Hast du dich jemals geoutet?
Das Outing gehörte in den 60er-Jahren
des letzten Jahrhunderts noch nicht zum Repertoire homosexueller Praxis. Ich
gehörte zu denen, von denen man es annahm oder wusste, weil ich in
entsprechenden Kreisen verkehrte, mich mit Freunden umgab statt mit Freundinnen
oder allein blieb. Ich selbst hatte eher Mühe, unaufgefordert darüber zu reden.
Es gab aber immer wieder Momente, in denen jemand, der von meinen Neigungen
wusste, mich höflich fragte, ob es mir nichts ausmache, darüber zu sprechen,
sei es, weil er oder sie selbst davon betroffen war oder aus Neugier, weil er
oder sie es sich nicht vorstellen konnte, wie Homosexuelle es miteinander
treiben. Diese Initiativen nahm ich gerne an und sprach dann jeweils auch ohne
Hemmungen aus, was ich fühle und wie ich damit umgehe.
Trotzdem kein offizielles Outing?
Ich habe diesbezüglich nie eine
offizielle Verlautbarung gemacht, so wie es zum Beispiel seinerzeit der
Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit getan hat. Ich hatte auch nie eine solche
Bühne dafür, was mir durchaus entgegenkam. Einzig bei meiner Mutter sprach ich
einmal im Sinne einer Deklaration meine sexuellen Gefühle offen an. Daran
erinnere ich mich genau. Wir sassen auf dem Badewannenrand, weil ich gerade
Wasser einliess für ein Schaumbad, das dann aber wegen des langen Gesprächs
erkaltete.
Die grösste Sorge meiner Mutter
bestand darin, ob sie wegen ihres Erziehungsstils oder wegen der Abwesenheit
eines Vaters eventuell mitschuldig sein könnte an meiner sexuellen
Orientierung. Dabei konnte ich mir durchaus vorstellen – und das sagte ich ihr
damals –, auch mit einer Frau zusammenzuleben. Doch sie meinte, ich solle dies
einer Frau nie antun, was ich aus heutiger Sicht und im Wissen um die tausend
Varianten von Zusammenlebensformen etwas merkwürdig finde. Denn ich war damals
darauf aus, mir alle Möglichkeiten offenzuhalten. Das Ablegen eines
Bekenntnisses hätte ich als Einschränkung empfunden, als Festgenageltwerden –
nicht als Befreiung.
Dann bereitete dir wohl die Outing-Welle
von Rosa von Praunheim anfangs der 1970er-Jahre eher Mühe.
Ja, ich fühlte mich nicht
eingeladen, die Ziele seiner Schwulenherrschaft zu den meinen zu machen.
Bekannt in der Öffentlichkeit wurde er 1971 mit seinem qualitativ schlecht abgedrehten
Film Nicht der Homosexuelle ist pervers,
sondern die Situation, in der er lebt. In den darauffolgenden Jahren
stellte er Personen des öffentlichen Lebens bloss, die im Versteckten schwul
waren. Diese Aktionen sollten andere, die nicht offen zu ihren Gefühlen zustehen vermochten, ermutigen oder gar zwingen, sich zur eigenen Homosexualitätzu bekennen. Statt mich aber von Rosas spektakulären Aktionen in meinem eigenen
Werdegang unterstützt zu fühlen, gewann ich damals von ihm und seinen militanten
Gesinnungsgenossen eher das Bild einer aggressiven Zicken-Community, die
eifersüchtig darauf bedacht war, ohne Rücksicht auf Verluste und persönliche
Dramen andere Menschen für eigene Anliegen auszunützen. Das stiess mich ab. Die
wichtige, ja notwendige Dimension des politischen Anliegens, nämlich die
Homosexualität endlich aus dem Schatten eines kriminellen Vergehens zu lösen,
vermischte sich hier auf unglückliche Weise mit einem Bekenntnisdruck, der in
meinen Augen der Dynamik des Anliegens entgegenstand und potenzielle Kandidaten
wie mich eher vergelsterte. Einzig bei einflussreichen Personen, die öffentlich
gegen Schwule hetzten, obwohl sie selbst schwul waren, fand ich Spass an Rosas
Aktionen.
Du bliebst also lieber «in the
closet»?
Ich war fest überzeugt, dass mich
das Schwulsein nicht glücklich macht. Ich brachte es immer in Verbindung mit
unerfüllter Sehnsucht und unerwidertem Verlangen. Das hat einerseits mit der
damaligen gesamtgesellschaftlichen Situation zu tun, andrerseits aber auch mit
der persönlichen Gewissheit, dass mich nur eine eigene Familie glücklich machen
würde. Mich beeindruckte immer wieder, wenn Väter betonten, wie wichtig ihnen
ihre eigenen Kinder seien. So etwas hätte ich gerne auch einmal gesagt. Dieser
Stolz, ja, dieser Kult um die eigene Brut entschädigt wohl für sexuelle
Frustration, Stress mit der Ehefrau und berufliche Unzufriedenheit. Diese Art
von gesellschaftlicher Gratifikation hielt ich für attraktiv. Ich wollte nicht
akzeptieren, dass mir dies verwehrt sein sollte. Zur Überprüfung meiner
heterosexuellen Fähigkeiten übrigens – das klingt jetzt lächerlich, und ich
sage es nur so am Rande – ging ich in Frankfurt am Main, wo ich Ende der 1980er-Jahre
wohnte, des Öfteren ins Rotlichtviertel und traf mich dort mit Cecilia aus der
Karibik. Das hatte durchaus romantische Züge. In solchen Momenten war für mich
die Welt in Ordnung und stärkte mich im Glauben, irgendeinmal doch noch mit
einer Frau eine Familie zu gründen und glücklich zu sein.
Haben dich denn Frauen glücklicher
gemacht als Männer?
Im Sinne der Nachhaltigkeit und
meiner biederen, konventionellen Gesinnung schon. War ich des Nachts mit einer
Frau zusammen, so befand ich mich am darauffolgenden Tag auf Wolke sieben. Ich
spürte Kraft und erfuhr mich als Mann, der Frauen vögelt, und der darum den
übrigen Anforderungen des Alltags gewachsen ist. Verbrachte ich hingegen die
Nacht mit einem Mann, so stellte sich nach der Verabschiedung sofort wieder das
Verlangen nach einem weiteren Treffen ein. Es machte mich für den Rest des
Tages schwach und raubte mir alle Energie, die ich gerne für Produktiveres
gebraucht hätte.
Das tönt nach verpasstem Leben.
Naja, so weit würde ich nicht gehen.
Es geht ja eher darum, aus unveränderbaren Gegebenheiten etwas Sinnvolles zu
machen. Nur brauchte ich vielleicht etwas länger als der Durchschnitt, mit mir
selbst zurechtzukommen. Ich galt zwar immer als originell und innovativ. In
dieser Hinsicht sah man mir die emotionalen Lücken nicht an, auch wenn sie mich
stets begleiteten. In meinen Beziehungen zu Männern kaprizierte ich mich
folgerichtig auf familienähnliche Verhältnisse. Zunächst waren die Freunde so
etwas wie meine jüngeren Brüder. Später waren sie eine Art Ziehsöhne, und heute
würde ich mich gegenüber meinem kolumbianischen Partner als Schweizer Grossonkel
bezeichnen.
Du selbst hattest nie einen
väterlichen Freund?
Nein, nie. Als ich jung war,
stiessen mich ältere Männer ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich ein
jüngerer Mensch je mit einem reifen Mann einlassen kann. Entsprechend Angst hatte
ich, selbst alt zu werden und in eine Einsamkeitsfalle zu tappen, worunter
übrigens viele alternde Schwule leiden. Doch im Verlauf meines eigenen Lebens
erlebte ich den Vorteil, dass nicht alle so ticken wie ich. Gott sei Dank. Es
scheint, dass mir die heutige Onkelrolle ganz gut bekommt. Ein bisschen
inzestuös, auch wenn die Sexualität in den meisten Beziehungen zugunsten
anderer Schwerpunkte im Zusammensein beziehungsweise gemeinsamer Interessen nie
dominierte. Zum vaterähnlichen Familiengefühl gehört auch der Stolz auf die vielen
Verdankungen und Credits meiner Person in Doktor- und Masterarbeiten meiner «Söhne»
und «Neffen». So fand mein Name Eingang in einer nigerianischen, einer ghanaischen,
zwei indonesischen, einer malaysischen, zwei englischen und drei
kolumbianischen Hochschulbibliotheken.
Heutzutage können Schwule heiraten
oder sich verpartnern, sie können künstlich oder natürlich Kinder zeugen und
aufziehen und kommen somit einem «normal»-bürgerlichen Leben näher als noch zu
Zeiten, als du jung warst.
Ja, die Diversität explodiert in
unseren aufgeklärten, westlichen Gesellschaften geradezu. Für jede Variante
sexueller Identität gibt es heutzutage Fachwörter und Selbsthilfegruppen und
Anträge für Anerkennung und Legalisierung. Nur traue ich dieser Freiheit von
heute nicht so ganz. Sie scheint mir durch den sich abzeichnenden moralischen
Neokonservatismus in aller Welt gefährdet.
Globale Institutionen wie die Kirchen setzen auf Rückbesinnung und
Tradition und verbünden sich mit entsprechenden radikalen politischen Kräften.
Besonders deutlich sieht man dies in Afrika und Lateinamerika, nicht zuletzt
verursacht durch evangelikale Prediger und Missionare, die grösstenteils aus
den USA stammen. Es geht hier um Vorherrschaft. Gegen Schwule zu hetzen, ist in
bildungsschwachen Regionen ein probates Mittel, sich Macht zu sichern. Denn die
Schwulen sind keine Mehrheit, sie brauchen Verbündete, die dort schwer zu
finden sind. Indem sich eine satte Mehrheit gegen das «sündhafte Leben»
ausspricht, schlägt sie sich auf die sichere Seite. Damit kommt sie erst noch
in den Himmel. Auch im orthodoxen Osteuropa und im Islam ist diese Art von
Moral eine scharfe Waffe, und in China ist der familiäre und durch die Partei
sanktionierte Druck auf Schwule derart gross, dass viele unter diesem Zwang
heiraten oder emigrieren. Ich
habe also meine Zweifel, ob unter diesen grossräumigen Veränderungen die
Anerkennung sexueller Varianten aufrechterhalten werden kann.
So ein pessimistisches Schlusswort!
Kein Schlusswort. Nur eine Beobachtung,
vielleicht auch eine Rückbesinnung auf die Aktivitäten eines Rosa von
Praunheims und anderer Aktivisten von damals. Gerade unter diesen schleichenden
Veränderungen scheint es mir wichtiger denn je, auf die Normalität und
Daseinsberechtigung von Schwulen hinzuweisen und um deren Respektierung zu kämpfen.
Es darf nicht sein, dass meine Generation lediglich Nutzniesserin eines kurzen
Zeitfensters war, wo man sich eine eigene schwule Biografie zusammenstellen
konnte, während meine jungen «Neffen» wieder mit dem tiefen Mittelalter zu
kämpfen haben: von ihren Familien verstossen, von der Gesellschaft ausgegrenzt.
Je älter ich werde, umso reifer bin ich, mich auf diesen Kampf um
Chancengleichheit und Anerkennung einzulassen, sofern es mir die eigenen Kräfte
noch erlauben.
2 Kommentare:
Lieber Nikolaus,
danke Dir sehr für diesen wichtigen Beitrag. Ich kann mich gut wiederfinden in Deinen Reflektionen. Auch ich habe nie das Bedürfnis nach einem Coming Out gehabt und mich doch nie eingeschränkt gefühlt, musste mich nie selbst verleugnen. Das schliesst totale Offenheit nicht aus. Ich denke häufig, dass unser Drang heutzutage alles im Sinne einer Identität zu denken, im Sinne von Beknntnissen, auch die Homosexualität so schwierig weil exlusiv macht. Eine Praxis, eine Neigung etc die sind doch nicht per se Identitätsstiftend und unterscheidend, wir wollen uns doch auch gerade in Diversität zugehörig fühlen. Am wichtigsten finde ich aber Deinen Gedanken, dass wir kreativ sein können mit unseren Lebensformen und nicht einfach Schablonen übernehmen,- hetereosexuelle Schablonen oder welche auch immer. Ich finde diese Freiheit, über Altersgenzen hinweg, über die Paarbeziehung hinweg, über Kulturgrenzen hinweg, die finde ich ganz wichtig und die schliesst doch auch die Verbindlichkeit und das Verantwortungsgefühl nicht aus. Kurzum,- sei gegrüsst und bestärkt und hab Dank für Deine Gedanken, Lars
danke nikolaus für dieses ehrliche und weitsichtige statement!
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