ganz neu, Salsas. Und natürlich rauchten wir Marijuana, bis uns die
Kehlen brannten und uns die Augen zuzufallen drohten.
Irgendwann stellte sich bei mir ein bemerkenswertes musikalisches Erlebnis
ein, das meinen Aufenthalt am Tota-See prägen sollte. Es war der erste Satz
(und alle weiteren Sätze desselben Werkes) von Johannes Brahms‘ 1. Symphonie. Deutlich
fielen mir die suchenden, geheimnisvollen Paukenschläge und die sehr zögerliche
Melodieentwicklung auf, die ich vorher
in dieser Intensität noch nie wahrgenommen hatte. Sie bereiteten dem weiteren
musikalischen Geschehen Boden und Halt, und sie erinnerten mich an die nächtliche
Überfahrt des Sees Stunden zuvor: Ungeduld und Sehnsucht, endlich anzukommen, etwas
Selbstmitleid, mitgegangen zu sein und jetzt jämmerlich zu frieren, das
rhythmische Plätschern der Wellen, wenige Lichter am Horizont, die kaum
wahrnehmbaren Bergketten im Hintergrund, bei denen niemand so richtig weiss,
was sich dahinter noch verbirgt… - Irgendwie fasste die Musik, durchmengt mit Sehnsucht
und Grundtrauer, alles zusammen, was uns auf der Hinfahrt widerfuhr. Und die kontrapunktische
Basslinie hielt das Widerspiel der Gefühle zusammen und deutete eine Ewigkeit
an, die mich zwang, mich mit allem zu versöhnen, was mich stören wollte. Und
immer, wenn man etwas high ist, verschiebt sich auch die Zeitachse. Sekunden
dauern eine kleine Ewigkeit, und der Mund trocknet aus. Durst, Durst und ein
Kratzen in der Kehle rundeten das elementare Erlebnis ab. – Sehr bewegt stieg
ich Stunden später (oder waren es doch nur ein paar Minuten?) ins kalte Bett,
und es war mir irgendwie nicht so kalt wie befürchtet. Brahms als eine Art Wärmeflasche,
dachte ich.
Womit ich am darauffolgenden Morgen nicht rechnete, war eine Diskussion
über die Musik-Auswahl vom Vorabend. Einige fanden sie völlig abwegig. Brahms
in diesen kolumbianischen Höhen zu zelebrieren sei Kolonialismus. Sie
plädierten für einheimische Volksmusik, zu welcher man auch tanzen könne. Andere
hingegen schlugen passendere Komponisten oder Kompositionen der Klassik vor. Genannt
wurden unter anderen Richard Wagner und Richard Strauss. Ich aber wollte in
diesem Moment nur den Zauber der vergangenen Nacht wiederholen. Vielleicht mit
der zweiten oder dritten oder sogar vierten Symphonie von Brahms, der reifsten
von allen, fand aber für meinen Vorschlag kein Musikgehör.
Etwas, das bei anderen auf Ablehnung stösst, bleibt bei einem selbst oft
besonders intensiv hängen. Ich entwickelte schon fast eine Obsession, dass
Brahms und der Tota-See irgendwie zusammengehören müssten. Was ich etwas
vernachlässigte, war der Kitt des Marijuanarausches vom Vorabend, der die
beiden Dinge zusammenzubringen vermochte. Dessen wurde ich erst gewahr, als ich
Jahre später in der Zürcher Tonhalle einer Brahmssymphonie lauschte. Die Musik
versetzte mich in einen Trip - dabei war ich doch stocknüchtern. Doch wie beim Hund
der Speichel zu rinnen beginnt, wenn er einen Knochen vor sich sieht, begannen
sich bei mir in Anbetracht von Brahms’scher Musik meine Gehirnwindungen zu drehen,
als ob ich vorher eins geraucht hätte. Ich sah mich plötzlich an den Tota-See
von damals versetzt, und ich sah, als ob es gestern gewesen wäre, wie wir am
nächsten Tag mit dem Motorboot zur Fischereiaufsicht fuhren, um fürs Angeln eine
Tageslizenz zu lösten. Die Idee war, dass wir zum mitgebrachten Reis ein paar
Forellen fangen und über dem Feuer braten würden. Der Fisch musste erdauert
werden. Die Sonne wollte nicht scheinen, wir froren wie in der Nacht zuvor, bis
sich endlich eine fette Forelle am Angelhaken festbiss und uns in bessere Laune
versetzte. Und noch eine, und noch eine. Es sollten die besten Forellen meines
Lebens werden, nur noch vergleichbar mit der Forelle im „Bären“ von Utzensdorf,
der ich unter dem Titel „Der Bären im Bernbiet“ vor meiner Übersiedlung nach
Kolumbien in einem kulinarischen Führer im Magazin des Tages-Anzeigers gehuldigt
hatte.
In diesem Herbst, 55 Jahre später, stand ich an einem Punkt, wo ich die
Sache mit Brahms am Tota-See überprüfen wollte. Wie verhält sich heute der
Zauber von damals? Werde ich high sein? Wird mir der Anblick des Sees in meinem inneren Ohr Brahms‘sche
Klänge entlocken? Oder wird eine Entzauberung
dieser Obsession für ein abruptes Ende sorgen? Soll ich mich dessen überhaupt aussetzen? Ist es nicht zauberhafter, die Erinnerung bis ans Lebensende zu pflegen? Ohne
Realitätstest? Ich tat mich mit einer Entscheidung schwer.
Als ich einem unserer Gäste meine Überlegungen schilderte, fand er die Idee eines neuerlichen
Ausflugs dorthin ziemlich cool. Also konkretisierten wir das Vorhaben und
fuhren vor ein paar Wochen an einem verlängerten Wochenende los. Auf der Strasse stundenlange Staus,
verkürzt durch Brahms-Symphonien auf Spotify. Drei Stunden später als geplant
erreichten wir die Provinzstadt Sogamoso. Vielleicht nicht gerade die grösste
Zier in diesem Kolumbien. Doch Alejo wohnte dort. Ich lernte ihn vor längerer
Zeit einmal in Bogotá kennen. Er sollte unser local guide werden, und in der
Folge erfüllte er seine Aufgabe mit grosser Hingabe und zu unserer höchsten
Zufriedenheit. Er studierte Hotellerie, und wir waren für ihn so etwas wie ein
Praxistest. Er zeigte uns unter anderem das Thermalbad von Iza, wo wir im
offenen Bassin bei leichtem Rieselregen schwimmen gingen. Später übernachteten wir auf
einer wunderbaren Finca mit grossem Garten. Der Dauerregen konnte uns nichts anhaben, wir waren allzu sehr beschäftigt, wer in welchem Zimmer mit wem schlafen geht.
Am darauffolgenden Morgen begleitete uns derselbe Regen während der ganzen Fahrt
zum Tota-See hinauf.
Und dann, und dann auf der Krete oben mit Blick auf den vor uns liegenden,
grauen, regengetrübten Tota-See, beschienen jetzt von einem fahlen Sonnenstrahl, passierte bei mir etwas Ähnliches wie 1971, nur
in umgekehrter Richtung. Statt Brahms‘scher Töne blieb es stumm in meinem
inneren Ohr. Keine Musik störte den Anblick dieses überwältigenden Panoramas. Stattdessen
eine glücklichmachende, tonlose Entzauberung. Meine Gefährten und ich liessen uns
von dieser Landschaft einfach beeindrucken. Was brauchte es da noch Brahms?
Wir fuhren rund um den See, fotografierten uns immer wieder in heiterer
Stimmung und kamen zum Schluss, dass sich der Ausflug auf jeden Fall gelohnt
hat. Ich schmunzelte innerlich, wusste aber nicht genau, wie ich meine persönliche Neutralisierung von Freund Johannes zu bewerten hatte. Allerdings gibt es schlimmere
Zustände als diesen. Es war schon Nacht, als wir wieder Bogotá erreichten.
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vrnl: Alejo, Mike, Esteban und ich am Tota-See
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©Nikolaus Wyss