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Wasserplausch in einem der Brunnen auf der Alamenda Central
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Aus Anlass
ihres Geburtstags vom 13. Juli der Schriftstellerin Milena Moser und ihrem aus
Mexiko stammenden Ehemann, dem Künstler Victor Mario Zaballa, herzlich
zugeeignet
Herrn Grüninger ging der Ruf voraus,
ein erfolgreicher Werbe- und Kampagnenfachmann zu sein. Er fuhr einen
silbergrauen Ro
80 der Marke Audi/NSU, eines der wenigen Serienfahrzeuge mit
Wankelmotor. Damals war noch nicht bekannt, dass es sich bei diesem Modell um
ein zum Scheitern verurteiltes, reparaturanfälliges Fahrzeug handelte. Es
repräsentierte vielmehr eine neue, vielversprechende Antriebstechnik und
verlieh den Besitzern den Glanz, fortschrittlicher und erfolgsverwöhnter
Gesinnung zu sein.
Als ich erfuhr, dass Herr Grüninger
im Auftrag des mexikanischen Tourismusministeriums in der Schweiz Mexiko-Wochen
veranstalten wollte, bewarb ich mich als Mitarbeiter. Frisch aus Lateinamerika
zurückgekehrt und mit leidlichen Spanischkenntnissen versehen, versprach ich
mir davon eine Möglichkeit, ohne den mühsamen Umweg über ein Studium ins
Werbegeschäft einsteigen zu können, um in wenigen Jahren selbst stolzer
Besitzer eines Ro 80 zu werden, vielleicht dann schon eines Nachfolgemodells,
eines Ro 85 zum Beispiel… Ich war von Anfang an vom Erfolg dieser Kampagne
überzeugt. Die eindrücklichen Olympischen Spiele von Mexico-City im Jahre 1968
waren damals bei allen noch in bester Erinnerung. Man hatte anfänglich den
Latinos die Durchführung eines so gigantischen Vorhabens nicht zugetraut.
Deshalb war der Respekt gross, als die Olympiade vor den Augen der ganzen Welt
zu einem fulminanten Erfolg wurde und allen bewies, dass Mexiko zweifellos zu
den Ländern gehörte, denen alles zuzutrauen ist.
Von der Vorzimmerdame vorgelassen,
versprach mir Señor Grüninger zwar ein mieses Honorar doch immerhin darin
eingebunden eine Reise nach Mexiko. Für mich Verlockung genug, den in Aussicht
gestellten Job anzunehmen.
Die Erinnerung an die mir
auferlegten Aufgaben lässt mich allerdings im Stich. Einzig der Einzug des Mariachi-Orchesters
ins Einkaufszentrum Glatt habe ich noch vor Augen mit seinen grellen
Trompetenstössen, den Riesensombreros und den glitzernden Anzügen. Es trieb
eine Gruppe von Folklore-Tänzerinnen vor sich her. Und bei den verschiedenen
offiziellen Dinner-Veranstaltungen mit all den Tacos und Tortillas beeindruckten
mich immer wieder die voll mit Haargel eingewirkten schwarzen Haare der
Abgesandten des mexikanischen Tourismusministeriums. Mir entging dabei nicht,
dass das Gel Spuren auf deren Kragen hinterliessen, und ich fragte mich, wie
viele Hemden sie wohl eingepackt haben mochten. Sie alle logierten im damaligen
Hotel Zürich hinter dem Landesmuseum an der Limmat. In Erinnerung bleibt mir
allerdings die Mitteilung Grüningers später beim Debriefing, dass das Budget
jetzt doch nicht für ein Flugticket nach Mexiko reichen würde. – Als Jahre
später ruchbar wurde, dass der Ro 80 mit seinem Motor grosse Probleme
verursache, bemächtigte mich eine gewisse Satisfaktion.
Das mögen jetzt gute 50 Jahre her
sein. Von Kolumbien herkommend befinde ich mich wieder einmal für eine Woche in
Mexico-City. Der Abstecher hierher hat bei mir schon fast Tradition. Diese
Megacity vermittelt mir ein urbanes Feeling, das ich in Bogotá zuweilen
schmerzlich vermisse. Hier gibt es U-Bahn-Linien, Doppelstock-Busse,
Strassenrestaurants, beeindruckende Museen und Kunstausstellungen, Strassen mit
weniger Löchern und mit üppigem und schattenspendendem Baumbestand, und hier
sind Schuhgrössen von 43 an aufwärts auch leichter zu finden, obwohl die
Mexikaner nicht unbedingt grösser sind als die Kolumbianer. Der Helikopter-Lärm
gehört zum städtischen Alltag: die Wolkenkratzer längs der Reforma, der
mexikanischen Version der Pariser «Champs-Elysées», verfügen zuoberst reihum
über Landeplätze.
Heute Nachmittag sitze ich auf einer
schattigen Bank in der Alameda Central, dem grossen, gut gepflegten und
mit vielen schönen Bäumen ausgestatteten Volkspark der Stadt. Aus dem Nichts
tauchten vorhin die paar Erinnerungen an Herrn Grüninger auf, die ich jetzt in
meinem Notizbuch festhalte. Um mich herum promenieren Familien und Liebespaare,
Rollbrettfahrer sausen vorbei, und Strassenwischer bemühen sich unentwegt,
Weggeworfenes und Blätter einzusammeln. Weiter vorn plantschen Kinder in den
diversen Brunnen und kreischen vor Glück. Gegen Abend werden dort ambulante
Diskotheken aufgestellt, aus deren Lautsprechern rhythmische Volksweisen
plärren. Im Handumdrehen verwandelt sich dann der Park zur vielgestaltigen
Tanzfläche.
Die Alameda Central wird ostwärts
umsäumt vom opulenten Palacio de Bellas Artes mit unterirdischer Parkgarage, im
Norden von der Avenida Hidalgo, die wegen der Bretterverschläge auf der anderen
Seite etwas unattraktiv wirkt, und im Süden von der Avenida Benito Juárez, die
weiter vorn auf das Revolutionsdenkmal zuläuft, hier aber mit Hotels und
Geschäften auftrumpft und Strassenmusiker anzieht.
Ich befinde mich in einer grünen
Oase des Friedens und der Erholung, die zuweilen aber auch Zufluchtsort wird,
wenn wieder einmal Demonstrierende auf ihrem Weg zum Zócalo, dem grossen,
zentralen Platz der Verfassung mit seiner riesigen Nationalflagge in der Mitte
und der imposanten Kathedrale auf der einen Seite, von der Polizei mit
Tränengas auseinandergetrieben werden. Dann kommen sie in den Park gerannt und versuchen,
an den Brunnen das Reizgas aus den Augen zu waschen. Das letzte Mal protestierten sie gegen das
Vergessen von 43 jungen Menschen, die schon vor Jahren spurlos aus dem Weg
geräumt worden sind. Regierung und Behörden scheinen bis zum heutigen Tage nicht
fähig oder willens, dieses unfassbare Massaker aufzuklären. Stecken sie mit der
skrupellosen Mafia unter einer Decke?
Im Wissen um solche Grausamkeiten,
und es gibt viele dieser Art in Mexiko, man kann in der lokalen Presse jeden
Tag von umgebrachten Journalisten und unliebsamen Politikern lesen, von
Drogenbanden, die ganze Stadtteile tyrannisieren, bekommt die Alameda eine
andere Färbung. Ist sie vielleicht nicht nur Zufluchtsort verfolgter
Demonstranten, sondern auch Erholungsort von Menschen, die eigentlich Dreck am
Stecken haben und hier im Park mit ihren Familien aber so tun, als sei alles
paletti?
Was weiss ich schon von diesem Mann
dort drüben, der liebevoll seinen zweijährigen, o-beinigen Knirps unter dem
Beifall der versammelten Familie spazieren führt? Was weiss ich schon von
dieser Frau dort hinten, die etwas nervös in ihrer Handtasche nestelt, um ihr
klingelndes Handy herauszufischen? Wer ruft sie an? Ihre Freundin? Oder
vielleicht doch ein Mafioso oder Zuhälter? Was ist mit diesen Polizisten hier,
die meine Ausweispapiere verlangen und sie erst wieder zurückgeben könnten,
wenn ihnen die Summe der Pesos, die ich in Aussicht stelle, angemessen scheint?
Plötzlich füllt sich dieser Park mit
Verdächtigen. Selbst ich stelle mich plötzlich unter Generalverdacht. Gebe ich
nicht lediglich vor, ein paar Zeilen in mein Notizbuch zu schreiben, während
ich eigentlich Ausschau halte nach einem hübschen Boy, den ich verführen
könnte? Und wenn wir uns dann im Hinterzimmer einer stinkigen Absteige
auskleiden, würde sich das Blatt wenden. Der Junge liesse verlauten, ich würde
mit Schwierigkeiten und Gefängnis zu rechnen haben, denn er sei noch
minderjährig, was sich aber lösen lasse, wenn ich ihm sofort eine ordentliche
Summe Geld aushändige. Und beim Verlassen des Hauses würde ich ausserdem
entdecken, dass mein Handy weg ist…
Wie würde ich vor diesem Hintergrund
heutzutage für die Schweiz Mexiko-Wochen gestalten? Erster Gedanke: ich rate
davon ab. Zweiter Gedanke: damit verrate ich aber meine Begeisterung für diese
Stadt, für dieses Land. Dritter Gedanke: die politisch-gesellschaftliche
Problematik müsste wenigstens ansatzweise auch zur Darstellung gebracht werden
– neben den feinen Tacos und den trompetenschmetternden Mariachis! Würde das
mexikanische Tourismusministerium dazu Hand bieten? – An der Benito Juárez,
also grad hinter mir, eröffnete kürzlich das Museum Memoria y
Tolerancia. Die obersten zwei Stockwerke sind dem Dritten Reich und
dem Holocaust gewidmet. Man sieht Filme aus jener Zeit, Militärparaden,
Göbbels, Hitler natürlich, ausgemergelte, geschundene Menschen in Konzentrationslagern,
dann Dokumente der Nürnberger Prozesse. Ein weiteres Stockwerk fasst in Fotos
und Texten die Gräueltaten zusammen, wie sie in Ruanda, Guatemala, Kambodscha,
Ex-Jugoslawien und an anderen Orten begangen wurden. Auf einem weiteren
Stockwerk schliesslich werden die Unrechtmässigkeiten von Mexiko thematisiert.
Allerdings, so scheint mir, mit Samthandschuhen, als ob sich die
Verantwortlichen einer gewissen Selbstzensur unterworfen und Tolerancia
gegenüber den Vergehen und Schandtaten im eigenen Land geübt hätten. Es gibt
zwar eine Wand, auf welcher einigen der wichtigen Persönlichkeiten, die im
Laufe der Zeit, umgebracht worden sind, gedacht wird, doch ans Herz, Mitleid
und Entsetzen geht das nicht. In Netflix-Serien erfährt man wesentlich mehr
dazu, selbst wenn nicht alles hundert Prozent historisch faktengerecht sein
mag.
Da scheint mir mein Kolumbien in der
Aufarbeitung seiner grausamen Bürgerkriegsvergangenheit einen Schritt weiter zu
sein, direkter und offener. Gegenwärtig finden Gerichtsprozesse gegen ehemalige
Guerillakämpfer und Paramilitärs statt, die ganze Landstriche terrorisiert und
die Bevölkerung massenweise umgebracht haben. Das Thema ist, neben der Strafe,
das der Vergebung (und die Vermeidung einer Vergeltung). Kann in Zukunft ein
Mörder im selben Dorf leben, wo er seine Untaten begangen hat? Wird damit für
die Einwohner das Mass der Toleranz nicht arg strapaziert? – Das Thema der
Toleranz sah ich in diesem Museum nahe der Alameda Central nicht einmal im
Ansatz dargestellt. Wie generiert man Toleranz? Was muss geschehen, dass sie
sich wirksam entfaltet und ein neues, zukunftsgerichtetes und von Misstrauen
gereinigtes Klima schafft? In Kolumbien lernte ich den Begriff der Inklusion kennen.
Er scheint mir für den anstehenden, notwendigen Friedensprozess geeigneter.
Beim Begriff der Toleranz kommt mir nämlich immer mein Vater in den Sinn, der
bei den Freimaurern Karriere gemacht hat. Er predigte unentwegt Toleranz,
zeigte sich aber – zumindest mir gegenüber – als sehr intolerant und
verurteilte jeden meiner Gedanken, der von seinen Überzeugungen abzuweichen
drohte. Der Tolerante sieht überdies keinen Grund, sich selbst zu hinterfragen.
Er muss lediglich den Atem anhalten und zulassen, dass es allenfalls
abweichende Lebensarten und Auffassungen gibt. Die Inklusion hingegen ist ein
gesamtgesellschaftlicher Prozess im Bewusstsein, dass darin alle erheblichen
Veränderungen unterworfen sind.
Jetzt nachtet es ein, und von Norden
her kündigen sich Gewitterwolken an. Ich halte mich für gut beraten, den Weg zu
meiner Unterkunft anzutreten. Als Ausländer, als Gringo, bin ich hier
spezieller Beobachtung unterworfen. Vor dem Zusammenpacken und Aufstehen will
ich mir nur noch notieren, dass es hier in Mexico-City stinkt. Sie haben die
Abwässer schlicht nicht im Griff. Selbst auf der Alameda Central treffen mich
immer wieder Schwaden dieses leidigen Gestanks. Daran mögen sich die
Einheimischen gewöhnt haben. Mich stört er aber, und wie. Meiner Meinung nach
müsste er auch Platz finden in einer Neuauflage der Mexiko-Wochen. Säuberlich
abgefüllt in Einmachgläsern.
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©Nikolaus Wyss
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