Dienstag, 25. Juni 2024

Zu Tisch bei Not Vital

Foto und Video (unten): Jonathan Caron

 

Es war eine herzliche Begegnung nach einer geschätzter Ewigkeit. Wir kennen uns zwar schon seit bald 60 Jahren, sahen uns aber vor vielleicht fünfzehn Jahren das letzte Mal. Doch jetzt begrüssten wir uns, als ob seit dem letzten Treffen kaum ein Jahr vergangen wäre.

Er holte mich mit seinem weissen Landrover älteren Jahrgangs am Bahnhof von Scuol ab. Sofort waren wir in Gespräche verwickelt. An deren Inhalt vermag ich mich im Einzelnen nicht mehr zu erinnern: Es dürfte sich um familiäre Updates gehandelt haben, doch der bündnerische Tonfall von ihm, die Art, wie das Gespräch seinen Fortgang nahm, waren typisch für ihn: geprägt von Feststellungen, die in Fragen mündeten. Aus fast jedem seiner Sätze waren etwas Rätselhaftes, ein Staunen, eine Verwunderung oder reine Begeisterung herausspürbar, die er von mir entweder bestätigt oder aber widersprochen sehen wollte. Oft eröffnete Not ein Gesprächsfeld, indem er mich fragte, ob ich diese oder jene Person auch kenne. Auf diese Art hat das Eintauchen in Nots Universum schon immer begonnen.

Kurz vor dem Dorfeingang von Sent, dort, wo sein Park mit den begehbaren und nicht ungefährlichen Stegen, mit dem versenkbaren Haus und mit halsbrecherischen Skulpturen steil ins Tal hinunterführt, hielt er an und stellte fest, dass auf der Schattenseite noch viel Schnee liegt. Doch vielleicht wollte er mir nur in Erinnerung rufen, dass dieser Fleck Erde auch zu seinem ausgedehnten Unterengadiner Reich gehöre, als ob ich das hätte vergessen können. Natürlich weiss ich von seinem Schloss in Tarasp und von seinem Haus in Ardez, dem Sitz seiner Stiftung mit der wohl grössten Bibliothek von Büchern in rätoromanischer Sprache – und mit vielen Kunstwerken.

Sein Elternhaus bewohnt er mittlerweile allein, beherbergt allerdings grosszügig immer wieder viele Freunde. Seine Mutter Maria verstarb vor einigen Jahren in biblischem Alter. Sie nannte mich immer Clá, und ich hielt diese Namensgebung für eine Auszeichnung. Mittlerweile wurde aber das alte Engadiner Anwesen mit seinem schönen Holztäfer durch präzise designerische Interventionen etwas aufgemöbelt, und man kann sowohl an eleganten Türgriffen und Armaturen fürs Bad, an etwas unbequemen Stühlen als auch an raffiniert gesetzten Beleuchtungskörpern Nots gestalterische Hand erkennen. Im Untergeschoss erstreckt sich ein grosses Atelier für Skulpturen, Architekturmodelle und einen ausgeklügelten 3-D-Drucker, der bei meinem Besuch in gemächlichem Tempo das Modell einer Treppe vor sich her spritzte, die für einen neuen Saal bei den Salzburger Festspielen vorgesehen war. Dort durfte ich bei klassischer Musik (war es Bruckner?) auch seinen temporären Assistenten Jonathan Caron kennenlernen, einen gutaussehenden kanadischen Harvard-Absolventen mit Architekturdiplom und einem Praktikum bei Herzog & de Meuron. Nach Meinung von Not fast zu gescheit und zu gebildet, um selbst als Künstler zu reüssieren, denn dazu würden diesem jungen Mann, so behauptete er, eine gewisse Naivität und Unwissenheit fehlen. Not ist der Meinung, zu viele Überlegungen würden künstlerisches Schaffen eher bremsen. Doch ich befreundete mich gleich mit diesem Jonathan an, und im Verlauf meines Besuchs beschlossen wir, in näherer Zukunft gemeinsam Not Vitals Insel im chilenischen Teil Patagoniens zu besuchen, um dort den Sonnenuntergang zu feiern, der sich dem Besucher eröffnet, wenn er durch einen langen Tunnel zur Westseite mit dem steil abfallenden Felsen schreitet. Klar, es gäbe noch weitere Destinationen, um die vielen Wirkungsstätten des sein Leben lang nomadisierenden Nots aufzusuchen, auf den Philippinen zum Beispiel oder in Japan. Oder früher in Lucca oder am Broadway von New York City oder gar in Agadez, Niger, Afrika. Auch Rio de Janeiro wäre ein verlockendes Ziel, nicht so weit von mir entfernt. Dort lebt und arbeitet er einige Monate im Jahr in der früheren italienischen Botschaftsresidenz, einem Art-Deco-Gebäude, das daran erinnert, dass Rio einmal Hauptstadt Brasiliens war. - Und jetzt kommt mir in den Sinn, dass ich Not wohl das letzte Mal in Beijing getroffen hatte. Damals arbeitete und residierte er in einem mit Spiegelwänden ausgestatteten, dreistockhohen Atelier in der Nähe von Ai Weiweis Haus. In Erinnerung geblieben ist mir dort auch sein Goldenes Kalb (oder war es eine goldene Beijing-Duck?), das zwei Häuser weiter in den Ausstellungsräumlichkeiten der Galerie Meile in unerreichbarer Höhe hing. Wer wollte, konnte um es herumtanzen (und anhimmeln/begehren…)

Im Garten vor seinem Haus in Sent erhebt sich aus der Wiese ein bunkerartiges, mit Oberlichtern versehenes Gebäude, das Not für seine Malerei benützt. Dort stellte er gerade die Bilder zusammen, die in seinen nächsten Ausstellungen gezeigt werden sollen. Unvermittelt fragte er mich, ob dieses oder eher jenes Bild für die fragliche Galerie an der Rämistrasse in Zürich passe. Was sollte ich darauf schon antworten? – Ich entschied mich für das dunkelblaue, worauf er dann das andere, hellere wählte… Dann fuhren wir nach Ardez und machten dort einen Rundgang durch alle Räume des Hauses seiner Stiftung. Immer wieder standen wir vor Bildern grosser Meister. Not nahm stets mit den Werken, die er ja schon seit langem kennt, Kontakt auf, indem er staunend ganz nah auf sie zuging und seiner Begeisterung regelmässig mit «fantastisch» oder «unglaublich» Ausdruck verlieh. Mir gefiel das klassische chinesische Himmelbett, das von der Grösse her kaum ins zugewiesene Zimmer passte, am besten. Wie viele Bettstätten stehen ihm im Unterengadin für Übernachtungen überhaupt zur Verfügung? Später, oben bei der Besichtigung seines prächtigen Schlosses von Tarasp, entdeckte ich weitere Schlafzimmer, die bewohnt aussahen. Zahnbürsteli, Zahnpasta und Tücher jedenfalls lagen in den dazugehörigen Badezimmern in Gebrauchsnähe. Auf dem steilen Weg zum Schloss hinauf begegneten wir übrigens zwei wunderschönen mit schwarzen Punkten durchwirkten Schimmeln. Er flüsterte ihnen mit zärtlich klingender Stimme etwas zu. Hatte er nicht vor einiger Zeit die Stute (oder war es der Hengst?) in der nahen Schlosskapelle geheiratet? – Bei Not Vital verändern sich verrückte Dinge in selbstverständliche Realität. Mir fällt erst jetzt beim Schreiben dieser Zeilen auf, dass mein Bericht für manche, die mit diesem Künstler nicht so vertraut sind, etwas merkwürdig klingen mag.

Die Kuhfladen zum Beispiel. Auf seiner Reise nach Nepal im Jahre 1988, so beschreibt es Alma Zevi in ihrem dicken Buch "Not Vital - Sculpture", Skira-Verlag, musste er gerade miterleben, wie sich Einheimische durch getrockneten, glimmenden Kuhdung, den sie zum Heizen und Kochen verwendeten, schwere Brandwunden zuzogen. Doch es gab weit und breit kein Spital, welches die Verletzungen hätte kurieren können. So entstand die Idee, Kuhfladen zu sammeln und zu trocknen, diese in Bronze-Skulpturen zu giessen und deren Erlös für den Bau eines Spitals in Nepal zu verwenden, das in der Lage war, auch Brandwunden fachmännisch zu behandeln. Nach der Realisierung dieses Vorhabens halfen ihm weitere Kuhfladen auch bei der Finanzierung einer Grundschule für 500 Kindern in Agadez, Niger. Sogar unser Suppenküchen-Projekt "Sancocho-Lab" hier in Bogotá, das Jugendlichen helfen will, aus ihrem Leben etwas zu machen, gehört jetzt seit neuestem zu den Nutzniessern dieser künstlerisch-philanthropischen Aktion.  

Zurück in seinem Atelier fiel mir ein Objekt auf, das aussah wie ein Tisch mit Bank ohne Beine. Es lag etwas verloren am Boden, und ich wollte das Objekt mit Nots Hilfe auf seine mögliche Funktion hin ausprobieren. Also stiegen wir ins Objekt hinein und versuchten, es und uns selbst auf unseren Knien zu balancieren. Was für eine seltsame Erfahrung. Sie verlangte eine gewisse Koordination beim sich Hinsetzen und beim Wiederaufstehen. Jonathan, der wohl nach Ideen des Meisters den Knietisch konstruierte, machte ein Video von unserem Versuch, und ich stellte es Tage später, nichtsahnend, auf Instagram ins Netz. Und plötzlich trat ein, was der Traum aller Influencers ist: diese 16 Sekunden gingen ab durch die Decke. Bis dato haben weltweit 13 Millionen Menschen das Video angeschaut und über 450.000 Likes vergeben. Der Beitrag erhielt über 1000 Kommentare. Blöde zum Teil. Viele blieben bei Nots Schuhen hängen, andere warnten vor orthopädischen Komplikationen und fragten sich, wieso ausgerechnet zwei alte Männer so einen Blödsinn machen müssen. Andere wiederum fanden die Aktion einfach nur cool. - Diese Clicks führten mir vor Augen, was die Faszination von Not Vital ausmachen könnte, nämlich die Neuinterpretation von Alltäglichem, die Zuweisung einer Geschichte zu einem Gegenstand, das Zulassen von Fragen, die eigentlich keiner Antworten bedürfen, weil es sonst keine Kunst mehr wäre.


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© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 18. Juni 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 9)

 Januar 2024

    Der alte Mann wurde immer mal wieder für seinen nach wie vor kräftigen Haarwuchs belobigt, und er antwortete dann jeweils mit dem Hinweis, dass sein Vater schon in der Rekrutenschule eine Glatze gehabt hätte. Er aber habe zur Verhinderung desselben Schicksals schon als Bub Hirse gegessen und jeden Tag seinen Kopf mit einem teuren Haarwasser massiert.
    Doch seit einigen Jahren lebt er woanders. Dort ist sein Haarwasser unbekannt. Und trotzdem wächst sein Haar so, als ob er es noch immer mit diesem Produkt behandeln würde. Und jetzt fragt er sich, ob er sein Leben lang Geld für etwas ausgegeben hat, das er eigentlich gar nicht benötigt hätte.
 
April 2024
In der Panaderia BROT, Quinta Camacho
 
Im Bild das zweite Frühstück: als seniler Bettflüchtling stehe ich morgens zwischen fünf und halbsechs auf. Zu den Mittagsnachrichten von SRF (Zeitunterschied im Sommer: 7 Stunden) striegle ich die Katze (sie schnurrt dazu), gebe ihr Futter und bereite dann für mich selbst etwas Porridge zu mit einem geraffelten Apfel und dem Geschlabber einer Granadilla vermischt. Dazu Tee und Lutein in Form einer Tablette zur Eindämmung meiner Makuladegeneration. Zeitungslektüre und anschließend allerlei Verrichtungen, bis im Radio das Altersquiz „Dreivonfünf“ vorbei ist und das Haus langsam erwacht. - später, sehr viel später und nach einer Dusche Morgenspaziergang zur Bäckerei Brot, die tatsächlich so heisst. Die Damen dort kennen mich, ich muss gar nichts bestellen. Das Bild zeigt, was mir automatisch aufgetischt wird für 16.450 COP (ca 4 Franken, je nach Tageskurs). Das leckere, angewärmte und vor allem knusprige Croissant lässt mich vergessen, dass ich eigentlich ein paar Kilos abnehmen möchte. Und dort lese ich dann, was das Zeugs hält. Momentan bin ich an einer Geschichte über die Unabhängigkeitsbewegung von Indonesien mit dem Titel Revolusi. Autor ist der belgische Historiker David Van Reybrouck, der seinerzeit eine spannende, wenn auch niederschmetternde Geschichte über den Kongo verfasst hat. Seine Erzählweise ist faszinierend, eine Mischung aus Oral History-Nacherzählungen (er sucht meist uralte Zeitzeugen auf, die wiederum von ihren Großeltern erzählen, was dann eine Zeitspanne von weit über 100 Jahre umfassen kann) und saftig vorgetragenen hard facts und Dokumenten. Sein Buch vermittelt mir einen Einblick in die Historie einer Weltgegend, die ich zwar seinerzeit bereist habe, deren Werdung und Platzierung auf der politischen Weltbühne mir jedoch bis jetzt verschlossen geblieben ist. Jetzt aber gewinne ich eine Ahnung davon, was die Holländer über die Jahrhunderte und was während des Zweiten Weltkrieges die Japaner diesem Inselreich angetan haben, und wie grausam und blutrünstig die Indonesier selbst ihre Unabhängigkeit erstritten haben. In einem schon fast trancenähnlichen Zustand verlasse ich jeweils eine Stunde später das Brot und kaufe im Supermarkt gegenüber den fürs Mittagessen noch benötigten Salat und ev noch ein paar Rollen Toilettenpapier ein (ab zwei Gästen bei uns ist der Verbrauch signifikant).
 
Nussknacker in HongKong

 
     Damals war die Stadt HongKong noch eine Hoffnungsträgerin, pflegte demokratische Rechte und hielt Distanz zu Festland-China. Ich behalte frühere Begegnungen dort an Kongressen, Kunstausstellungen und privaten Treffen in bester Erinnerung. Jetzt allerdings verspüre ich keine Lust mehr, nochmals dorthin zu reisen.
    Die exotischste meiner vielen Begegnungen war wohl, als ich in den Nullerjahren in einer Bar einen jungen Mann kennenlernte, der absoluter Falco-Narr war. Er arbeitete tagsüber als Klempner und fuhr mit seinem Motorrad zu seiner Kundschaft, um Wasserschäden zu beheben und tropfende Wasserhähne zu flicken. Abends aber legte er bei sich in seinem engen Zimmer irgendwo in Kowloon Falco-CDs auf. Er kannte alle seine Songs auswendig und sang sie mir, vermutlich ohne ein Wort davon zu verstehen, vor. Sein chinesisch eingefärbtes Nachsingen der Spur nach war köstlich, wobei mir Falcos Originalösterreichisch genauso viel Mühe bereitet hätte. Doch mich rührte seine Fixierung auf diesen österreichischen Popstar, und beim „Der Kommissar geht um“ und bei „Rock Me Amadeus“ summte ich sogar mit und legte mit meinen Kenntnissen über Mozart nach, denn von ihm wusste er eigentlich nichts. Er wusste aber, dass Falco tragisch ums Leben kam, und er meinte, gerade deshalb müsse man dessen Erbe am Leben erhalten.
    Ein anderes westliches Erbe wurde damals in den grossen Malls von HongKong gepflegt. Klassische Musik, automatisch auf einem Flügel dargebracht. Im Gegensatz zum Falco-Fan stimmte mich diese Art von Musikpraxis aber eher traurig. Wenn doch wenigstens ein paar Ballerinen dazu im Tütü getanzt hätten! Wäre auch ein spannenderes Video geworden also dieses hier. So aber zerlief in der grossen Durchgangshalle dieser Mall die schwächelnde Interpretation dieser wunderbaren Komposition Tschaikowskis wie lauwarmer Brie…
 
 
Musik für einen Gast 
 
    Eine Trouvaille: Facebook-Freundin Claudia Bissig-Schuler schickt mir diesen Link zu. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, je in dieser Kult-Radiosendung "Musik für einen Gast" aufgetreten zu sein. Und jetzt dies: Fernseh-Legende Heidi Abel im Gespräch mit mir. Wir schreiben 1982. Beim Wiederhören fällt mir auf, dass gewisse Narrative über mein Leben bis heute Bestand haben, und die damals ausgewählte Musik berührt mich auch heute noch. Bin ich also seither stehen geblieben? Wie sähe meine Musikauswahl heute aus? Die Rolling Stones zum Beispiel sind ja immer noch zugange, aber ich höre mir ihre neueren Songs nicht mehr an. Also doch kleine Verschiebungen und Veränderungen im Laufe meines Lebens...
    Es war damals die Zeit, als Walter Keller und ich die Zeitschrift "Der Alltag - Sensationsblatt des Gewöhnlichen" herausbrachten und ich Führungen durchs Quartier Schwamendingen organisierte. So werde ich plötzlich mit einem längst vergangenen und abgelegten Lebensabschnitt konfrontiert, der so weit weg ist und doch so nah.            Vielen Dank, Claudia. Und zum Schluss wieder meine kleine Eitelkeit: Eigentlich schreibt sich mein Vorname mit einem O. Also Nikolaus... Und noch dies: im Gespräch räsonierte ich, dass ich wohl meinen Lebensabend nicht in Lateinamerika verbringen werde. Jetzt aber verlebe ich frischfröhlich seit sieben Jahren meinen Lebensabend wieder in Kolumbien. Mittlerweile würde ich mir bei der Musikauswahl auch einen Salsa wünschen. 
 
Katzenküsse
 

    Der SoziologeNorbert Elias (1897-1990) mit seinem Standardwerk «Der Prozess derZivilisation» und mit anderen seiner Publikationen gehörte zu einem meiner wichtigsten «Influencers» während meiner Studienzeit. Ich bewunderte seine Denkweise, die Art seiner Schlussfolgerungen, seine erwählte Sprache. So war es nicht weiter verwunderlich, dass ich ihn kennenlernen wollte, was mir Ende der 70er Jahre mit einer Reise nach Frankfurt am Main auch gelang, wo er an der dortigen Universität eine Zeitlang als Gastprofessor wirkte. Wir führten in einem Café, wo er sich auch mit Studierenden zu treffen pflegte, ein ausgedehntes Gespräch, bei welchem er mir auch verriet, dass er täglich schwimmen gehe. Und auf meine Frage, ob es ihn reue, keine Familie gegründet zu haben, meinte er, dazu einfach keine Zeit gefunden zu haben (auf dieselbe Frage pflegte ich früher zu antworten, das Schicksal hätte es anders mit mir gewollt). 
    In Frankfurt machte ich auch ein paar Fotos von ihm, die ich für ein Porträt über ihn verwenden wollte. Doch der Text missriet mir gründlich. Ich kam wohl über meine Schwärmerei und meine Bewunderung für sein Schaffen nicht hinaus, blieb heillos stecken in der Rolle eines unkritischen Followers. Der zuständige Redaktor jedenfalls lehnte meinen Artikel rundwegs ab und empfahl mir, das Thema bleiben zu lassen.

    Während der Text irgendwann aus meinem Blickfeld entschwand, begleiten mich die Fotos bis heute. Sie treten in meiner Bilderkiste in regelmässigen Abständen an die Oberfläche, so auch diesmal, wo Cual, unsere Katze, sie entdeckte und abzulecken begann. Ich versuchte ihr zu erklären, sie sei mit ihren Katzenküssen gerade dabei, diesem grossen Denken ihre Referenz zu erweisen. Ihr aber schmeckte wohl einfach das chemisch durchwirkte Fotopapier. – Ich weiss nicht, ob Elias Katzen mochte. Dies zu fragen hatte ich seinerzeit vergessen.

 

Trittligasse 

Die Trittligasse ohne Trittli. Der Schock meines heutigen Spaziergangs auf den Spuren meiner Vergangenheit in der Zürcher Altstadt. Klar, sie werden die Trittli wieder einsetzen, wenn die Tiefbauarbeiten fertig sind. Und doch: so nackt kam mir die Gasse vor. Was Treppen alles bewirken können!

    Hier unten an der Ecke übrigens küsste ich zum ersten Mal ein Mädchen. Ich glaube, es hiess zum Nachnamen Niesper, Vorname vergessen. Christiane? Beim Küssen dachte ich, aha, so fühlt sich das also an. Die Lust hingegen hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich passierte bei ihr Ähnliches: Fortsetzung gab es jedenfalls keine. Doch die Ecke bleibt als Erinnerungsort bestehen, ist aufgeladen mit diesem initialen Augenblick, verkörpert die Basis aller weiteren Küsse, die später durchaus auch als lustvolle Erlebnisse verbucht werden konnten, als zuweilen leidenschaftlich-süchtigmachend sogar, bis hin, Jahrzehnte später, zur Erfahrung mit Max, dass man auch bei ungespültem Mund und ungeputzten Zähnen lustvoll küssen kann. Man muss einfach ganz nah dran bleiben und der Nase keine Gelegenheit geben, sich da reinzumischen…

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©Nikolaus Wyss

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