
Bevor ich mich daranmache, von meinem afrikanischen Café zu berichten,
möchte ich etwas loswerden. Ich fühle mich nicht frei von Bedenken. Als Bub las
ich René
Gardis Reiseberichte Mandara – Unbekanntes Bergland in Kamerun
und Tschad – Erlebnisse in der unberührten Wildnis um den Tschadsee. In
diesen Texten kamen Neger vor. Ihre Gestalt war jeweils der besonderen
Erwähnung wert: schön, kräftig-muskulös und anmutig, mit Schweissperlen am
Oberkörper, ziemlich nackt. Kein Wunder bei diesem Klima dort unten... Ich
stiess mich nicht daran, im Gegenteil. Meine Fantasie wurde durch solche
Beschreibungen beflügelt. – Als Halbwüchsiger schliesslich pilgerte ich ins
Tösstal zu Paul Burkhards Zäller Wiehnacht. Eines der berührenden Lieder
seines Krippenspiels sangen schwarzbemalte Kinder und begann mit den Worten Au
für öis, au für öis raabeschwarzi Mohre, au für eus, au für eus, isch de
Heiland geboore. Ich hielt das für eine wichtige und richtige Botschaft,
ganz im Sinne von Martin Luther King Jr., der etwa zur gleichen
Zeit in mein Blickfeld trat und bald darauf ermordet wurde. Später las ich James Baldwin,
allerdings auch deshalb, weil er als schwarzer Homosexueller etwas zu
sagen hatte.
Mit Interesse und mit angeeignetem,
kulturanthropologischem Wissen verfolgte ich dann in den 1970er Jahren das
Ringen darum, wie in Zukunft Menschen anderer Hautfarbe und mit afrikanischen
Wurzeln benannt werden sollen. In den Vereinigten Staaten wurden aus negroes
allmählich blacks und später african americans, und bei uns
mutierte der Neger zum Schwarzen. Die Diskussion darüber scheint aber,
60 Jahre später, keineswegs abgeschlossen zu sein und wird durch die Ermordung
von George
Floyd und die dadurch in Schwung geratene Black Lives
Matter-Bewegung neu befeuert. Die einen plädieren dafür, die
Farbe ganz sein zu lassen. Andere ringen um neue und unverbrauchte Begriffe,
die es jedoch meiner Beobachtung nach schwerhaben, Fuss zu fassen. – Ein
ähnlicher Prozess fand und findet übrigens auch bei der Diskussion um den
Feminismus statt, welche ich bei meiner Mutter, die sich seinerzeit für die Rechte der
Frauen stark machte, hautnah miterleben durfte. Als Konsequenz davon mussten
wir zum Beispiel in meiner Zeit als Hochschulrektor bei offiziellen
Verlautbarungen und im Studienführer darauf schauen, konsequent von Studierenden
zu sprechen oder von Studentinnen und Studenten, und nicht einfach
von Studenten. Dasselbe bei den Dozierenden. – Zudem treten
heutzutage immer weitere Gruppen auf den Plan, Minoritäten innerhalb unserer
eigenen Gesellschaft. Auch sie reklamieren neue Sprachregelungen und erhoffen
sich damit eine adäquatere und diskriminierungsfreie Behandlung ihrer Anliegen
und eine vollwertige Respektierung ihres eigenen Daseins. Und schliesslich
beobachtete ich mit Erstaunen die Umpolung eines vormals abwertenden,
diskriminierenden Begriffs wie den der Schwulen
zu dessen Neudeutung, der heute ohne Beigeschmack sogar in Nachrichten
Verwendung findet. Wird dies irgendwann auch für die "Niggers" und "Weiber" kippen?
Beim Schreiben dieses Textes komme ich mir vor wie der
Steuermann eines Fährschiffes, das in Stockholm nach dem Ablegen vom Pier den
Weg aufs offene Meer hinaus vorbei an Tausenden von Schären finden muss, ohne
an einem dieser Inselchen, die walfischkörpergleich aus dem Wasser lugen und
auf ihren Bäuchen rote Holzhäuschen und ein paar Bäume tragen, hängen zu
bleiben. Ob mir das gelingen wird? – Mein Unwohlsein in dieser Angelegenheit
gleich zu Anfang zur Sprache gebracht zu haben, erlaubt mir jetzt beim
Navigieren immerhin schon eine etwas freiere Bahn. Ahoi.
* * *
In der Kantine des Tages-Anzeigers, wo ich Ende der
1980er Jahre als freier Mitarbeiter des Magazins regelmässig mein Mittagessen
einnahm, fiel mir eines Tages ein gutaussehender, junger Mann schwarzer
Hautfarbe auf. Er sass allein am Tisch und studierte beim Essen die
Börsenseiten der Neuen Zürcher Zeitung und des Wall Street Journals. Was um ihn
herum geschah, würdigte er keines Blickes. Das war auch in den folgenden Tagen
so. Er nahm stets denselben Platz ein, genehmigte sich das Tagesmenü und las
Börsenkurse und Wirtschaftsnachrichten. Ich wurde neugierig. Irgendwann sprach
ich ihn beim Hinaustragen des Tabletts an. Zuerst auf Englisch, dann auf
Hochdeutsch. Darauf antwortete er mir in breitem Bündner Dialekt: Kasch scho
Schwiizertüüsch mit mir reeda! – Von da weg setzte ich mich zu ihm an den
Tisch, und wenn ich zuerst da war, kam er mit seinem Tablett an meinen Tisch.
Er heisse Sebastian Adam, stellte er sich vor. Seine Kindheit habe er in Kenia
verbracht. Als Halbwüchsiger sei er dann seiner Mutter in die Schweiz gefolgt,
die in zweiter Ehe einen Bündner heiratete und nach Chur übersiedelte. Jetzt
studiere er an der Höheren Handelsschule Betriebswirtschaft und absolviere hier
beim Tages-Anzeiger-Verlag ein Praktikum.
Mit der Zeit fielen mir zwei Dinge auf, die mich, bei
aller Sympathie, an ihm zu stören begannen. Zum einen nannte er mich, weiss der
Kuckuck warum, immer Marcel. Zum anderen beschränkte sich unser
Gesprächsstoff auf die täglichen Gewinne, die mir entgehen, weil ich ihm mein
Geld nicht anvertraut habe. Ich konnte ihm tausendmal erklären, dass ich über
gar kein Vermögen verfüge. Immer wieder fing er mit leisem Vorwurf damit an, so
dass ich langsam den Tag herbeisehnte, an welchem sein Praktikum zu Ende ging.
Bei mir festigte sich der Eindruck eines ausserordentlich seriösen, ehrgeizigen
und fokussierten Mannes, dessen Gesellschaft mich etwas langweilte.
Zwei Jahre später wurde ich von meinem Chef René Bortolani
fristlos entlassen, weil ich mir in seinen Augen Ungebührliches erlaubt hatte.
Ich veröffentlichte nämlich ein Buch über die ersten 21 Jahre des
Tages-Anzeiger-Magazins mit vielen Beiträgen früherer Autorinnen und Autoren,
von Peter Bichsel über Markus Kutter bis zu Laure Wyss, meiner Mutter. 21 Jahre TAM
– Vom Mehrwert einer Beilage hiess die Publikation. Die
Leserschaft meiner Publikation sollte in ihrem Eindruck bestätigt werden, dass
die Qualität dieses Blattes im Laufe der letzten Zeit gelitten habe, besonders,
seit Bortolani die Zügel in den Händen hielt. Während die Gründergeneration der
Magazin-Redaktion, so meine These, von einer mündigen Leserschaft ausgegangen
sei, welcher man eigene und kritische Gedanken zumuten wollte, bereite man heutzutage
zielgruppengerichtet bekömmliche, vorgekaute Häppchen zur Unterhaltung zu und
nicht zum Erkenntnisgewinn. Man spienzle dabei auf Bern, dann auf Zürich.
Vegetarierinnen waren im Blickfeld wie auch die Autolobby oder – seltener –
grüne Anliegen. Alle sollten mit Lesestoff bedient werden.
Unanstössig-ausgewogen.
Dieses kritische Urteil über den gegenwärtigen
Geisteszustand dieses Blattes passte dem Chef nicht. Sein Auftrag bestand darin,
mit populären Themen dem Reputationsschwund und dem allmählichen
Inseratenrückgang des Heftes etwas entgegenzuhalten, was natürlich gerade das
Umgekehrte bewirkte.
Beim Rauswurf gab mir Bortolani eine Stunde Zeit, mein
Pult zu räumen und die Schlüssel abzugeben. Ich entschloss mich, mir das
Angesparte aus der Pensionskasse auszahlen zu lassen. So würde ich etwas
Kleingeld zur Verfügung haben für eine allfällige Durststrecke. Ich hatte nicht
die Absicht, mich in nächster Zeit wieder irgendwo anstellen zu lassen. Ich sah
in diesem Fristlosen vielmehr die Chance, in meinem Leben endlich ein neues
Kapitel aufzuschlagen: Keinen Journalismus mehr. Von jetzt ab nur noch eigene
Projekte und freies Schreiben.
Am Tag, und das glaubt mir jetzt niemand, doch es war
so, am Tag, als ich die Bestätigung der Bank in der Tasche hatte, dass die
Überweisung des Pensionskassengeldes auf meinem Konto angekommen sei, rief mich
jemand mit Marcel. Ich stand grad auf einem S-Bahn-Perron im
Hauptbahnhof und wartete auf den nächsten Zug. – Es war Sebastian. Er kam
strahlend auf mich zu, und ich wusste sofort, dass dies eine schicksalshafte
Begegnung werden würde. Er fragte mich, ob ich jetzt etwas Geld beisammenhätte
und stellte mich damit vor die Wahl, seine erneute Anfrage als glückbringendes
Zeichen zu werten oder als Einladung zu meinem Niedergang. Er arbeite jetzt in
einem Haus in Zufikon als freischaffender Vermögensverwalter und
Devisenhändler. Auf seinem Schreibtisch stünden drei Grossbildschirme, womit er
das ganze Börsengeschehen rund um den Globus während 24 Stunden beobachten
könne. Er verfüge schon über eine stattliche Zahl von Kunden.
Ich weiss nicht, welcher Teufel mich in diesem
Augenblick ritt. Ich glaube aber, Ausschlag gab der Umstand, dass Sebastian
Schwarzer war. Bei einem hier geborenen Weissen hätte ich die Eier dazu wohl
nicht gehabt. - Wollte ich Sebastian beweisen, dass es unter Weissen auch
vorurteilsfreie, weltoffene Menschen gibt, solche, die anderswo Geborenen
umfassendes Vertrauen entgegenzubringen vermögen? Oder erwies ich mich mit
meiner angeblichen Grosszügigkeit vielmehr als geldgierig? – Ich jedenfalls
griff in die Tasche und zeigte Sebastian die Bank-Bescheinigung. Dazu bemerkte
ich cool: Kannst du haben. Gehen wir zur Bank.
Auf dem Weg dorthin legten wir beim Café Huguenin noch
einen Zwischenhalt ein und besprachen Kündigungsfristen und
Haftungskonditionen. Bei einem Orangensaft und einem Rivella blau erklärte er
mir, wie er arbeite und womit ich monatlich rechnen könne. Darauf setzten wir
auf einem Tischset den Vertrag auf und unterschrieben das Schriftstück. Ich
versprach, davon eine Fotokopie zu erstellen und sie ihm so bald als möglich
zuzuschicken. Kurz vor Schalterschluss erreichten wir die Bank, und ich
überwies im Beisein von Sebastian den gesamten Betrag auf sein Konto.
Dieser Deal erwies sich in den folgenden Jahren als
eine Art bedingungsloses Grundeinkommen. Aus den Erträgen meines Einsatzes
konnte ich von nun an meine fixen Kosten wie Wohnungsmiete, Krankenkasse und
Essen decken. Überdies zwackte ich für meinen damaligen Freund ein monatliches
Taschengeld ab. Ich legte grossen Wert darauf, die Einkünfte ordentlich zu
versteuern. – Als ich im Laufe der Zeit Freundinnen und Bekannten von meiner
Fortune erzählte, verlangten etliche von ihnen nach Sebastians Koordinaten, um
für sich selbst auch eine Portion dieses stets aufgehenden Hefeteigs zu
sichern. Für jeden Neuzugang kassierte ich eine Provision. Auch diese
Zusatzeinnahmen versteuerte ich und träumte davon, spätestens im Jahre 2000
Millionär zu sein.
Der regelmässige Geldsegen gestattete mir Freiheiten
und das Eingehen gewisser Risiken. Ich begann, in der Trinkhalle der
Schwamendinger Ziegelhütte Sommertheater zu produzieren, und ich
erlaubte mir, öfters ein paar Tage in eine fremde Stadt zu verreisen. Dazu
gehörte auch Paris. Das Imponiergehabe dieser Metropole machte mich zwar
regelmässig zur Schnecke, offerierte mir aber auch die Chance, neue Welten zu
entdecken.
* * *
In diesem teuren Paris verhalte ich mich noch heute
so, dass ich in engen, günstigen und unbequemen Logis absteige und dies erst
noch in Quartieren, wo unten auf der Strasse Liebesdienerinnen auf Kundschaft
warten. Tagsüber jedoch pflege ich ein mondänes Leben mit Besuchen der
grossartigsten Museen und der angesagtesten Kunstausstellungen, Galerien und
Warenhäuser. Zudem fahre ich leidenschaftlich und ziellos Metro und wohne
abends oft irgendeiner Tanzaufführung oder einem Fringe-Theater in der Banlieu
bei. So wurden mir Fernando Arrabal, Samuel Beckett und Eugène Ionesco zum
Begriff. Nur die Pariser Sonntage machen mir jeweils etwas zu schaffen. Da
schlafen die Leute in den Tag hinein, die Strassen sind für meinen Geschmack zu
leer, und die Restaurants und Kaffeehäuser, die ich gerne aufsuchen würde, sind
regelmässig geschlossen.
Damals aber, Ende 1992, entnahm ich dem
Veranstaltungskalender des Pariscope, dass im Palace an der
rue du Faubourg Montmartre, einem angesagten Nightclub, ein
sonntagnachmittägliches thé dansant stattfinde, um so der Langeweile des
Feiertages ein Schnippchen zu schlagen. Dem Zulauf jungen Leuten nach zu
schliessen war dieser Idee ein voller Erfolg beschieden. Vielleicht gab es
darunter welche, die seit dem Vorabend durchgemacht haben. Ich aber betrat das
Etablissement völlig ausgeschlafen und nüchtern. Doch die Musik war mir zu
dieser frühen Stunde etwas gar laut. Bald war ich umstellt von jungen
Afrikanern, die mich in freundliche Gespräche verwickelten, bis ich merkte,
dass sie in mir bloss eine günstige Gelegenheit sahen, zu einem Freibier zu
gelangen. Mich störte das zu Anfang nicht weiter, und ich gab gerne eine Runde
aus. So stand ich wenigstens nicht wie-bestellt-und-nicht-abgeholt herum. Doch
dann überkam mich allmählich das Gefühl des Überdrusses, weil jeder Scherz und
jede Freundlichkeit auf mein Portemonnaie zielten. Ich hätte diesen Jungs aus
Mali, Côte d’Ivoire und dem Senegal gerne erklärt, dass meine Grosszügigkeit
einem Kerl aus Kenia zu verdanken sei. Doch dies zu vermitteln war an diesem Ort
zu kompliziert und für die Bittsteller wohl auch ohne Belang.
Auf einmal aber wurde ich zur Bar gerufen. Dort stand
ein junger schwarzer Mann. Er strahlte mich an und offerierte mir ein Bier. Er
unterschied sich von der Gruppe, mit der ich mich vorhin noch unterhalten
hatte, durch seine vornehme, sanfte und unaufgeregte Art. Vor allem aber unterschied
er sich von den anderen, weil er mir ein Bier offerierte. Ich war
überrascht und damit a priori neugierig eingestellt. Er sprach aber so leise,
dass ich ihn bei diesem Lärm kaum verstand. Er schlug deshalb vor, zur Galerie
emporzusteigen, wo es ruhiger sei. Dort tauschten wir, so gut es ging, ein paar
Worte, und ich erfuhr, dass er aus dem Niger stammt, in Paris eine
Hotelfachschule besucht und den Haushalt des Filmregisseurs und Schauspielers Gérard Vergez bestellt. Diesen Job konnte er übernehmen, weil sein nigrischer Busenfreund
Salistou, der früher diese Arbeit erledigte, einem Leberleiden erlag.
Am nächsten Tag trafen wir uns zum Mittagessen in
einem vietnamesischen Restaurant. Der Kellner brachte zwei Speisekarten. Die
eine mit Preisangaben für mich, die andere war eine Damenkarte. Es schien
selbstverständlich, dass der ältere Weisse für die Kosten des jüngeren,
schwarzen Begleiters aufkam. Nach dem Bier von gestern war dies für mich aber
nicht mehr so ganz klar. Die Frage Qu’est-ce que vous désirez, Madame,
war dann noch das Tüpfelchen aufs i. Erst jetzt fiel mir auf, dass der junge
Mann in seinem ganzen Gehabe doch recht feminin wirkte. Die Frage war also
nicht unbedingt eine bewusste Beleidigung eines eifersüchtigen Kellners,
sondern der leider schiefgeratene Versuch, meiner Begleitung gerecht zu werden.
Im Verlaufe unseres Gesprächs zeigte es sich, dass ich
einen regelrechten Prinz am Tisch hatte. Boubakar, so hiess er, von seinen
Freunden, wie sich später zeigen sollte, Boubé genannt, erzählte mir bei rouleaux
de printemps und Jasmintee, dass seine Familie zu kolonialen Zeiten viele
lokale Könige stellte. Sein Vater war Provinzgouveneur, später préfèt
von Agadez und während des Seyni Kountché-Régimes eine Zeitlang auch
Verteidigungsminister. Boubé wuchs unter Sträflingen in Halbgefangenschaft auf,
denn sein elterliches Anwesen in Dosso diente auch als Gefängnis, wo diejenigen
einsassen, die bald einmal entlassen werden sollten. Er war der erstgeborene
Sohn einer Familie mit vier Müttern, die im Laufe von zwanzig Jahren auf 47
Kinder heranwuchs. – Zwischen uns beiden entwickelte sich in den wenigen Tagen
unseres Pariser Zusammenseins eine von gegenseitigem Respekt getragene,
diskrete Freundschaft, welche wir, nach meiner Abreise, mit gelegentlichen
Postkartengrüssen aufrecht zu erhalten beabsichtigten. – So kam es auch. Ich
freute mich stets über die Grüsse meines Prinzen aus Paris, und ich meldete
mich jeweils mit ein paar Sätzen zurück. An die Stelle von Postkarten trat
später der Fax. Etwas weniger romantisch, was aber dem Austausch von behutsamen
Freundschaftskundgebungen keinen Abbruch tat.
* * *
Boubé
hatte in der Zwischenzeit seine Ausbildung beendet und war nach Niamey
zurückgekehrt, der Hauptstadt Nigers. Von dort schrieb er mir, ob ich ihn nicht
einmal besuchen komme. Er sei daran, in der ehemaligen chinesischen Botschaft
ein Restaurant zu eröffnen. Vielleicht würde es mich interessieren, dort sein gérant
zu werden, denn für einheimische Muslims sei es etwas schwierig, Alkohol
auszuschenken. Einem Weissen jedoch sehe man das eher nach. Ich antwortete ihm,
ich würde ihn gerne einmal besuchen, ohne dies aber mit einem Job zu
verbinden.
So ergab
es sich, dass ich nach einer erfolgreichen Theatersaison mit dem Schwamendinger
Opernchor am Sonntag, 2. Oktober 1994, mit der Air France über Paris Charles de
Gaulle nach Niamey flog. Neben mir sass ein deutscher Entwicklungshelfer. Er
hatte aber kaum Zeit, sich mit mir zu unterhalten, weil er vor der Ankunft noch
ein paar wichtige Papiere zu lesen hatte. So las ich halt auch und versuchte
mich über der Saharawüste in Thomas Manns indische Legende von den vertauschten Köpfen
zu vertiefen, einer wahrlich befremdlichen Lektüre, die mir aber vielleicht
helfen würde, etwas interessant zu finden, auch wenn ich es nicht ganz
verstehe. - Es war schon Nacht, als wir ankamen. Es goss aus Kübeln. Die Crew
hiess uns mit Aussteigen noch etwas zuzuwarten, bis das Ärgste vorüber war.
Doch es hörte nicht auf, worauf wir dann doch im strömenden Regen vom Flugzeug
zur Empfangshalle rannten und wie begossene Pudel bei der Passkontrolle
ankamen. Dort blieb ich hängen. Im ausgestellten Visum fehlte nämlich eine
Nummer. Der Pass wurde konfisziert und der Beamte liess mich wissen, ich solle
mich am kommenden Tag auf der Polizeihauptwache melden.
Hinter den Abschrankungen stand Boubakar. Auf seinem t-shirt stand I am not gay, but my
boyfriend is. Um ihn herum eine Traube von Freunden, bereit mich zu
empfangen. Mir war das umständliche Warten etwas peinlich, doch niemand schien
sich wirklich daran zu stören. Nach ausgiebiger Begrüssung mit Küsschen hier
und Küsschen dort stiegen wir zu siebt in Boubés alten Mercedes. Wir dampften
vor Feuchtigkeit und Schweiss, und ich dachte für mich, voilà c'est
l'Afrique...
Boubés
Haus stand in einem Villenquartier. Allerdings waren die Strassen dorthin nicht
geteert. Der Regen verursachte tiefe Pfützen. Die Federn der Limousine ächzten.
Vor dem Haus kündigte Boubé mit lautem Hupen unsere Ankunft an. Zwei Domestiken
mit grossen Regenschirmen traten vor das Haus und sperrten uns das Tor auf. Ich
wurde von ihnen herzlich willkommen geheissen. Sie führten mich in ein schönes
Gästezimmer, während sich die Freunde Boubés im Salon gemütlich niederliessen.
Noch am selben Abend schrieb ich in mein Tagebuch: Panik vor 14tägiger
Langeweile, die mich hier erwarten wird. Doch es wird wohl wie im Militär sein:
man muss sich darein schicken und die auferlegte Zeit demütig absitzen. Dann
bekommt das Leben wieder eine neue Qualität: man kann es von aussen betrachten.
Bis heute weiss ich nicht, was mich zu dieser Vorab-Einschätzung meines
anstehenden Aufenthaltes bewogen hat. Und mir wurde, im Gegensatz zu meinem
ahnungsvollen Eintrag, auch gar nicht langweilig in diesen 14 Tagen, die vor
mir lagen. Es war nur einfach alles etwas anders, als ich es mir vielleicht
vorgestellt hatte. Habe ich mir überhaupt etwas vorgestellt? Es waren eher
Gefühle von Vertrautheit, die sich nicht auf Anhieb einstellen wollten. Die
Stadt zum Beispiel. Die Hauptstadt! Bis zum Schluss fand ich nicht heraus, wo
sich ihr eigentliches Zentrum befand. Sie hatte eher den Charakter eines
weitläufigen, sandigen Dorfes. Der Eindruck eines Dorfes wurde noch dadurch
verstärkt, als an jeder Strassenecke zwar ein Verkehrspolizist im Einsatz war,
dessen Autorität aber in der Hitze des Tages und wegen seiner sichtbaren
Überforderung dahinschmolz. Jeder Autofahrer, Karrenschieber, Velofahrer,
Motorradfahrer und Fussgänger befolgte seine eigenen Regeln und versuchte diese
erst noch den anderen aufzudrücken. Das unentwegte Stakkato der Trillerpfeifen
kam statt Anweisungen eher Hilferufen gleich.
In
Boubakars Haus wiederum sah ich mich lauter Jungs gegenüber, die mich an die
Gruppe im Palace an der rue du Faubourg Montmartre erinnerten. Sie hiessen
Saluste, Nasser, Arsène, Adissa, Khaled, Moussa, Souleymane, Djibril. An die
Namen der weiteren vermag ich mich nicht mehr zu erinnern. Sie kamen im
Verlaufe des Vormittags einzeln oder im Pulk, sofern sie nicht schon im Salon
auf dem Sofa genächtigt hatten. Und sie gingen erst wieder, wenn sie gegessen,
getrunken und alle Neuigkeiten aus Boubés Umfeld in Erfahrung gebracht hatten.
Sie lernten von ihrem Gastgeber das Herumkommandieren und probierten es selbst
bei den Domestiken aus. Donne-moi un verre d’eau. Oder: je ne peux
pas manger cette salade. N’as-tu pas une sauce plus douce? – Ich fand, ein
solch herrschaftliches Verhalten stünde ihnen nicht zu. Schliesslich waren sie
ja selbst Gast, wurden gefüttert und getränkt, und zum Dank führten sie sich
dann auf, als ob sie selbst die Herrschaften wären. Saluste war der Schlimmste
von allen. Er trug an allen Fingern Ringe und färbte seine Haare rotblond. Er
achtete darauf, dass seine Schuhe immer vor Sauberkeit glänzten. Er hatte für
alles ein abschätziges Wort auf der Zunge. Ich konnte beobachten, wie sich
sogar die anderen Jungs über sein arrogantes Verhalten empörten. Doch niemand
von ihnen wäre bereit gewesen, sich darüber beim Hausherrn zu beschweren. Sie
alle wussten, dass aus Gründen, die wohl niemandem so klar waren, Saluste dem
Prinzen am nächsten stand. Boubé nannte ihn als einzigen aus der Gruppe mon
ami. Wer sich also über Salustes Attitüde beschwert hätte, wäre Gefahr
gelaufen, selbst aus dem Dunstkreis dieses Hauses entfernt zu werden. – Ich
sprach den Prinzen einmal auf die Position Salustes an und teilte ihm meine
Beobachtung mit, dass dieser bei den anderen nicht gerade über grosses Ansehen
verfüge. Ich weiss, erwiderte Boubakar darauf, alle finden ihn zum
Kotzen und halten ihn für einen verdammt arroganten Schleimer und Lügner. Das
ist er auch. Gerade deshalb kann ich ihm, im Gegensatz zu allen anderen, Dinge
anvertrauen und Privates besprechen. Denn was er darüber später ausplaudert,
glaubt diesem Angeber sowieso niemand. Ich fühle mich in meiner Privatheit bei
ihm sicherer aufgehoben und beschützter als bei allen anderen.
Für die jungen Herren im Haus war ich auch ein Thema.
Meine Anwesenheit schürte Spekulationen darüber, in welchem Verhältnis ich denn
zum Gastgeber stehen mochte. Boubakar liess dies aber offen. Etwas
Geheimnisvolles gehörte schliesslich zur Rolle eines Prinzen. Und mir war das
recht so. Der eine oder andere machte mir zwar schöne Augen, vielleicht in der
Hoffnung, mit einer Annäherung auch dem Rätsel meiner Verbindung zum Herrn des
Hauses auf die Spur zu kommen. Doch ich enttäuschte alle. Grund dafür war
einerseits meine Angst, mich mit irgendeinem unerwünschten Käfer anzustecken.
Ich hatte aber auch Angst, unkontrollierbare Reaktionen von Eifersucht oder
Empörung auszulösen, hätte ich mich auf jemanden aus Boubakars Entourage
eingelassen. Der Hauptgrund meiner Vorbehalte aber bestand – zu meiner Schande
sei es gesagt – in meiner schlechten Meinung über diese Nichtsnutze. Ich
vermochte weder ihr Verhalten zu entschuldigen noch konnte ich mir erklären, wie
Boubé diese Schmarotzer überhaupt aushielt. – Das System dahinter erschloss
sich mir erst viel später, dass sich nämlich die beiden gegenseitig brauchten.
Je mehr Entourage, umso unangefochtener der Prinz. Unterwürfige Treue und
Aneignung prinzenhaften Verhaltens wiederum bildeten das Amalgam der
Dazugehörigkeit und damit Sicherheit des Hofstaates.
* * *
Der
Domestike Arsène, so stellte sich bald heraus, wusste eine fantastische
Zitronentorte zuzubereiten. Wenn es aus der Küche danach duftete, begaben sich
alle in die Startlöcher. Arsène stammte aus Bourkina Faso. Ich liess mir sagen,
alle guten Köche kämen von dort. Die Hiesigen wüssten nicht so gut zu kochen.
Vor allem die Zubereitung einer sauce béarnaise bereite ihnen
Schwierigkeiten. Den Nigrern sei eben die Verwendung von Butter, Mehl und Milch
nicht so geläufig.
Nasser war einer von Boubés Cousins. Eigentlich würde
er jetzt in Agadèz Bergbau studieren, doch die Professoren an der Uni waren zur
Zeit meines Besuchs en grève, weil ihnen der Lohn nicht ausbezahlt
wurde. Nasser erwies sich als zuverlässiger Chauffeur der Limousine, deren
Batterie allerdings kaum mehr etwas hergab. So mussten wir mit vereinten
Kräften das schwere Fahrzeug regelmässig anschieben, bis der Motor ansprang.
Für die Benützung der Klimaanlage im Auto reichte der Strom aber auch bei
länger laufendem Motor nicht mehr.
Mit Nasser am Steuer holte ich am nächsten Tag auf der
Polizeistation ohne Komplikationen meinen Pass ab. Im Verlaufe meines
Aufenthaltes unternahmen wir auch ein paar Ausflüge. Zur Vorbereitung gehörte
stets, zwei vollgepumpte Ersatzräder zu laden, denn auf offener Strecke konnte
man vor einer Reifenpanne nie sicher sein. Einmal fuhren wir nach Billaberry zu
einer Tante des Prinzen und fingen auf der Strecke prompt zwei Platten ein. Auf
dem Rückweg zur Stadt kamen wir an der amerikanischen und französischen
Botschaft vorbei. Nasser drückte plötzlich aufs Gas und meinte, wenn du hier
anhältst, erschiessen sie dich. Sie haben Angst vor Attentätern mit Autobomben.
Ein anderes Mal überquerten wir den Niger auf der damals einzigen Brücke weit
und breit und fuhren zur pillule, einem bei Sonntagsausflüglern
beliebten Strand. Von dort nahmen wir eine Piroge und wollten die île des
pêcheurs erreichen. Doch das Boot leckte, und ich war unentwegt mit
Wasserschöpfen beschäftigt. Da entschied sich der Bootseigner umzukehren und
von einem Besuch der Fischerinsel abzusehen. Wieder heil an Land assen wir
dafür die kleinen, auf dem Rost gebratenen Fischchen, die so vorzüglich
schmecken. Oder wir machten eine Stadttour zuerst zum Turm des Wasserwerks und
nachher zum Nationalmuseum mit Exponaten, die der Diversität des Landes vollauf
Rechnung trugen. Da gab es zum einen in schäbigen Gehegen gehaltene, lebendige,
wenn auch ziemlich ausgehungerte Löwen, und in den Terrarien nebenan konnte man
Schlangen und Skorpione bewundern. Weiter hinten befand sich die
paläontologische Abteilung mit imposanten Knochenfunden. Weitere Räume brachten
den Besucherinnen und Besuchern Bergbau, rituelle Bekleidungsstücke und Schmuck
verschiedener Stämme näher. Schliesslich erreichten wir die Sektion Handwerk,
wo Männer und Frauen, dem Schweizer Freilichtmuseum Ballenberg nicht unähnlich,
vor unseren Augen Ohrringe, Halsketten und Spielzeuge aller Art herstellten.
Ich kaufte mir bei dieser Gelegenheit ein schnittiges Motorrad, kunstvoll
geformt aus Pepsi-Cola-Aludosen. Der Mann war von meinem – sicherlich
überteuerten – Kauf so begeistert, dass er mir sofort anerbot, aus Draht
exklusiv einen noch nie dagewesenen Mercedes zu formen und zwei Eierbecher
gratis dazu.
Zum Schluss fuhren wir zur piscine, wo sich
sowohl schreiende Kinder wie auch geübte Schwimmer tummelten, und ich bedauerte
einen Moment lang, in der Schweiz meine Badehosen nicht eingepackt zu haben.
Ich ging davon aus, dass es in einer Wüstenstadt wie Niamey keine Schwimmbäder
gibt. Dass aber dort eine haute volée existiert, welche sich die
Annehmlichkeiten westlichen Komforts nicht entgehen lassen will, wurde mir erst
beim Einquartieren in Boubés Haus bewusst.
In mein Tagebuch schrieb ich so unpassende Dinge
zusammen wie: Hier machen die Männer ihr Pipi in der Hocke. Oder: Ich
mache die seltsame Beobachtung, dass ich hier die Zeit anders erfahre... Zum
einen ist sie rasend schnell, zum andern ätzend langsam. – Nähere
Erläuterungen dazu kamen mir aber bei dieser lähmenden Hitze offenbar nicht in
den Sinn.
Mit der Zeit unternahm ich meine Stadtgänge auch allein
und zu Fuss, immer wieder mit einem Blick zurück, um mir den Heimweg
einzuprägen. Ich sah auf der Nigerbrücke den Badenden und Waschenden zu und
genehmigte mir auf der Terrasse des Sofitéls einen Kaffee. Dort hing am Eingang
auch ein Anschlag der Deutschen Botschaft, der darauf hinwies, dass hier
Überfälle auch tagsüber möglich seien. Ich schrieb in einer gewissen
Überheblichkeit in mein Tagebuch: Mir gefällt das unübertrefflich
Provinzielle hier, wenn dies nicht schon zu hochgestochen klingt. Es gibt keine
Strassencafés, alles ist äusserst anstrengend, und die Strassen sind zu
schmutzig, um sich darauf niederzulassen. Merkwürdig: Gerade, weil sich dort
alle niederlassen, sind sie so schmutzig.
Abends fuhren wir mit dem Mercedes und der ganzen
Bande oft zu Bars und Nightclubs, auf welche tagsüber nichts hinwies. Niamey
schien also doch vielgestaltiger zu sein als das staubige Dorf des ersten
Eindrucks, das sich in meinem Kopf festgesetzt hatte. Doch dazu musste man die
Stadt erst besser kennenlernen. Die meisten boîtes de nuit, so liess ich
mir sagen, würden wegem Ausschank von Alkohol von christlichen Libanesen
geführt. Dort kam ich dann regelmässig zur Kasse. Es war selbstverständlich,
dass ich für die Jungs diverse Runden ausgeben musste. Meine Vorbehalte ihnen
gegenüber hin oder her. Während wir im dunklen Innern feierten, bewachten auf
der dunklen Strasse draussen Bettler unsere Limousine. Von Saluste erfuhr ich,
bevor er sich ganz betrank, dass sein Vater in Zinder ein angesehener Kaufmann
gewesen sei, der sich aber wegen der gegenwärtigen Krise und den damit
verbundenen Handelsbeschränkungen nicht mehr in der Lage sehe, seinem schwulen
Sohn ein Jetsetleben in Europa und Amerika zu ermöglichen. So backe er jetzt
halt auf Boubés Kosten kleinere Brötchen und helfe ihm dabei, das erbärmliche
Leben hier etwas erträglicher zu machen.
Bei so viel Gesellschaft unter Menschen, mit denen
mich herzlich wenig verband, und die ich gleich zu Beginn zu geringschätzen
lernte, fühlte ich mich zuweilen etwas einsam. An die Stelle des
Gedankenaustauschs traten jetzt stumme Beobachtungen. Eines Morgens sah ich zum
Beispiel, dass vor meinem Fenster die schattenspendenden Bäume gefällt wurden.
Entsetzt sprang ich auf, musste mich aber von Boubakar belehren lassen, dass
dies absolut notwendig sei, weil sie den bevorstehenden Herbststürmen nicht
standhalten und beim Umstürzen das Haus beschädigen könnten. Sie wüchsen aber
rasch nach – wie Unkraut.
* * *
Nach der
ersten Woche in Niger hatte ich einen Albtraum. Ich befand mich in einem Zimmer
voller Bücherregale. Mir gegenüber am Tisch sass ein ausgefuchster Ethnologe.
Sein Spezialgebiet war die Sahelzone. Er kannte die nomadisierenden Tuareg aus
dem Effeff. Deren Rituale, Kleider, Essgewohnheiten und Werte. Er kannte ebenso
die anderen Nomaden der Region, die Fulbe Bororo, und er fragte mich nun in
dieser Prüfung nach den Unterschieden zwischen diesen beiden Ethnien: Welche
von ihnen züchten Rinderherden? Wie steht es mit der matrilinearen
beziehungsweise patrilinearen Erbfolge der beiden? Der Examinator fragte
mich aber auch über andere Wüstenvölker aus. Welche Brautwerbungsrituale
kennen die Wodaabe? Was passiert, wenn eine Tuaregfrau einen Djerma heiratet?
Welches sind die Hauptunterscheidungsmerkmale zwischen den Songhai und den
Kanuri? Besteht ihr Couscous aus Hartweizengriess, Gerste oder Hirse? Kommen
Datteln vor in ihrem Speiseplan? Welche rituelle Bedeutung haben diese
überdies? Kennen Sie den Kosmos der Tubu? Worin zeichnet sich dieser aus?
Inwiefern sind sie Animisten? Welche Rolle spielt bei ihnen der Islam? Womit
treiben sie Handel? Woran kann man bei den Tuareg den Einfluss der
französischen Kolonialmacht noch festmachen? Welches sind die grössten Ethnien
im Niger? Welches sind die offiziellen Landessprachen? Wo trifft man in der
Sahelzone sonst noch Hausa an? Welcher muslimischen Glaubensrichtung gehören
sie an? – Und so weiter.
Schweissgebadet erwachte ich inmitten der Prüfung und
musste zur Kenntnis nehmen, dass ich bei meinem aktuellen Wissensstand haushoch
durchgefallen wäre. Noch schlimmer: Ich musste mir einmal mehr eingestehen,
dass mich, trotz meiner Ausbildung zum Ethnologen, solche Fragen auch im
Wachzustand eigentlich gar nie wirklich interessiert hatten. Es fehlte mir also
nicht nur an Wissen, es fehlte mir auch an Motivation, mich in dieser
Berufsgilde mit Faktenwissen zu profilieren. Und wer sass mir da gegenüber? War
dieser Examinator nicht Claude Lévi-Strauss, den ich seit der Lektüre seiner Traurigen
Tropen über alles bewunderte? Dieser Umstand verwirrte mich ganz besonders.
Seine Spezialgebiete waren doch eher Brasilien und Pakistan! Und jetzt
überraschte er mich mit seinem Wissen über die Völker der Sahelzone. Er ist
eben ein Genie. Ich schämte mich sehr. Ich hätte ihm gerne mehr Eindruck
gemacht. Wieso bin ich denn nur in diesen Niger gefahren? Was sollen bloss
meine Barbesuche bei den Libanesen, gemessen an der verpassten Gelegenheit,
einen der spannendsten Landstriche Afrikas kennenzulernen, dessen Probleme zu
erfassen und mitzudenken an deren Lösungen?
Die Wüste, zum Beispiel. Sie ist im Vormarsch.
Dürrekatastrophen mehren sich. Woraus könnte denn mein Beitrag bestehen? Was
geschieht mit den Abertausenden von Vertriebenen, deren Vieh unter der sengenden
Sonne zu verdursten droht? – Wäre es nicht an mir, den Prinzen und die
verwöhnten Jungs an ihre Verantwortung gegenüber ihrem Heimatland zu erinnern?
– Das Einzige, was ich in diesem Albtraum zu beantworten wusste, war die Frage
nach der durchschnittlichen Lebenserwartung im Niger. Sie lag damals bei 45
Jahren. Und das war genau mein Alter zum Zeitpunkt meines Besuchs dort. – Soll
ich nach einer weiteren Woche in die Schweiz zurückkehren mit eigentlich
nichts in den Händen ausser diesem blöden Enduro-Motorrad aus Aludosen und ein
paar belanglosen Aufzeichnungen zur gelangweilten jeunesse dorée von
Niamey?
Mir schien, der Sand in allen Ritzen dieser Stadt und
in meinen Augen, Nasenlöchern und Lippen würde mein Getriebe im Kopf nachhaltig
lähmen und meine Neugier zum Stillstand bringen. Das einheimische Geschehen
spielte sich vor meinen Augen ab wie die Bilder dieser überlangen,
handlungslosen Andy Warhol-Filmen der 1970er Jahre namens Chelsea Girl,
Sleep, Vinil und Flesh, bei denen die Begeisterung, sie überhaupt
bis zum Ende angesehen zu haben, den künstlerischen Gehalt des Dargebotenen und
die Summe an Erkenntnissen und Genuss bei weitem übertraf.
Da trat, wie gerufen, Madame Adam in mein Blickfeld. Mme Thérèse Adam.
Später, so entnehme ich es dem Internet, wurde sie unter anderem Schweizer
Botschafterin in Mosambik. Hier im Niger war sie coordinatrice der
Schweizer Mission. Klar, der Prinz kannte sie und fand es sinnvoll, mich mit
ihr bekannt zu machen. Sie residierte unweit von unserem Haus in einer schönen
Liegenschaft mit Swimming Pool. Im Gespräch bei Tee und Kuchen erfuhr ich, dass
noch bis vor fünf Jahren im Niger mit Putsch-General Seyni Kountché an der
Spitze ein Schreckensregime herrschte, wo bei Gräueltaten vermutlich auch Boubakars
Vater eine üble Rolle spielte. Als der Diktator 1987 in einem Pariser Spital an
den Folgen eines Gehirntumors verstarb, wurden 8000 Spitzel entlassen. Auch
Boubés Vater als Verteidigungsminister wurde arbeitslos. Kountchés Nachfolger, Ali Saibou,
war zwar auch ein Militär, doch er setzte einen Transformationsprozess in Gang,
dessen Erfolg erstens in der Einberufung des ersten nationalen Volkskongresses
1991 bestand und zweitens in den ersten freien Wahlen seit Nigers
Unabhängigkeit im Jahre 1960: Am 16. April 1993 wurde der liberale Mahamane Ousmane
ins Präsidentenamt gewählt. Leider wurde aber auch von ihm das Tuareg-Dossier
nur mit spitzen Fingern angefasst und keiner eigentlichen Lösung zugeführt, so
dass die politische Instabilität fortbestand. Zum Abschluss unseres politischen
Diskurses lud mich Frau Adam auf nächste Woche zu einem déjeuner ein,
worauf ich mich bereits beim Hinausgehen freute.
* * *
Meine zweite Woche im Niger gewann etwas an Schwung.
Boubé wollte mich seinem Vater vorstellen, mir seine Heimatstadt Dosso zeigen
und das Forstprojekt der rônerais von Gaya besuchen. Also präparierten
wir unsere Limousine für eine längere Fahrt in Richtung Südosten.
Mir fielen auf der Strecke die vielen Raubvögel auf,
die totgefahren mitten auf der Strasse lagen. Sie waren Opfer ihrer eigenen
Fleischeslust, denn sie warteten hoch oben in den Lüften geduldig kreisend, bis
unten irgendein Wildtier von einem Auto erfasst wurde und zu Tode kam. Dann
stürzten sie sich hinunter auf die zubereitete Mahlzeit und vergassen dabei,
hungrig wie sie waren, wohl allzu oft, selbst Opfer des Verkehrs werden zu
können. – Eine weitere Beobachtung am Strassenrand betraf Kinder, welche die
Vorbeifahrenden auf Giraffen aufmerksam machten, die sich irgendwo draussen in
der Savanne aufhielten und ästen. Doch unser Sinn stand im Erreichen von Malainville
vor dem Eindunkeln, denn das Abblendlicht unserer Limousine tat wegen eines
Wackelkontakts nicht richtig. Malainville ist die Nachbarstadt von Gaya und
liegt auf der gegenüberliegenden Seite des Nigers auf dem Staatsgebiet Benins.
Laut dem Prinzen sei dort die Unterkunft besser und wesentlich sauberer als auf
der nigrischen Seite des Flusses. Überall kannten sie Boubé, begrüssten ihn
überschwänglich und freuten sich über sein Kommen. Die Burschen und ich blieben
in diskreter Distanz. Boubé organisierte auch mit einem netten Schwatz bei den
Zöllnern, dass ich die Grenze zum Benin ohne Visum passieren durfte.
Am nächsten Tag besuchten wir eine grosse
Borassusplantage. Auf Französisch rônerais genannt, einer Baumschule aus
einer genügsamen Palmenart, bei welcher fast alles verwertbar ist. Sie eignet
sich deshalb gut, einheimischen Schreinern, Schnapsbrennern und
Zuckerverwertern ein Auskommen zu gewähren. Die Wertschöpfung eines solchen
Palmenhains war auch um ein Vielfaches grösser als die Erdnussfarmen, die sonst
weite Flächen des südlichen Nigers überzogen. Vor Ort arbeiteten auch ein paar
Entwicklungshelfer aus Belgien und Frankreich. Sie waren zuständig, den Leuten
die ökologisch und ökonomisch sinnvollste Nutzung dieser rôniers
beizubringen. Ich gewann allerdings den Eindruck, dass einige von ihnen dem
Sahelkoller erlegen waren und den Blütensaft der Palmen für den eigenen
Alkoholbedarf verwerteten. Auch dort kannte Boubé alle und hatte mit einigen
von ihnen ziemlich sicher auch schon mal das Bett geteilt. Ich machte Fotos.
In Dosso schliesslich lernte ich Monsieur le
général Bagnou, Boubés Vater, persönlich kennen, den ich in meinem
Notizbüchlein so beschrieb: Ausgemergelter Feldherr von 55 Jahren, der da in
seinen etwas heruntergekommenen Gemächern residiert und sich mit Landwirtschaft
beschäftigt. Er hat Augenprobleme (Netzhautablösung?) und raucht Gitane bleue.
– Der Hof war auch von Boubakars jüngeren Geschwistern bevölkert. Die jungen
Männer standen gerade um ein neu erstandenes Motorrad herum und fachsimpelten,
während von den jungen Frauen nur die Stimmen wahrnehmbar waren, denn sie
hielten sich vornehmlich im Inneren auf. Der Prinz stellte mir auch eine seiner
vielen Grossmütter vor, eine in Tüchern gehüllte alte, zahnlose Frau, die in
einem fensterlosen Raum auf dem sandigen Boden sass und gedankenverloren mit
einem Stofffetzen hantierte.
Abends sassen wir im Hof und sahen uns im Fernseher die Nachrichten an.
Offenbar hatte es in Niamey die letzten 24 Stunden unablässig geregnet. Jetzt
befürchteten die Behörden ein rasantes Ansteigen der Malariafälle. Während über
unseren Köpfen lautlos ganze Schwärme von Fledermäusen hinwegschossen und aus
der Ferne Kröten und Frösche ihre Liebeslieder quakten, beschäftigte sich im
nächsten Beitrag die Tagesschau mit der Opposition im Parlament, die dem
Präsidenten an den Kragen gehen will. Zur Aufbesserung des Budgets sollen
fünfzehn Staatsbetriebe veräussert werden: Wasserversorgung, Stromversorgung, Bergbau,
Telefon, Treibstofffirmen und so fort. Das gab zu reden. Wobei ich nicht recht
mitbekam, worin genau die Meinung der Familie Bagnou bestand. Doch alle
befürchteten wohl zu Recht, dass privatisierte Dienstleistungen die
Lebenshaltungskosten verteuern würden. Und schliesslich brachte das Fernsehen
die Nachricht, dass in Mali wahrscheinlich die ganze Schweizer Delegation der
Entwicklungszusammenarbeit, DEZA, von den Tuaregs ermordet worden sei.
Als wir
am nächsten Tagen wieder das durchnässte Niamey erreichten, stand das déjeuner
bei Frau Adam an. Sie hatte dazu noch ein paar weitere Gäste geladen. In
Erinnerung geblieben sind mir Herr und Frau Meyerkord von der Deutschen
Delegation für Entwicklungszusammenarbeit. Auch hier am Tisch waren die Entführung
und wahrscheinliche Ermordung der Schweizer in Mali ein Thema. Frau Adam
befürchtete, dass sich dieser schreckliche Vorfall negativ auf das künftige
Engagement der Schweiz in der Sahelzone auswirken könnte. Konservative Kreise
suchten schon seit je Gründe, Entwicklungshilfegelder zu kürzen. So ein
Geschehnis war Wasser auf ihre Mühlen. Grund: Sicherheitsbedenken. Das zieht in
der Schweiz doch immer, um etwas zu Fall zu bringen. Die engagierte Diskussion
am Tisch jedoch konnte mich nicht davon abhalten, die wunderbare Vorspeise
lobend zu würdigen. Frau Adams Koch nämlich, Pascal, natürlich auch er aus
Bourkina Faso, hatte ein wunderbares Artischockenpaté zubereitet. Er mixte
Tomatensugo mit weichgebratenen Artischockenherzen. Herrlich.
Später
kam das Gespräch auf die nigrische Staatskrise. Diejenigen, welche die
Privatisierung öffentlich-rechtlicher Institutionen forderten, waren am
Aushecken eines parlamentarischen Misstrauensantrags. Frau Adam meinte dazu: Kommt
es zu Neuwahlen, so fehlt schon das Geld, diese ordentlich durchzuführen. Und
solange politische Unsicherheit im Lande herrscht, halten sich auch dringend
benötigte Kreditgeber zurück. Womit auch viele Hilfsprogramme lahmgelegt
würden. – Auf diesem Mittagessen lastete ein schwerer Schatten. Die Freude,
Deutsch zu sprechen und mich mit Menschen auszutauschen, mit denen mich einiges
verband, konnte nicht die Waage halten zum Pessimismus, der die ganze
Tafelrunde befiel.
Wieder
zu Hause beklagte sich Boubé über seinen durcheinandergeratenen Magen. Ich
konnte es mir nicht verkneifen, mit einer gewissen Ironie festzustellen, dass
doch ich als Fremder es sein müsste, der an Diarrhöe leidet. So aber verarztete
ich den Prinzen aus meiner kleinen Reiseapotheke mit Imodium und war ein
bisschen stolz auf meine robuste Gesundheit. Ich fühlte mich sogar in meinem
Entschluss bestärkt, für den Rest meines Aufenthaltes nicht noch mit
Malaria-Tabletten zu beginnen, obwohl es die Mückenplage eigentlich erfordert
hätte.
Was im
Rest meines Aufenthaltes noch anstand, war der Besuch des Lokals, welches Boubé
für sein Restaurant erwerben wollte, und wo er mich schon als Geschäftsleiter
wirken sah. Es handelte sich um das Gebäude der ehemaligen chinesischen
Botschaft. Ein weitverzweigtes Etablissement, das mich allerdings nicht zu
begeistern vermochte. Ich meinte noch den Mief kleinkarierter, chinesischer
Beamten zu riechen, die hinter Milchglasscheiben ihren Dienst taten und
niemandem ins Gesicht sahen. Nein, es war schon richtig, dass ich mich dafür
nicht interessierte.
Die
Meyerkords übrigens hatten mich am Sonntagabend noch ins Hotel Gaweye
eingeladen, wo die Deutsche Botschaft für die deutsche Kolonie eine Wahlparty
veranstaltete. Auf zwei Bildschirmen konnten die Gäste die Ergebnisse der
Bundestagswahlen verfolgen. Bald war klar, dass Helmut Kohl weiterhin Kanzler
bleiben würde, auch wenn seine CDU ein paar Punkte eingebüsst hatte. Doch für
eine Ampelkoalition aus SP, Grünen und PDS reichte es bei weitem nicht. Ich
glaube, der Herr Botschafter war darüber nicht ganz unglücklich. Später in der
Nacht ging ich mit dem Prinzen und seinem Gefolge arabisch essen. Da trat
plötzlich ein flamboyanter Wirbelwind ins Restaurant und winkte mit
weitausholenden Gesten auch noch dem hintersten Platz im Raum zu. Er liess uns
alle laut vernehmlich wissen, wie enchanté er sei, uns alle hier
anzutreffen. Der Prinz konnte mir noch rechtzeitig zuflüstern, dass es sich
hier um Alphadi
handle, dem berühmtesten Modedesigner Afrikas mit Boutiquen in Paris und New
York City, worauf ich ihn begrüsste, als ob sein Name mir schon längst ein
Begriff sei. Welche Freude, Alphadi, säuselte ich, dich endlich
endlich einmal persönlich kennenzulernen! Das schmeichelte den Designer
offensichtlich und führte zur Einladung, ihn doch am nächsten Tag in seinem Atelier zu
besuchen.
Alphadis
Atelier bestand aus einem schrecklich unordentlichen Büro mit Stapeln von
Papier und Stoffmustern und Modejournalen, aus einem Zuschneideraum, wo Frauen
mit ihren Stecknadeln Schnittmuster an Stoffe hefteten, aus einem schlecht
beleuchteten Fabrikationsraum mit fünfzehn Nähmaschinen, an welchen Männer
Hemden, Blusen, Hosen und Jupes fertigten, und aus einer Boutique, wo man
Alphadi-Produkte erwerben konnte. Ich entschied mich für zwei Hemden aus
Leinen, die mit afrikanisch anmutenden Mustern bedruckt waren. Die Preise, und
das erstaunte mich dann doch ein bisschen, entsprachen durchaus denjenigen, die
ich normalerweise für Hemden im Manor bezahle.
Zwei
Tage darauf, nach wilder Abschiedsparty in Boubés Haus mit viel Rascheln im
Gebüsch von Boubés Garten, wohin sich auch einmal Alphadi mit einem Gespan
verzogen hatte, via Charles de Gaulle wieder in vertrauter Schweizer Umgebung
angekommen, begann mein Magen zu grummeln. Er sollte mich noch eine Weile an
meinen Aufenthalt in Niger erinnern, auch wenn meine Eindrücke dieser Reise so
langsam versandeten wie damals meine Energie in der Wüstenstadt Niamey. Einzig
der Kulturschock, der mich bei meiner Rückkehr in die wohlgeordnete, reiche
Schweiz befiel, machte mir noch mehr zu schaffen als meine Gedärme. Statt das
Wohlbestallte meiner Heimat zu geniessen, störte mich dieses saturierte Gehabe.
Mich nervte der selbstverständliche Anspruch darauf, dass es den Schweizerinnen
und Schweizern zustehe, auf der Sonnenseite dieses Planeten zu stehen.
* * *
Ein Jahr später meldete sich Boubé plötzlich mit der
Anfrage, ob ich nicht Miteigentümer eines grösseren Restaurationsbetriebes an
den Gestaden des Nigers werden möchte. Offenbar war aus der chinesischen
Botschaft nichts geworden. Die Fotos, die er zusandte, zeigten vielmehr ein von
einer Mauer umsäumtes Anwesen. Bäume beschatteten das Areal. Es bestand aus
einem Speiserestaurant mit Küche, einer Bar, einer Tanzfläche mit Podest für
eine Live-Band und einer breiten Terrasse mit Blick auf den Strom. Alles unter
freiem Himmel. Bei Regen liess sich ein Teil der Fläche mit grossen Zeltplachen
überspannen. Quel luxe, fand ich. Zur Liegenschaft gehörte auch ein
Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Strassenseite mit vielen Parkplätzen davor.
Dieses Haus verfügte über eine stattliche Anzahl von Gästezimmern. – Die Idee
des Prinzen bestand darin, mit drei stillen Teilhabern das Objekt zu erwerben.
Denn der Kauf der ganzen Liegenschaft schien seine eigenen Möglichkeiten doch
etwas zu übersteigen. Von den anderen stillen Teilhabern war mir nur Gérard
Vergez bekannt. Der andere mochte irgendein früherer französischer Liebhaber
Boubés gewesen sein.
Irgendwie erinnerte mich das Ansinnen des Prinzen an
die Anfänge meines Kontaktes zu meinem Grundeinkommensgaranten Sebastian. Vor
diesem Hintergrund sagte ich nicht von vorneherein nein. Ich liess mir von
Boubakar erklären, wie er sich denn diesen Deal vorstellt: Nach Überweisung des
Geldes wollte er mir über drei Jahre hinweg ratenweise und mit Zinsen den
eingeschossenen Betrag zurückzahlen. So lange sei ich zu einem Viertel
Miteigentümer. Nachher allerdings würde dieser Status erlöschen. Klar, saubere
Sache. Wir setzten via Fax einen Vertrag auf, und ich überwies die geforderte
Summe, nachdem ich sichergestellt hatte, dass die anderen zwei ihren Anteil
unter denselben Konditionen auch überwiesen hatten. Als Quittung bekam ich die
Bestätigung, dass mir jetzt ein Viertel vom Ise Gani gehöre. Das sei
Hausa und würde auf Englisch „bad boy“ heissen oder auf gut Deutsch „Böser
Bub“. Bald schon schickte mir der Prinz Fotos von den Eröffnungsfeierlichkeiten
in Anwesenheit des Tourismusministers, der den Bildern nach auch eine Ansprache
gehalten hatte. Weitere Fotos zeigten das gut besuchte Restaurant mit Köchen
aus Bourkina Faso und den bunt beleuchteten Nachtclub mit Partykugeln und
Live-Band und vielen leichtgeschürzten, attraktiven jungen Frauen, die sich auf
Barhockern räkelten.
In der Schweiz begann ich aufgrund dieser Fakten in
meine Gespräche mit den unterschiedlichsten Leuten einzuflechten, dass ich
jetzt in Niamey stolzer Mitbesitzer eines Cafés sei. Die wenigsten wussten, wo
Niger überhaupt liegt. Doch Afrika war exotisch genug, um überraschte oder
sogar bewundernde Blicke zu erheischen. Das mit dem Night Club liess ich aber
beiseite, weil ich mich ein bisschen um meinen guten Ruf sorgte. Boubakar
gestand mir nämlich in einem späteren Schreiben, dass das Haus auf der anderen
Strassenseite ein Bordell sei, und dass von Anbeginn höchste Regierungskreise dort
ausgelassene Parties feiern würden. Ich sagte mir trocken: gut fürs Geschäft.
So erhalte ich wenigstens schon bald wieder mein investiertes Geld zurück. Ich
brauchte es dringend, denn bei mir lief im fraglichen Jahr nicht alles rund.
Meine Theaterproduktion floppte, und die illegale Bar, die ich damals an der
Wattstrasse in Örlikon betrieb, leckte finanziell mehr, als dass sie eingebracht
hätte. Anfänglich überlegte ich mir, sie auch Ise Gani zu taufen mit dem Zusatz
Niamey-Örlikon. Doch dann entschied ich mich doch für den Namen Dr. Bockler’s
Klinik, weil schliesslich auch meine Theaterproduktionsfirma Dr. Bockler’s GmbH
hiess. Die Idee einer Klinik gab auch die Richtung vor, in welcher Weise der
Raum eingerichtet werden könnte. Der Künstler und Konstrukteur ValentinAltorfer nützte diese Vorgabe dann auch weidlich aus, um eine unvergleichliche
Atmosphäre von gruselig-skuril beleuchteten Reagenzgläsern, Spritzen und
Röntgenaufnahmen eines Poulets zu schaffen.
Als die erste Rate fällig war, beschied mir Boubakar,
die lokale Währung, der CFA, habe in den letzten Jahren dermassen nachgegeben,
dass es ihm zurzeit nicht möglich sei, die vereinbarte Summe in Schweizer
Franken zurückzubezahlen. Er verlangte Fristverlängerung. Ich gewährte sie ihm.
Als aber auch der zweite Termin ohne Überweisung verstrich, begann ich mir
langsam um mein Geld Sorgen zu machen. Mein Französisch wurde ruppiger, und ich
liess die obligaten bisous am Ende meiner Briefe beiseite. Ich wollte
nicht, dass Boubakar in der Annahme bestärkt wird, dieses Geld sei ein
Geschenk. Ich war mittlerweile 48 Jahre alt und mich überkam eine von
Selbstvorwürfen durchtränkte Depression. Wie fahrlässig und leichtsinnig ich
doch handelte, Vertrauen schenkend, sobald Exotik im Spiel war. Führte ich
nicht ein recht risikoreiches Leben? Ohne Pensionskasse und ohne Erspartes? Das
heisst, das Ersparte lag bei Sebastian, doch die Frage war berechtigt, ob das
so immer weitergehen kann. Betrachtete ich mich im Spiegel, so zuckten meine
Augenlider nervös. Irgend etwas musste geschehen. Eine weitere Theatersaison,
die so floppen würde wie dieses Mal, konnte ich mir nicht leisten. Ich begann, Stellenangebote
zu studieren und sah mein Heil darin, mich irgendwo wieder anstellen zu lassen.
So kam es, dass ich mich, unter anderen Angeboten, auch auf die Stelle eines
Rektors der Luzerner Schule für Gestaltung bewarb und diese zu meiner eigenen
Verwunderung und zu meiner noch grösseren Genugtuung auch zugesprochen bekam.
Im selben Monat, als mir die Stelle in Luzern
zugesprochen wurde, blieb plötzlich Sebastians monatliche Zahlung aus. Ich
erfuhr über Umwege, dass mein zuverlässiger Geldvermehrer in Untersuchungshaft
sitze. Alle seine Konten seien gesperrt. Es bestehe Verdacht auf ungetreue
Geschäftsführung und illegales Finanzgebaren. Später sollte sich herausstellen,
dass statt des Devisenhandels die Bedienung eines Schneeballsystems im
Vordergrund stand.
Nach dem Schock überschlug ich meinen Schaden und
wusste nicht, ob ich jetzt von Pech sprechen müsse oder von sagenhaftem Glück.
Nur eines war klar: ich würde von meinem Einsatz wohl nichts mehr sehen. Doch
diesen hatte ich im Laufe der Jahre viermal umgesetzt. Er ermöglichte mir
während sechs Jahren eine finanzielle Basis. Diese Wohlfahrt hatte ihren
Preis.
* * *
Noch bevor ich meine Stelle in Luzern antrat, wollte
ich meine Sache mit dem Ise Gani einer Lösung zuführen. Mir schien die Fallhöhe,
als Rektor einer Kunstschule auch noch Mitbesitzer eines Puffs zu sein, zu
hoch. Es genügte mir schon, zu dieser Zeit mit einer brasilianischen Lesbe
verheiratet gewesen zu sein, nur damit mein damaliger Freund, auch ein
Brasilianer, deren Schweizer Freundin heiraten und damit in der Schweiz bleiben
konnte…
Kurz vor meinem Amtsantritt in Luzern organisierte ich
also noch eine zweite Reise in den Niger in der Absicht, auf Kosten von Ise
Gani fette Ferien zu machen, um mir am Schluss wenigstens sagen zu können, ich
hätte mein Geld nicht einfach zum Fenster hinausgeworfen, sondern dafür auch
etwas bekommen. Diesmal regnete es bei meiner Ankunft nicht, und ich stellte
fest, dass nun ein grosser BMW älterer Bauart die Mercedes-Limousine ersetzte.
Die Jungs um Boubé waren andere, ihr Verhalten schien mir aber dasselbe zu sein
wie eh und je. Boubakar hingegen kam mir verändert vor. Seine vornehme,
gelassene Art machte jetzt Nervosität und Gereiztheit Platz. Ich fühlte mich
nicht recht willkommen. Eine grosse Distanz zwischen uns manifestierte sich
bereits bei der Begrüssung. Wir fuhren ins Puff, wo er mir ein Zimmer zuwies.
Das Moskito-Netz wies Löcher auf. Doch das Steak mit der sauce béarnaise im Ise
Gani schmeckte vorzüglich. Boubé leistete mir beim Essen zwar Gesellschaft,
erhob sich aber alle drei Minuten, um entweder in der Küche oder in der Bar
Befehle zu erteilen und dabei recht laut zu werden, wie ich das von seiner
sanften Art her nicht gewohnt war. Erschöpft kam er dann wieder an den Tisch
zurück und verschaffte seiner Frustration Luft: Er habe genug von den tausend
Bittstellern und Profiteuren. Niemand fühle sich für seinen eigenen Bereich
verantwortlich. Kaum sei er ausser Sichtweite, würden diese wie Mäuse tanzen
und den Ruf des Lokals schädigen. Ce qui manque, c’est la géstion. Er
wolle lieber heute als erst morgen zurück nach Frankreich, um sich dort nach
einem ruhigeren, normalen Job umzusehen. – Was sollte ich da als
Noch-Mitinhaber des Ise Gani nur zur Antwort geben?
Später am Abend füllte sich der Club mit Nutten,
Strichern und Freiern. Ich wischte mir den Mund, verabschiedete mich und liess
mich in dem mir zugewiesenen Zimmer des Hauses gegenüber ins Bett fallen. Rund
um mich herum hörte man Türen schletzen, Mädchen kichern und vereinzelt auch ein
Stöhnen. Plötzlich klopfte es an meine Tür. Es war der baumlange, spindeldürre
Bachir, einer von Boubés Entourage, ein Jus-Student, den ich vor einer Stunde
drüben im Restaurant knapp begrüsst hatte. Er fragte höflich, ob es mir nichts
ausmache, die Nacht mit ihm zu verbringen. Zu Fuss sei um diese Uhrzeit der Weg
nach Hause zu gefährlich und zu weit.
Eigentlich hätte ich, wenn überhaupt, den lustigen DJ
Maxim aus Abijan, der zwischen den live acts Platten auflegte, als
Bettbegleitung bevorzugt. Doch diskret und seriös, wie ich sein wollte als
künftiger Rektor, verbat ich mir die Bekundung irgendeiner Begierde. So kam es,
dass Bachir unaufgefordert an meiner Seite schlief und ich am nächsten Morgen die
erste meiner als Geschenke vorgesehenen Swatch-Uhren loswurde. Bachir durfte
die Farbe auswählen. Er entschied sich für rot und führte sie darauf in der
ganzen Stadt spazieren. Mich im Schlepptau. Wir machten Halt bei einer
Hochzeitsgesellschaft im Hotel Ténéré, wo sich der Bräutigam unter dem Geschrei
der Anwesenden mit Hennaschlamm Füsse und Hände einreiben musste. Ich durfte
zum Gaudi der Anwesenden auch noch eine Hand hinhalten. Dann zogen wir dorthin,
wo den Freunden des Bräutigams Couscous serviert wurde, bevor die ganze
Hochzeitsgesellschaft an einem dritten Ort zusammenfand und feierte, wie sie es
von den Serien der Television her kannte. Ein angeheuerter Kameramann drehte
Kassette um Kassette, und mir schien, dass alle etwas verlegen waren und nicht
recht wussten, wie man sich zu benehmen hatte. Zur Sicherheit plusterten sich
alle schön auf und wurden so zu Botero-Figuren: Eine Spur lächerlich und
bemitleidenswert, aber auch liebenswert in ihrer zur Schau getragenen
Unbeholfenheit.
Bachir erwies sich als zuvorkommend und respektvoll zu
mir und liess nicht mehr von meiner Seite. Wenn ich mich über Müdigkeit
beklagte, antwortete er beflissen c’est le clima. – Jetzt fiel mir auf,
dass die Leute hier nach dem obligaten bonjour ça va? sofort nach der Müdigkeit
fragen: et la fatigue, ça va? – Schon die schleppend vorgetragene Frage
nahm die Antwort vorweg. Die Müdigkeit hier war allgegenwärtig, Müdigkeit des
Klimas wegen – oder von der überall grassierenden Malaria, le paludisme. Die
Nachfrage gehörte jedenfalls zum Standard jeder Konversationseröffnung. Ja, es
wäre wohl unhöflich gewesen, nicht danach zu fragen.
* * *
Die Distanz zum Prinzen weitete sich aus zur Distanz
gegenüber allem, was mir diesmal widerfuhr in diesem Niger. Der Harmattan,
dieser heisse Wüstenwind, tat das Seinige dazu. Er verdeckte mit seinem
Sandstaub sogar die Sicht aufs gegenüberliegende Haus. Er erstickte in mir
zudem jede Neugier. Was mochte ich bei diesem Wirbelwind alles an Viren und
Bakterien einatmen? – Egal, ist ja schon ein Erfolg, davon bis jetzt nicht
krank geworden zu sein. – Und was spielt sich wohl auf der anderen Seite des
Flusses ab? – Ist da unten überhaupt der Niger? – Oder befindet er sich
vielleicht doch eher dort drüben? – Kommt uns da vorne ein Auto entgegen ohne
Licht? – Müssen wir an der nächsten Kreuzung nach rechts oder nach links
abbiegen? – Die Sicht war gleich Null und erlaubte mir umso mehr Introspektion.
Meine Gedanken weilten zum Beispiel bei der Frage, ob ich in zwei Wochen an
meiner neuen Arbeitsstelle in Luzern eine Krawatte tragen müsse. Die Ferne war
mir näher als das neblige Geschehen um mich herum. Mich beschlich in Niamey ein
Gefühl, das mir später in ländlichen Gebieten Chinas noch des Öfteren
widerfahren sollte: Die Welt ist grösser, als dass ich sie je zu erfassen
vermöchte. Sie versteckt sich im Nebel unbekannter Sprachen, ungewohnter
Bräuche, unverstandener Witze, und die Wirkung auf mich bestand immer in einer
gewissen Gelassenheit. Kein Stress mehr, einem Rätsel auf die Spur kommen zu
müssen. Keine Angst mehr davor, etwas nicht verstanden zu haben. Das Fremde
würde für mich immer fremd bleiben, und Heimat ist für jeden etwas anderes. Und
in dieser Entspannung konnte ich mich nicht einmal aufregen über die verwöhnten
Jungs, die wie piepsende Satelliten unentwegt um den Prinzen kreisten. In meine
Gefühle mischte sich eher ein gewisses Erbarmen. Es dürfte nicht ganz einfach
sein, sich dermassen in Abhängigkeit eines anderen zu begeben, ohne dabei selbst
Würde und Selbstachtung zu verlieren. Was aber die Nation einigte in den Tagen
meiner Anwesenheit, ob alt oder jung, arm oder prinzenreich, ob Frau mit sieben
Kindern oder Mann mit vier Frauen, ob Soldat, General oder Schuhverkäufer, ist
das Leiden an diesem unerbittlichen Harmattan, der niemanden verschonte. Da
nützte ein noch so nobler BMW älterer Bauart nichts – sans clim.
In der Hoffnung, in den bevorstehenden Tagen würde es
etwas aufheitern am Himmel, rüsteten wir uns für eine Fahrt gen Osten. Boubé,
ein mir vorher nicht bekanntes Paar, dem ich auf der ganzen Fahrt nicht
näherzukommen vermochte, der Chauffeur Nasser und ich. Über verschiedene
Etappen wollten wir Zinder erreichen. Ein magischer Name für eine Stadt, nicht
unähnlich wie Timbuktu oder Sansibar. Wir fuhren, mit zwei Reserverädern auf
dem Dach, in der Dämmerung los, tagsüber wäre es dafür zu heiss gewesen. Nach
ein paar Stunden kamen wir in Dosso an. Da waren wir doch schon, Boubakars
Heimatort! Im Gehöft seiner Familie wurde mir das schönste Zimmer zugewiesen,
zuvor aber zeigte mir der Prinz im Schein einer Taschenlampe noch den Bauplatz
in der Nähe. Hier waren ein Gästehaus, ein Restaurant, ein Swimmingpool und ein
Nightclub im Entstehen, ein zweites Ise Gani sozusagen. Es war als Pilotprojekt
gedacht für ein ganzes Netzwerk weiterer Etablissements im ganzen Land, wo sich
die Wohlbestallten aus Niamey an den Wochenenden erholen konnten. Entweder mit
der Familie oder mit einer heimlichen Geliebten. Bauleiter war ein Schweizer
namens Jean-Marc, Typus Alleskönner und Abenteurer auf dem Weg rund um den
Globus.
Am darauffolgenden Morgen wartete im Schatten eines
Baumes ein Coiffeur auf mein Kommen. Es herrschte in der Generalsfamilie die
konsolidierte Meinung, man müsse mir die Haare schneiden. Als ich auf dem für
mich vorbereiteten Hocker Platz nahm, versammelten sich Boubakars Brüder um
mich herum. Doch schon nach den ersten Schnipseln versagte das Können des
Störfriseurs. Ich habe noch nie Haare eines Weissen geschnitten,
jammerte er. Das ist furchtbar, diese feinen Haare, sie entgleiten mir immer
unter der Schere. Alle lachten und wollten es nicht glauben. Also nahm ihm
Moussa, einer von Boubés Brüdern, beherzt Schere und Kamm aus der Hand und
versuchte es selbst. Doch schon bald hörte auch er damit auf, weil es ihn vor
Lachen fast umhaute. Ich erlebte mich zum ersten Mal in meinem Leben als Objekt
des Amüsements und Scheiterns zur selben Zeit. Das müsste man filmen,
schoss es mir durch den Kopf. Zum Schluss hatten es vier Jungs an mir versucht,
und mein Haar war die Lachnummer des Tages. In Ermangelung eines Spiegels sah
ich das Resultat erst viel später, als wir nämlich wieder das Auto bestiegen
und ich mein Antlitz im Rückspiegel bestaunen konnte. Gar nicht schlecht,
befand ich. Doch ich hatte mir noch nie viel aus meinem Haarschnitt gemacht.
Vielleicht besser so.
Wir fuhren in der Abenddämmerung weiter nach Diffa und
übernachteten bei einem Krankenpfleger, der für uns sein Bett räumte und sich
auf den Boden schlafen legte. Maradi war von dort aus nicht mehr weit, und
allmählich begann ich mich für diese Wüstenstädte, die wir besuchten, zu
begeistern. Sandig zwar, doch perfekt zugeschnitten auf die Bedürfnisse eines
Stadtwanderers wie mich. Sie vermittelten mir Wohlbefinden und exotische
Heimeligkeit mit ihren engen Gassen, mit den mit geometrischen Ornamenten
verzierten Toren und Türen und mit den ziegelroten Mauern, welche von
neckischen Türmchen unterbrochen wurden. Am meisten beeindruckte mich dabei die
Stille, die mir nur von schneebedeckten, winterlichen Seitentälern in den
Bergen her vertraut war. Der Schall reicht nicht weit. So wie er in den Alpen
vom Pulverschnee verschluckt wird, schafft hier der alles vereinnahmende, feine
Sand denselben Effekt. Man fühlt sich in einer endlosen, weiten und
menschenleeren Wüste ohne Grundrauschen und befindet sich gleichwohl in
dichter, menschlicher Umgebung. Die Rufe sind hörbar, das Klappern des
Geschirrs auch, doch alles erreicht das Ohr erst, nachdem es von allen lästigen
Begleitgeräuschen gereinigt worden ist. Das Echo fehlt.
Diese wunderbare Stadterfahrung traf noch um ein
Vielfaches mehr auf die Stadt Zinder zu, zumindest auf deren Altstadt. Ich
fühlte mich vom ersten Augenblick an heimisch und willkommen, und alle
Vorbehalte gegenüber dem Ferienland Niger schienen von einem Augenblick zum
anderen wie weggeblasen. Geissen rannten durch die Gassen und wirbelten gehörig
Staub auf. Ich begegnete buntgewandeten Frauen und bewunderte, wie sie ihre
grossen Körbe auf ihrem Kopf balancierten. Kinder rannten mir entgegen und
schrien laut nach cadeaux. – Boubé hatte ein volles Programm. Für
seine Besuche bei seinen vielen Tanten und Kusinen, bei der wohlhabenden
Familie seiner Braut, bei ein paar alten Generälen, frühere Kampfgefährten
seines mittlerweile verstorbenen Vaters, ging er zuerst auf den Markt und
kaufte Unmengen Hirse, Maggiwürfel, Zucker und Reis, die er in verschiedene
Tüten abpacken liess. Sie waren als Gastgeschenke gedacht. Den Zucker
allerdings verteilte er bereits den Bettlern, die am Eingang des Marktes
herumstanden. Nicht überallhin durfte ich den Prinzen begleiten, doch an
einigen Orten war es ihm wichtig, dass ich mitkomme. Manchmal betraten wir
Drecklöcher, manchmal vornehme Häuser. Ich bekam nie richtig mit, worin die
Essenz dieser Begegnungen eigentlich bestand. Es wurde fast nichts geredet, man
sah sich auch nicht an. Boubé kommunizierte seine wenigen Worte im Flüsterton,
dann war es einfach wieder für eine Weile still. Wenn es hochkam, wurde Minuten
später in jammerndem Tonfall eine knappe Antwort erwidert, worauf wieder
Schweigen herrschte. Die Besuche waren nicht darauf ausgerichtet, sich viel
sagen zu wollen. Es ging wohl einzig ums Vorbeikommen. Ein Schluck Wasser wurde
gereicht, man sass etwas herum, sofern Sitzgelegenheiten überhaupt vorhanden
waren, Kinder kamen vorbei, machten ein paar Verrenkungen und verschwanden nach
kurzer Zeit wieder, und irgendwann erhoben wir uns wieder. Der Besuch war zu
Ende, wir verabschiedeten uns. Ich befand nach einer Weile, dass diese Art von
Kontaktpflege eigentlich ganz gut zu den unendlichen Weiten der Wüste passe.
Gesagtes war angesichts der immensen, sandigen Dimensionen, die einen umgaben,
unerheblich.
Bevor wir die Rückreise antraten, unternahmen wir noch
einige Ausflüge in die Gegend, immer mit organisatorischen Unwägbarkeiten
verbunden. Einmal fehlte Benzin, ein anderes Mal waren unsere Mitreisenden oder
der Chauffeur noch am Schlafen oder indisponiert, oder wir mussten unzählige
Male nach dem Weg fragen und wurden jedes Mal in eine andere Richtung gewiesen.
Es kam vor, dass wir innerhalb einer halben Stunde viermal beim selben Platz
vorbeikamen. Wie oft musste ich mich erkundigen, wohin denn heute die Reise
gehe, weil die Destinationen oft kurzfristig durch andere ersetzt wurden. In
besonderer Erinnerung geblieben ist mir dabei der Besuch bei einem Marabout in
Illallah, denn Boubakar bekundete das dringende Bedürfnis, vor unserer
Rückfahrt nach Niamey noch den geistlichen Rat eines Weisen einzuholen. So
gelangten wir nach dem Wechsel zu einem angemieteten Geländefahrzeug über
Stock, Stein und Umwegen zu einem Gehöft. Dort stand vor einem dunklen Raum ein
Mann, der uns alle herzlich begrüsste und Boubakar gleich aufforderte, seinen
Obolus zu entrichten, damit er zum Marabout vorgelassen werden konnte. Während
wir anderen draussen blieben, wurde der Prinz ins Innere geführt, wo der
Marabout die Ratsuchenden zu empfangen pflegte. Nach einer Welle
unverständlicher Schreie und Rülpser hörten wir die sanften Worte des Mannes,
der uns zuvor an der Pforte empfing. Jetzt schien er als Übersetzer zu
fungieren, indem er die wilden Laute des Marabouts in verständliche Worte
formte. – Nach einer halben Stunde war der Spuk vorbei und Boubé erschien ganz
aufgelöst unter der Pforte und musste sich zuerst die Tränen abtrocknen.
Offenbar hatte die Konsultation bei ihm einiges bewirkt. Doch worum es ging,
behielt er für sich.
* * *
Auf der Rückfahrt nach Niamey beschäftigte mich noch
die Sache mit Boubés Braut. Sie war von reichen Eltern und mit ihren
hervorstehenden Zähnen und dem markanten Unterkiefer nicht besonders hübsch.
Laut dem Prinzen wusste sie über sein vielfältiges Sexualleben Bescheid. Wenn
es nach ihm, dem Bräutigam, gegangen wäre, hätte er nach einer veritablen
Traumhochzeit mit ihr so bald als möglich ein Kind gezeugt, damit das Geschwätz
in Niamey endlich ein Ende nähme. Doch nachher hätte er dafür gesorgt, ihr
Männer zuzuhalten, die sie sexuell befriedigt hätten. – Nach langer Pause und
mit einem Seufzer stellte Boubé jedoch fest, dass ihr wahrscheinlich der Sinn
doch eher nach einem Medizinstudium in Frankreich stehe, als mit ihm eine
Familie zu gründen.
Noch einmal Dosso, noch einmal Boubakars nette Geschwister.
Im Schatten des lokalen Fussballstadions tranken wir noch einmal einen Apéro,
und der Prinz bestellte noch einmal seinen Schafskopf, der in einer fetten
Sause schwamm, wie er das vor vier Jahren schon getan hatte, und worüber ich
nicht geschrieben habe. Als besonderer Leckerbissen galten die Augen, und es
wurde für mich noch einmal zur Mutprobe, beim Essen mitzuhalten.
Mit unserer Rückkehr nach Niamey am nächsten Tag
neigte sich mein Aufenthalt langsam dem Ende zu. Diese Feststellung machte mich
nicht unglücklich. Der heisse Nebelstaub war unerträglich. Die letzten 50
Kilometer bis zur Stadteinfahrt fuhren wir im Schritttempo. Die Augen brannten.
Ich erklärte Boubakar, dass ich in Zukunft ohne Regressansprüche auf meinen
Anteil am Ise Gani verzichte, was wiederum ihn nicht unglücklich machte. Aber
auch nicht froh. Es war offensichtlich, dass er sich mit diesem Ise Gani
kräftemässig übernahm. Sein theoretisches Wissen über Gastronomie und
Hotellerie, das er sich bei seinem Studium in Paris erwarb, liess sich am Niger
nicht einszueins anwenden, und es nützte ihm offensichtlich auch nichts, zu den
Bessergestellten zu gehören, denn statt diesen Status für die
Qualitätssicherung zu gebrauchen, umgab er sich mit weniger gut Gestellten, die
ihn nach Strich und Faden ausnahmen. Es schien, als würde er von diesem
Unternehmen gejagt, statt es selbst voranzutreiben.
Zum Schluss galt es, mit jedem noch die Adressen
auszutauschen. Sie befinden sich noch immer in meinem Notizbüchlein: Amadou
Moussa (Appolo), Bachir (er schrieb dazu noch J’ai arreté de fumer ce soir à
17h, 18-03-98), Maxim Piot, Ousmane Djibrilla… und viele andere. Alle gaben
für die Korrespondenz eine boite postale an. Doch mit keinem von ihnen
pflegte ich später je brieflichen Austausch. Und die Gesichter hinter diesen
Namen sind in der Zwischenzeit auch verblasst. Geblieben sind aus dieser
intensiven Zeit nur ein paar Situationen und Erlebnisse, die ich hier zu
schildern versuchte. Geblieben sind auch belanglose Details, wie zum Beispiel
das ungenierte Ausstrecken der Füsse auf dem Salontisch, das ständige Spielen
mit dem Schlüsselbund, ein paar Schlägereien in den Clubs in alkoholisiertem
Zustand, vor allem aber die nie nachlassende Zuvorkommenheit mir gegenüber, die
mir stets das Gefühl vermittelte, Kolonialist zu sein. Mir scheint aus der
Distanz, dass ich der eigentliche Prinz war. Auf Staatsbesuch sozusagen.
Unangefochten in meinem Status: Für Boubakar fast die einzige Respektsperson.
Niemand wagte es, mich um Geld zu bitten (ausser Boubé, der mir zu verstehen
gab, wann wieder die Reihe an mir sei, eine Runde auszugeben).
Damit endet zwar diese Geschichte, doch keineswegs mein
Afrika. Ich habe mir eine Zeitlang überlegt, hier noch weitere
Afrikaerfahrungen hineinzuverweben, die sich zu anderen Zeiten in Mali, in
Nigeria, Ghana, Kenia, Tansania und im Sénégal zugetragen haben. Auch zu
Südafrika hätte ich noch einiges auf Lager. Doch in diesem Rahmen verzichte ich
darauf. Mir scheint einzig noch der Erwähnung wert, dass ein Jahr später,
anlässlich meines 50. Geburtstags, der als grosse Sause mit über 200 Gästen im
Luzerner Hotel Seeburg angelegt war, aus dem Nichts plötzlich Boubakar
auftauchte und mitfeierte. Er kam aus Paris, wo er sich offenbar von seinen Ise
Gani-Strapazen bei Monsieur Vérgez ein bisschen erholte. Sein Kommen rührte
mich sehr, und ich bedaure, zu ihm seither keinen Kontakt mehr zu haben. Dem
Netz entnehme ich, dass es das Ise Gani nicht mehr gibt. Jetzt heisst die Lokalität Jet Set. Der
Reiseführer schreibt dazu: this is the rendezvous of golden youth until
early morning, a guaranteed atmosphere on weekends, techno music.
Und ganz zum Schluss überlege ich mir, ob der Titel mit dem afrikanischen
Café überhaupt zumutbar sei angesichts der Tatsache, dass es in Afrika 55
Länder, noch viel mehr Ethnien und Sprachen gibt, die sich in ihrem Wesen wohl
wesentlich stärker unterscheiden als ein europäischer Schwede von einem
europäischen Sizilianer. Gerate ich damit in die rabenschwarze Mohrenfalle
eines Paul Burkhards, dessen Text der politischen Korrektheit wegen von Mohren
befreit wurde? Afrika ist ja an sich nicht falsch. Doch Mein Café am Niger
wäre spezifischer und würde die Menschen in anderen Gegenden Afrikas nicht mehr
miteinbeziehen. Sie wären in ihrer afrikanischen Diversität respektiert.
Welcher Titel hat denn mehr Magie, Attraktivität und Poesie und ist in
nachhaltigerer Weise politisch korrekt? – Ich würde mich nicht wundern, wenn
angesichts der Dynamik gegenwärtiger Diskussionen diesen Text plötzlich eine
andere Überschrift ziert. On verra.
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© Nikolaus Wyss
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