Freitag, 13. Juni 2025

Bologna! - Bologna? - Bologna...


Stadtbesichtigung mit Erinnerungen an die Bologna-Reform

Erster Tag

Ankunft Bologna. Nach rasanter Zugsfahrt im Frecciarossa 9641 und fast pünktlicher Ankunft im düsteren Bahnhof von Bologna fuhren wir mit dem freundlich chauffierten Taxi (der Fahrer fuhr dasselbe Modell, wie ich eines in Bogotá habe: einen Kia Niro mit Hybridantrieb nämlich. Genug Stoff, sich auf dem Weg über die guten und weniger guten Eigenschaften dieses Fahrzeugtyps zu unterhalten…) stracks zu unserer vorgebuchten Bleibe an der Via Santa Caterina 69 im Viertel Zaragoza. Alessandro, ein gesetzter Herr, der uns dort empfing, fragte sofort, wieso wir ganze 11 Tage hierbleiben wollen, und ich antwortete ihm, ich sei zum Abbau meines Bologna-Traumas hierhergekommen. Natürlich verstand er mich nicht auf Anhieb, und ich erklärte ihm darauf, ich hätte an unserer Hochschule die Bologna-Reform durchsetzen müssen und dabei einige Blessuren erlitten. Bologna begleitete mich damals fast täglich und bekam durch den Widerstrand unseres Lehrkörpers einen ziemlich schlechten Ruf. Das fand ich gegenüber der Stadt etwas unfair, und ich entschloss mich, sie unbesehen ihres geschädigten Images in der Bildungslandschaft einmal persönlich kennenzulernen.

Hier nun sind wir also. Die paar Einkäufe für die kommenden Frühstücke waren schnell getätigt (Eier, Schinken, Käse, Milch, Butter, Brot, Konfitüre und ein paar Früchte), und müde, wie wir waren, entschlossen wir uns, bald schon in nächster Nachbarschaft eine unscheinbare Trattoria aufzusuchen, welche Dank unseres Hungers durchaus attraktiv schien. Sie hiess Amadeo. Wir waren die ersten dort, denn vor 20 Uhr wird in Bologna kaum diniert, wie wir feststellten konnten, denn eine Stunde später war das Lokal gut besetzt, während wir schon beim Tiramisu waren.

Normalerweise schiesst mein Begleiter von jeder Speise, die vor ihm auf dem Teller landet, ein Foto, um zu Hause berichten zu können, wie appetitlich sie ausgesehen hat. Hier aber blieb das Handy in der Tasche, denn was aufgetischt wurde, war kein Bild wert. Seltsam nur, dass wir auf unserer Reise bis dato kaum je besser gegessen haben. So unscheinbar das kalte Plättli zu Anfang und später die Lasagne bzw. die Saltimbocca, so harmonisch ausgewogen der Geschmack. Ein Wunder italienisch-schlichter Zubereitungsart, welche den paar Zutaten das notwendige Vertrauen schenkt, das sie verdienen. Ohne Firlefanz: eine Zehn auf der Skala von eins bis zehn.

Zweiter Tag

Meinen Leuten in Kolumbien, die ihre Pasta gerne flutschig-butterweich bis total verkocht essen, muss ich wohl erklären, was in Bologna al dente heisst. Ich weiss dann nicht, ob sie sich danach noch nach einem Aufenthalt hierher sehnen. Hier ist die Pasta bissfest. Selbst ich muss mich noch ein bisschen daran gewöhnen. 1-2 Minuten länger im Kochwasser würde ich ihr gerne zugestehen. Aber der Eigensinn der Emilia Romagna besteht eben darin, nicht den Gewohnheiten und Erwartungen Anderskauender zu entsprechen, sondern die Pasta so aufzutragen, dass man nachher weiss, wo man sich befindet. In Bologna eben, der Stadt mit der ältesten Universität Europas. Dort lässt man sich nicht dreinreden, was eine gute Pasta ausmacht. Schliesslich haben hier Grössen wie Umberto Eco, Paracelsus, Nicolaus Copernicus, Pier Paolo Pasolini und viele andere als Studierende oder als Gelehrte gewirkt und halbgare Pasta gegessen. Die Frage ist nur, ob sie wegen der harten Pasta oder ihr zum Trotz so gescheit und gelehrt geworden sind. Dieses Rätsel wird wohl nie endgültig gelöst werden, Tatsache aber ist, dass hier eine gewisse Solidarität herrscht, wann die Pasta al dente ist in Nicht-Übereinstimmung mit dem Rest der Welt. Oder, kommt mir grad auch noch in den Sinn: vielleicht hatten sie früher einfach zu fest Hunger und waren dementsprechend zu ungeduldig, um zu warten, bis die Pasta weich ist.

Gestern besuchten wir die Biblioteca Comunale dell‘ Archiginnasio im Zentrum der Stadt, worin diese berühmte und ehrwürdige Bildungsinstitution während über 300 Jahren ihre akademische Wirkung entfaltete (jetzt ist dort die Stadtbibliothek untergebracht). Ein besonderes Schauvergnügen war natürlich der Seziersaal, das teatro anatomico, wo man vor Studierenden, die von den Rängen aus zuschauten, auf dem Seziertisch Leichen auseinandernahm. Was mir auch sofort auffiel, waren die vielen Gedenkkacheln in den Gängen, die Muscheln gleich an den Wänden klebten und an beliebte Professorinnen und Professoren erinnerten. Laut ChatGPT war die Universität zu früheren Zeiten vom Wissensdurst der Studierenden getrieben. Diese sagten, welche Vorlesungen und Themen jetzt angesagt sind, sie wählten zum Teil auch ihre Lehrmeister selbst aus. Und zum Dank für die gute Lehr- und Forschungstätigkeit klebten sie dann diese Erinnerungsmuscheln an die Wand und begründeten auch, wieso ihnen der eine oder die andere besonders gefiel. Die Worte „brillant“, „wortgewaltig“, „eindrücklich“ kamen zur Begründung oft vor. Der Ehrgeiz der Professoren bestand wohl darin, mit einer solchen Gedenkmuschel verewigt zu werden und gaben entsprechend Gas. Heute hingegen wird Qualitätsmanagement betrieben, jeder Kurs wird in einem Rating-Verfahren beurteilt (auf einer Skala von sagen wir 1-10 oder 1-6), kein Gelehrter schafft es heute auf eine Kachel. Darüber aber später, dann, wenn ich mich an meinem Bologna-Reform-Trauma abarbeite. Zuerst muss ich mich an die bissfesten Taglatelle gewöhnen.

Dritter Tag

Es dürfte anfangs der Nullerjahre gewesen sein, als die Bologna-Reformwelle bis nach Luzern schwappte. Wir waren damals schon vollauf damit beschäftigt, unsere Kunstschule das erste Mal als Hochschule akkreditieren zu lassen mit Fremd- und Selbstevaluation. Wir lasen entsprechende Dokumente und nahmen auch an Weiterbildungsveranstaltungen teil, um dem Wandel gewachsen zu sein, ja, darin so gut wie möglich abzuschneiden. Es gab regelmässig Versammlungen mit der ganzen Belegschaft. Es kam auch eine Menge Trauerarbeit auf uns zu, denn in Zukunft sollte nicht mehr nur die Begabung über die Aufnahme der Studierenden entscheiden, es brauchte zusätzlich auch noch den Nachweis eines Matur- oder Berufsmaturabschlusses und dazu ein Jahr Berufspraxis. Dazu muss man wissen, dass viele Lehrerinnen und Lehrer an unserer Schule selbst nicht über die entsprechenden Qualifikationen verfügten, sondern oft seit Jahrzehnten «sur dossier» ihre Lehrtätigkeit verrichteten und jetzt plötzlich vor Studierenden stehen mussten, welche einen wesentlich grösseren Schulsack mitbrachten, als sie selber ihr Lebtag mit sich trugen. Es gab erhebliche Zweifel, ob diese «Intellektuellen» wirklich auch über ein künstlerisch-gestalterisches Talent verfügten. Noch schlimmer: Begabte und Talentierte ohne ordentliche Schulabschlusspapiere hatten es von jetzt weg noch schwerer, bei uns unterzukommen. Es gab für sie zwar die Ausnahmeregelung „sur dossier“, das allerdings das Gesamtsystem der Hochschulanforderungen nicht durcheinanderbringen durfte. Wir betraten also auf breitester Front Neuland und lösten entsprechende Verunsicherung aus.

Und inmitten dieses Change-Prozesses, wie man sowas heutzutage nennt, kündigte sich das Bologna-System an mit seiner Forderung, die Studiengänge und -abschlüsse international vergleichbar zu machen, damit reisefreudigen Studierenden zeitverlustlos Austauschsemester ermöglicht werden konnten. Mit dem Erwerb von Credit-Punkten sollten die Studienleistungen pro Semester sichtbar werden.

Es gab Tage, an denen ich mich etwas überfordert fühlte. Nicht dass ich die Absicht des Bologna-Systems nicht verstanden hätte. Es fehlte mir und meinen Mitstreitern aber zuweilen an der Überzeugung und am Glauben, ob Bologna für die Künste wirklich das Gelbe vom Ei sei. Die Modularisierung der Studiengänge in berechenbare Einheiten setzt einen Typus von Studierenden voraus, der mit sich so etwas auch machen lässt. Dabei hatten wir doch besonders Freude an Studis, die sich eben nicht den curricularen Vorgaben entlang zum Bachelor und Master hangelten, sondern an solchen, die, getrieben von Eigensinn und Hang zum Besonderen, willentlich von unseren Lehrangeboten abwichen und ihren eigenen Weg suchten.

Es muss an einem dieser Tage gewesen sein, an welchem ich wieder einmal mit zwei Seelen in der Brust meine Arbeit versah. Wir hatten zu dieser Zeit den Ausnahmeprofessor Lucius Burckhardt von der Gesamthochschule Kassel für ein Referat zu Gast (eines seiner Bücher trägt den Titel «Design ist unsichtbar»), und beim gemeinsamen Nachtessen, zusammen mit seiner Gattin Annemarie, klönte ich den beiden vermutlich etwas von der Schwierigkeit ins Gilet, die uns alle hier in Luzern mit dieser Bologna-Reform umtrieb. Ich war offiziell Vollstrecker von Vorgaben von ganz oben, gleichzeitig aber Sympathisant für jede Art von Anarchie an unserer Schule. Burckhardt hörte mir eine Weile zu und meinte dann trocken, er würde am liebsten einer Hochschule vorstehen, bei welcher zu Beginn des Studiums schon mal alle notwendigen Diplome und Studienabschlüsse ausgehändigt würden. «Und dann würden diejenigen, die noch mochten, mit der Arbeit beginnen. Ich glaube, eine solche freie Hochschule stünde an Produktion von Wissen und Lehrerfolgen besser da als jede durchsystematisierte Hochschule.»

Natürlich waren solche Überlegungen zur Lösung unserer Probleme nicht geeignet. Aber irgendwo löste Burckhardts Konzept bei mir einen gewissen Überdruck, nämlich dafür verantwortlich sein zu müssen, was aus einem Studierenden einmal werden wird. Angebote ja, doch die Lernbiografie jedes einzelnen ist immer noch wichtiger als ein verordneter Studiengang. Ich erinnerte mich dabei an mein eigenes Studium Jahrzehnte zuvor. Am meisten lernte ich in Kneipen und auf Reisen, im Kontakt mit interessanten Menschen, auch mit solchen, die nicht meine Wellenlänge hatten. In diesem merkwürdigen biografischen Gemisch wurde ich zu dem, was ich noch heute bin, und auf diesem Weg war ich auch mit gespaltenem Herzen fast zwölf Jahre Rektor einer Kunsthochschule.

So viel für heute aus Bologna. Es ist Pfingstsonntag und heiss. Die Abwaschmaschine läuft. Um das Netz nicht zu überlasten, haben wir während dieses Vorgangs die Klimaanlage abgeschaltet. Bald geht es zu einem Abendspaziergang mit dem frisch erworbenen Heiligen Geist über uns.

Professor Burckhardt übrigens wäre dieses Jahr 100 geworden. Ende Juni gibt es für ihn in Kassel eine Convention, organisiert von einem seiner Schüler, Prof. Martin Schmitz. Auch ich stehe im Programm und werde über meine Schwamendinger Führungen sprechen, die als leuchtendes Beispiel Aufnahme in die Spaziergangswissenschaften, der Promenadologie, gefunden hat. Auch so eine Idee von Burckhardt.

Die übrigen Tage

Gesagt ist gesagt. Getan ist getan. Ich bin nach Bologna gereist, um diese Stadt von meinen Erfahrungen mit der Bologna-Reform zu lösen. Ich glaube, mir ist das gelungen. Ich habe eine Stadt vorgefunden, für welche die Bologna-Reform nicht mehr als ein Vogelschiss ist. So werden die Verhältnisse wieder etwas zurechtgerückt. Hier haben die Etrusker und die Kelten schon gewirkt, und alles weitere, was später mit der Geschichte Italiens irgendwie im Zusammenhang steht, hat hier seinen Niederschlag gefunden. Ein Auf und Ab von Generationen, Völkerschaften, Herrschaften, Einflüssen, Kulturen, Kriegen und Hoffnungen, schön, klassisch und auch etwas langweilig aneinandergereiht im Museo Civico Archeologico di Bologna. Vielleicht gibt es hier dereinst auch eine kleine Sektion zur Bologna-Reform mit einem Gruppenfoto der Kultusminister Europas...

Die Bologna-Reform wurde ja nicht mit den Erfahrungen und Bedingungen eines künstlerischen Studiums generiert, sondern für Fächer wie Betriebswirtschaft und Technik. Die Tragik der Bologna-Reform liegt wohl eher in den Verrenkungen der Kunstausbildungen, sich diesem System angepasst haben zu müssen, und in der Einsicht, dass die Künste es verpasst haben, bei der Bologna-Reform eine signifikante Rolle zu spielen. Gleichwohl sind mit der Bologna-Reform seither schon Kohorten von MusikerInnen, DesignerInnen, Cineasten, GrafikerInnen, KünstlerInnen und TänzerInnen auf den freien Markt entlassen worden, wo sie sich, so beobachte ich, ebensogut metzgen wie Generationen vor ihnen.

Ich habe nur die Anfangszeiten der Bologna-Reform miterlebt, die in unseren Disziplinen eher als Verlust empfunden wurde. Und ich erlebte mich in meiner Position als Rektor in der zwiespältigen Lage, die Bologna-Reform als Chance preisen zu müssen, als Herausforderung, sich aus der Komfortzone herauszubegeben und neue Erfahrungen zu machen, so wie unsere Lehrkräfte die Studierenden seit je schon angetrieben haben, ihre eigene Komfortzone zu verlassen. Jetzt traf es einfach das Fach als ganzes, eine ganze Institution.   

Im fraglichen archäologischen Museum gibt es übrigens zur Zeit eine Spezialausstellung zu Che Guevara. Der sah ja sowas von gut aus mit seinen 21 Jahren, als er als Medizinstudent, zusammen mit seinem Freund Alberto Granado auf einem Norton 18 Motorrad, genannt Poderosa II, durch Lateinamerika knatterte und sein Auge für schlimme soziale, revolutionsträchtige Zustände schärfte. Reich dokumentiert und mit ausserordentlich gekonntem Einsatz von neuen und interaktiven Medien wird hier das Bild eines werdenden und schliesslich an den real existierenden Verhätnissen gescheiterten Revolutionärs gezeichnet, eines Comandante, der alles auf einmal und alles zentral kontrolliert haben wollte, und dessen Vorbild Stalin war. Che vertrat die Idee eines umfassenden und rettenden kommunistischen Systems, und man sei mir bitte nicht böse, als mir irgendwann beim Ausstellungsbesuch die Bologna-Reform in den Sinn kam, die alle Studierenden glücklich zu machen versprach, weil sie ganz Europa als Bildungsspielwiese verstanden haben wollte, ungeachtet den Eigenheiten, die jede grosse Bildungsinstitution aufweist und sie dafür auch speziell macht.

Gleichentags stattete ich auch dem Museo per laMemoria di Ustica einen Besuch ab. Dieses umfasst eine Halle, in welcher die im Meer in der Nähe der Insel Ustica aufgefundenen Flugzeugteile der am 27. Juni 1980 abgestürzten DC-9 der Fluggesellschaft Itavia wieder halbwegs zu einem Flugzeugwrack zusammengesetzt worden sind. Die Tragödie des Unfalls mit 81 Passagieren, davon 13 Kinder und vier Besatzungsmitglieder, besteht nicht zuletzt auch darin, als über die Ursachen des Absturzes bis heute Unklarheit herrscht. Politiker und Armee sperrten sich gegen jede Untersuchung, die darauf abzielte, einen Raketenbeschuss nachzuweisen. Nach Bologna, wo die Unglücksmaschine mit Destination Palermo damals startete, ist also an ihrer Stelle ein Denkmal zurückgekehrt, künstlerisch-gestalterisch verfeinert und schlicht inszeniert von Christian Boltanski. – Mich hat diese Installation sehr beeindruckt. Für jeden Verunglückten glimmt jetzt über dem Wrack eine Lampe, einmal stärker, einmal schwächer, und in Kisten neben dem Wrack, den neugierigen Blicken des Besuchers entzogen, werden die gefundenen Habseligkeiten der verunglückten Passagieren aufbewahrt.


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Sonntag, 8. Juni 2025

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 14)

7. März 2025
 
Laure Wyss, Redaktorin beim Tages-Anzeiger Magazin   
 
Gut gemeint und knapp daneben. Vor lauter feministischer Begeisterung über ihren Fund, die journalistischen Verdienste meiner Mutter etwas beleuchten zu können, küren die Gesprächsteilnehmerinnen dieses durchaus hörenswerten Podcasts Laure Wyss 23 Jahre nach ihrem Tod zur ersten CHEF-Redaktorin des Tages-Anzeiger Magazin, was durchaus nicht der Fall war. Ja, sie verdiente signifikant weniger als ihre männlichen Kollegen. Ich behaupte sogar, das Verdienst meiner Mutter wird dadurch eher noch grösser. Aus der Position eines „normalen“ Redaktionsmitglieds derart Einfluss auf ein Blatt auszuüben, wie sie es tat, hebt das Durchsetzungsvermögen und die Persönlichkeit dieser Frau eher noch mehr hervor. Doch das ist eben ein anderes Narrativ als dasjenige einer vermeintlichen Chefredaktorin, die Kraft ihres Amtes hätte bestimmen können, was im Blatt erscheint.
Den obigen Text veröffentlichte ich mit Link auf den Podcast auf meiner facebook-Timeline, was viele Reaktionen hervorrief. Ich wurde aufmerksam gemacht, dass auf Wikipedia stehe, dass Laure Wyss die Redaktion des TAM geleitet habe, was ich dann so beantwortet habe:
"Ich werde grad aufmerksam gemacht, dass Wikipedia schreibt, dass Laure Wyss das Magazin geleitet habe. Leider ist diese Bemerkung nicht ganz zutreffend. Der erste Chefredaktor des Magazins hiess Peter Frey. Er gründete und leitete zusammen mit dem Team, dem auch Laure Wyss angehörte, das Magazin des Tages-Anzeigers. Es spricht für Peter Frey und sein Team, dass sie feministische Standpunkte förderten und in der Person von Laure Wyss die entsprechende Repräsentantin hatten. Damals, scheint mir, war die Organisationsform dieser Wochenendbeilage wenig hierarchisch geprägt und unter dem Einfluss der 68er Bewegung mit kollektiver Verantwortung versehen. In diesem Sinn war der CHEF-Redaktor nicht Chef sondern eher Moderator und der Verbindungsmann zur oberen Hierarchiestufe. Wie das heute ist, kann ich nicht sagen, ich habe mich 1991 vom Journalismus verabschiedet (wurde als Mitarbeiter dieses Blattes von 1998-1991 vom damaligen CHEF-Redaktor des Magazins, René Bortolani, fristlos gefeuert), lese hier aber in Bogotá noch unregelmässig die online-Ausgabe des Tages-Anzeigers."
 
27. April 2025

 Schönheits- und Anpassungschirurgie ist hier in Kolumbien ein blühendes Geschäft. Veränderungswillige kommen aus ganz Lateinamerika hierher, um ihre schlaffen Brüste, schmalen Penisse und freudlosen Hintern aufzupimpen - alles muss anders aussehen als es ist. In meiner Umgebung haben einige schon ihre Nasen korrigiert, andere haben es noch vor. Ich fühle mich deshalb aufgefordert zu überlegen, was ich alternativ mit meiner real existierenden Nase noch alles anstellen könnte. Derzeit übe ich einige Nasenformen. Heute zum Beispiel den Pippi Langstrumpf-Stil. Noch fehlen mir die Sommersprossen dazu. Doch auch das ist hier kein Problem...
 
7. Mai 2025

Seit heute kann man mir sogar Briefe schreiben, die nicht in den Büschen des Vorgartens landen. Maestro Ricardo Cruz konstruierte und montierte das schmucke Briefkästli. Doch nach wie vor muss man mit einer Zustellzeit von 3-4 Monaten rechnen…. Nichts für Abstimmungsunterlagen!
 
24. Mai 2025
Die Suppenküche-Mannschaft v.l.n.r. Monika Zürcher, ich, Mike Lauber, Nic Hess, Gioia Kohlbacher, Oliver Buhl, Christian Fuster. Bild: Dominik Landwehr (auch zur Suppenmannschaft gehörig) 
 
Ein ausserordentlich vergnüglicher Samstag war unser Suppenanlass in der Helferei an der Zürcher Kirchgasse 13, mit welchem wir SpenderInnen und Freunde von Sancocho-Lab, unserer Suppenküche in Bogotá, danken wollten. Eine grossartige Küchenbrigade kochte für 70 Personen eine schmackhafte Suppe, welche zum Ende des Anlasses rübisundstübis aufgegessen war. Dazu gab es gratis Brot, Wein oder Bier. Und wir nahmen dabei neue Spenden in der Höhe von Fr. 5000.- ein. Wunderbar. Alle waren der Meinung, auch im kommenden Jahr einen solchen Suppentag veranstalten zu müssen. Grossartig auch die HelferInnen der Helferei, die unser Vorhaben in allen Teilen unterstützt haben. Allen ein grosses Dankeschön.
 
26. Mai 2025
Mit meinem Freund Hans-Martin Bossert unterwegs 
 
Wir haben für diesen Montag abgemacht. Ich war Hans-Martin noch ein Dankeschön schuldig für das prächtige Fest zu meinem 75. Geburtstag in der Schwamendinger Ziegelhütte vom vergangenen Jahr, das er mit Umsicht und grossem Einsatz zu einem ausserordentlichen Anlass werden liess. Wir reservierten uns den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein und beschlossen, mit einem Besuch des Grabs meiner Mutter zu beginnen, um nachher von der Rehalp bis zum Küsnachter Tobel zu spazieren und alles zu thematisieren, was beste Freunde so austauschen.
Wir bekundeten Mühe, das Ehrengrab von Laure Wyss zu finden. Mir fiel auf, dass der Grabstein seinen grünlichen Glanz verloren hatte. Auch lagen, im Gegensatz zu früher, keine Steinchen mehr darauf. Doch dann, als wir es doch noch fanden, schlug der Musiker Hans-Martin vor, ihr ein Lied zu singen. Da kam mir in den Sinn, dass sie für das Appenzeller Landsgemeindelied immer eine besondere Schwäche zeigte. Ihr gefielen die getragenen Stimmen eines Männerchors, und der Text simpler und von Herzen kommender Frömmigkeit entsprach ihrem Empfinden für Erhabenes, vor welchem man sich zu Recht hinsinkt: "Alles Leben strömt aus Dir..."     
Hans-Martin zückte für den Text sein Handy und wir hoben zum Singen an, so dass die ganze Vogelschar in den Bäumen aufhörte zu zwitschern und sich umschaute, um zu sehen, was da die alten Herren von sich gaben. Unser Gesang hörte sich vermutlich schrecklich an, doch irgendwie passte die Aktion, und glücklich verliessen wir anschliessend den Tatort, um die Wanderung anzugehen. 
Zurück vom Ausflug seeaufwärts, landeten wir am Schluss unserer freundschaftlichen Begegnung im Restaurant Italia, wo wir hervorragend speisten.  
  
 
29. Mai 2025
zZüri. Damals, vor über 50 Jahren, verdiente ich mein Geld als Kellner in der Gans vorne am Central. Nach der Arbeit ging ich spätabends regelmäßig ins Castel-Pup zum Abtanzen. (Siehe auch hier... ). Irgendwann Jahrzehnte später erinnerte sich die Kulturabteilung der Stadt Zürich ans Café Voltaire, das dort in den 20er Jahren mit seinen Dadaisten Urstände feierte und transformierte das Dancing in einen Kulturort. Da war ich aber schon längst über alle Berge. Und jetzt, auf meinem nostalgischen Trip durch die Altstadt, suche ich vergebens nach einer Tafel vor dem Haus, die besagt, dass sich hier Nikolaus Wyss zwischen 1973 und 1976 die Beine in den Bauch getanzt hat…
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Sonntag, 2. März 2025

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 13)


Beim Anhören weinen

    Ich hatte einmal eine Liebschaft mit einem Franco Meier. Das sind wohl 40 Jahre her, und er ist schon seit langem tot, wobei ich nicht weiss, ob er sich damals das Leben nahm oder ob er an einer Überdosis starb. Es kommt letztlich aufs gleiche hinaus. Er schenkte damals an einer Stehbar im noch nicht umgebauten Zürcher Hauptbahnhof Kaffee und Bier aus, und wir verknallten uns ineinander. 
    Was mich an ihm einerseits faszinierte und andererseits jeweils auch vor Rätsel stellte, war die Art, wie er kommunizierte. Er wusste seine Gefühle oft nicht in Worte zu fassen, doch Songs englischsprachiger Popstars seiner Zeit halfen ihm, das auszudrücken, was ihm selbst nicht gelingen wollte. So hörten wir auf meine Fragen hin andauernd aus seinem Kassettenrecorder Musik, deren Botschaft ich nur selten auf Anhieb verstand, die aber mit ihm wohl zu tun hatten. Die Dire Straits, und bei denen natürlich Mark Knopfler, standen ganz oben auf seiner persönlichen Gefühlshitliste.
    Ich komme darauf, weil ich momentan in einer Phase stecke, wo ich einerseits meine, mit Simons Abgang nach einer fast dreijährigen Liebschaft endlich über dem Berg zu sein. Kein Wort mehr möchte ich über ihn verlieren. Doch ich komme grad ins Heulen, wenn ich die folgenden (Abschieds-)Songs anhöre. Büne Hubers Frage hier oben, wo die Geliebte heute Nacht sich befinde, halte ich für einen der gefühlvollsten Beiträge zum Thema. Und die langsam ausklingende Maultrommel zum Schluss bringt es auf den Punkt.  
    Sehr sehr emotional bin ich kürzlich beim Anhören dieses Songs von Dabu Bucher geworden. Ich kannte ihn vorher nicht, und sein Zürichdeutsch steht einer emotionalen Poesie eher im Wege. Doch beim zweiten Mal hinhören erschütterte mich sein Lied gewaltig. Er schrieb es, als er sich in eine neue Frau verknallt hatte und sich von seiner früheren Freundin trennen wollte/musste:
 

    Udo Lindenberg will es aktiv mit Abgrenzung schaffen und redet sich ein, dass es ihm gut gehe ohne sie. Dieser trotzige Kampf mit seinen eigenen Gefühlen ist grosse Psychologie.  

 
    Das vierte Lied hat sich Simon selbst immer wieder angehört. Auch dort geht es ums Verlassenwerden und das kaum darüber Hinwegkommen:
 
 
 
Und schliesslich der Salsa zum Schluss, wo es auch um das Rätsel des Fortgehens einer Geliebten geht, allerdings so: geh schon, wenn du gehen willst.

  
 
     Ja, das Thema des Verlassenwerdens steht bei mir grad im Vordergrund, wobei ich glaube, es gehe nicht nur um den einen Menschen, von dem ich mich übrigens selbst getrennt habe. Es geht wohl eher um den schmerzhaften Abschiedsprozess vom früheren Leben, von den verbliebenen jugendlichen Restgefühlen. Ich erlebe mich jetzt plötzlich älter, als ich sein möchte. Das war früher nie der Fall. 
    Ich sehe keine Vorteile meines Alters. Es ist zwar nicht so, nochmals in ein früheres Alter zurückkehren zu wollen. Doch irgendwo einen Mehrwert zu sehen in der gegenwärtigen Situation wäre doch sehr wünschenswert. Stattdessen drohen die Zähne auszufallen, und die Arthritis erlaubt mir nicht mehr, ein normal verschlossenes Gonfiglas zu öffnen. Soll es da ein Trost sein, dass die ärztliche Untersuchung mir attestieren will, dass ich - für mein Alter (!) - kerngesund sei?
 
Der Einschlagskorridor
 

    Meine Wahlheimat Bogotá befindet sich laut neuesten Berechnungen im Einschlagskorridor des Asteroiden 2024YR4, der am 22. Dezember 2032 mit einer über dreiprozentigen Wahrscheinlichkeit die Erde treffen wird. Ein vorangekündigtes, himmlisches Vorweihnachtsgeschenk, das mir insofern in den Kram passt, als es nicht die einzige Bedrohung darstellt, die mich derzeit umtreibt. Natürlich ist es nicht dieselbe Dimension, doch hinter unserem Haus flattern seit kurzem giftgrüne Flaggen, die verheissen, dass hier ein Neubau geplant ist. Man spricht von 30 Stockwerken, wobei ich selbst die Pläne noch nicht gesehen habe. Schon einmal planten sie auf diesem Parkplatz eine Überbauung. Das war noch vor der Pandemie. Dann aber wurden die Baumaterialien teurer, und die Berechnungen der bereits verkauften Flächen ergaben, dass sich der Bau nicht lohnt. Jetzt scheint es einen zweiten Anlauf zu geben mit potenteren Geldgebern, die vor steigenden Zement- und Stahlpreisen nicht zurückschrecken.

    Plötzlich sehe ich meinen Alterssitz für gefährdet. Ich weiss nicht, ob ich in meinem fortgeschrittenen Alter in unmittelbarer Nähe zwei bis drei Jahre Bauzeit mit all dem Lärm, dem Staub und den Erschütterungen schadlos überstehe für einen Klotz, der mir zum Schluss Licht und Sicht rauben wird. Und manchmal denke ich, wenn die Investoren die Einschlagswahrscheinlichkeit des Asteroiden als Risikofaktor ernst nehmen würden, würden sie von der Errichtung des Bauwerks vielleicht die Finger lassen…

 

Der 20. Februar

 


    Geburtstage haben ihre eigene Hierarchie. Für ein Kind ist der Geburtstag in jedem Jahr ein Ereignis, geschürt von stolzen Eltern mit Kerzlein-Ausblas-Ritualen, Kindereinladungen und Geschenken. Hinzu kommen ab einem bestimmten Alter die Eintrittsberechtigungen für Kindergarten und später für die Primarschule. Und dann signalisiert jeder weitere Geburtstag, in welche Filme man schon gehen darf und welche noch verboten sind (und man trotzdem hingeht). Dasselbe gilt für den Kauf von Alkoholika und Tabakwaren. Auch Sex ist altersgeregelt, der Führerausweis und die politische Mündigkeit. Das heisst, Geburtstage haben im Kindes- und Jugendalter ihre legitimierende Wichtigkeit. Dann aber lässt ihre Bedeutung nach. Wenn man einmal 20 ist, so ist der 21. Geburtstag oder der 22. oder der 23. nicht mehr das Tor zu einem neuen Lebensgefühl der Freiheit und der bis anhin verbotenen Zugangsberechtigungen. Wenn man dann trotzdem seinen Geburtstag feiert, so ist es, weil man es schön findet und Aufmerksamkeit geschenkt bekommt. (Umso trister, wenn sich niemand dieses Anlasses annimmt. Ich kenne ein paar Jungs hier in Kolumbien, in deren Familien Geburtstage kein Thema sind. Oft mangelt es auch an Geld, ihn gebührend zu feiern. Diese Jungs wenden sich dann an mich und kündigen an, dass sie übermorgen Geburtstag hätten in der Erwartung, ich würde ihnen etwas spendieren, was ich im allgemeinen auch gerne tue.)

    Weitere Lebensereignisse aber, wie bestandene Prüfungen, Stellenwechsel und Hochzeiten, halten sich nicht an das eigene Geburtsdatum und laufen so der Bedeutung des Geburtstags den Rang ab. Natürlich gibt es Ausnahmen bei runden. Ich zum Beispiel feierte meinen 40. in der algerischen Sahara in der Nähe von Tamanrasset. Den 50. in Luzern mit 200 Gästen aus nah und fern, den 60. als Abschied von meinem Posten als Rektor, den 65. in der Mars-Bar an der Zürcher Langstrasse, den 70. auf dem Dach unseres Hauses hier in Bogotá, ebenso den 75., dies gerade zweimal. Einmal hier in Bogotá wieder auf dem Dach des Hauses mit 30 Gästen, und das zweite Mal im Juni in der Schwamendinger Ziegelhütte am Rande des Zürichbergwaldes mit über 60 Gästen. Daran erinnere ich mich gerne zurück mit dem Gefühl des Geliebtseins und der Dankbarkeit.

    Kürzlich wurde ich 76, und einige meiner Generation haben nicht reagiert, was ihnen nachträglich peinlich war. Mein Gott, in diesem Alter hat ein 76. doch keine besondere Bedeutung. Mir fiel das Ausbleiben von einigen Glückwünschen nicht einmal auf. Denn gleichzeitig bekommt man ja auf Facebook einen kaum überblickbaren Schwarm von "happy birthdays" von mir meist persönlich unbekannten Usern/"Freunden" aus aller Welt...

    Ich feierte meinen diesjährigen Geburtstag ohne grossen Aufhebens, auch wenn meine Hausbewohner in kleinem Rahmen mit einer Torte für einen feierlichen Augenblick gesorgt hatten. Doch die Bedeutung eines Geburtstages liegt bei meiner Alterskategorie woanders. Wo stehen andere 76jährige? – Bröckelt es bei ihnen schon gewaltig, oder rieselt es eher (wie bei mir)? Und mit wachsendem Wohlwollen erinnere ich mich an meine Grossmutter, wenn sie über Gleichaltrige oder soeben Verstorbene sprach. Das war jeweils eine grosse Peer Review, bei welcher sie bis ins hohe Alter ziemlich gut abschnitt.  

 

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©Nikolaus Wyss
 

 

   

 

 

 

Freitag, 28. Februar 2025

Schwedensplitter


 

    Das erste Kinderlied, das ich als Bub auswendig konnte, war auf Schwedisch, hiess „Mors lilla Olle“ und handelte vom kleinen Buben Olle, der in den Wald ging, um Beeren zu pflücken. Er fühlte sich aber einsam. Doch plötzlich knackte es im Gebüsch. „Brummelibrum, vem lufsar där?“ heisst es dann im Lied. Brummelibrum, wer kommt denn da? Olle meinte, einem grossen Hund zu begegnen, und freute sich über das Zusammentreffen. Jetzt hatte er einen Spielkameraden. Olle liess ihn von seinen Beeren kosten und streichelte das struppige Fell. Als die Mutter dazustiess, schrie sie laut auf und verscheuchte das Tier. Es war ein Bär. Olle war enttäuscht und bat die Mutter vergeblich, den Spielkameraden zurückzuholen.

    Meine Mutter hat das Lied in Schweden vorsorglich auswendig gelernt, damit sie dann gut gerüstet ist, um dem eigenen Kind etwas vorsingen zu können. Trotz etlicher Ehejahre gab es jedoch keinen Nachwuchs. So nahm sie das Lied mit auf ihren Rückweg in die Schweiz und bewahrte es für mich auf, Jahre später gezeugt von einem früheren IKRK-Delegierten und damaligen Bezirksammann von Flawil mit weiterreichenden politischen Ambitionen, die ihn später als Nationalrat immerhin bis ins Bundeshaus trugen.   

    Schweden war also von kleinauf präsent in unserem Haushalt. Mindestens zweimal im Jahr zum Beispiel kamen Kerstin und Kecke mit ihrem schnittigen GM-Roadster vorbei. Kerstin betrieb damals in Stockholm ein Geigengeschäft und ging regelmässig nach Italien auf Einkaufstour. Kecke begleitete sie als Chauffeur, Geiger und (vermutlich) Geliebter. Er spielte im Kungliga Filharmoniska Orkestern, in der Königlichen Philharmonie Stockholm also. Er probierte die ins Auge gefassten Instrumente aus und überprüfte sie auf ihre Qualität. Ich frage mich noch heute, wie die vielen Geigen in diesem engen Sportwagen von Italien nach Stockholm Platz gefunden haben. Kecke sprach nur Schwedisch und erzählte einen Witz nach dem andern, was für mich etwas anstrengend war, weil ich nichts verstand. Mutter übersetzte mir zuweilen eine von Keckes Geschichten. In der Philharmonie zum Beispiel soll einmal ein vom Orchester vielgehasster Dirigent auf dem Podium gestanden haben. Einer, der die Musiker anschrie. Da soll das Orchester auf ein geheimes Zeichen hin das Konzert begonnen haben noch bevor der Dirigent den Taktstock hob. Das gefiel mir als Zeichen adäquaten Protests.

    Es kam oft vor, dass Mutter mit schwedischen Freundinnen telefonierte. Am meisten mit Anita. Sie war in Stockholm mit einem Staatsanwalt verheiratet und verfügte über hellseherische Fähigkeiten. Sie konnte zum Beispiel bei der Suche nach einem Parkplatz mit Sicherheit voraussagen, dass im 5. Stock eines Parkhauses auf Feld 523 noch ein Parkplatz freistand. Ihr Mann fuhr ohne zu zögern zum vorausgesagten Platz hoch, der, siehe da, frei war. Anita als Vertrauensperson blieb meiner Mutter ein Leben lang verbunden und erwies sich besonders in jenen Zeiten als hilfreich, als ich, schon lange weggezogen, meiner Mutter nicht mehr über alles und jedes Detail aus meinem eigenen Leben berichterstatten wollte. So befriedigte Mutter ihre Neugier, indem sie ab und zu Anita anrief, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Triumphierend erstattete Mutter mir danach jeweils Bericht. Am Telefon teilte sie mir mit, sie sei so froh, dass es mir gut gehe. Anita hätte es ihr versichert.

    Im Sommer 1966 kam es zu einer Schwedenreise. In einem blauen Morris 1800, den meine Mutter bald darauf schon wieder verkaufte, weil sie entdeckt hatte, dass ihr Vorgesetzter beim Tages-Anzeiger, Chefredaktor Walter Stutzer, dasselbe Modell fuhr, was sie als untergebene Redaktorin nicht statthaft fand, in einem blauen Morris also fuhren damals Mutter, mein Vetter Tobias und ich durch Deutschland und Dänemark, um ihre Freunde in Schweden zu besuchen. Allzu viel ist mir von dieser Reise leider nicht in Erinnerung geblieben. Die vielen Mücken und der penetrante Regen auf Öland hingegen schon, und das wundersame Barocktheater mit seinen fein gemalten Laubsägekulissen auf Schloss Trottningholm auch. Tobias vermag sich heute noch an Besuche bei verschiedenen Familien erinnern, bei den Täslers zum Beispiel in Örebro, deutschen Kommunisten, welche vor Hitler nach Moskau fliehen mussten und später vor Stalin nach Schweden. Werner Taesler war Architekt und konnte sich mit Aquarellmalereien und Bauaufträgen leidlich über Wasser halten. Seine Frau Irene, so erzählte es mir meine Mutter, nahm sich im schwedischen Exil vieler Flüchtlinge an, was sie aber zuweilen auch überforderte. Von ihr soll der Spruch stammen: „Der Kamm liegt bei der Butter“, was jeweils als untrügliches Zeichen einer masslosen Erschöpfung gedeutet werden durfte.

    Am hellsten in Erinnerung geblieben ist mir der Besuch bei Chefkoch Werner Vögeli im Stockholms Operakällaren, damals eines der angesagtesten Feinschmeckerlokale der Stadt, ausgestattet mit Michelin-Sternen, von Tradition und Reputation her vielleicht am ehesten vergleichbar mit der Zürcher Kronenhalle. Zur Finanzierung unserer Reise nach Schweden musste Mutter ein paar Reportagen heimbringen. Da erwies es sich als Glücksfall, dass der Schweizer Vögeli im Opernkeller für Könige, Opernstars und Nobelpreisträger den Kochlöffel schwang. Das vermochte eine Schweizer Leserschaft zu interessieren. Dort erfuhr ich auch, dass der Chefkoch zum Ausprobieren neuer Rezepte neben seinem Büro über eine Probeküche verfügte. Das machte mir Eindruck. Ich glaube, wir konnten nach dem Interview Dank preislichem Entgegenkommen von Herrn Vögeli und auf Spesen des Tages-Anzeigers auch ein mehrgängiges Menü kosten. Was auf den Tisch kam, ist mir jedoch entfallen. Fische und Meerfrüchte vermutlich. Bemerkenswert aber ist, dass ich seither diesen Opernkeller von Stockholm als ultimativen kulinarischen und kulturellen Höhepunkt gespeichert habe, der mir jedes Mal in den Sinn kommt, wenn ich an Stockholm denke. Später wollte ich noch zweimal dort einkehren, beide Male war er aber entweder wegen Renovationsarbeiten oder wegen eines Wirtesonntags geschlossen.

    Mutter wurde auf dieser Reise von einer gewissen Melancholie begleitet. Erinnerungen an ihr eigenes, gescheitertes Eheleben kamen ihr wohl hoch, eine gewisse Trauer auch. Sie wollte uns Buben damit zwar nicht belasten, doch ganz verstecken konnte sie ihre Gefühle nicht. Waren es Reue und Versagen? Oder war es eher eine verhalten-stolze Nachdenklichkeit, verbunden mit dem Wunsch, ihren alten Freunden zu zeigen, dass sie es trotz allem beruflich zu etwas gebracht und einen unehelich geborenen Sohn hochgezogen hat, der zwar unerträglich tief noch in der Pupertät steckte, aber ansehnlich und grossgewachsen war? – Ich weiss es nicht.

    Wir statteten auch dem kurz vorher aus dem Meer gehobenen Kriegsschiff Vasa einen Besuch ab, das im 17. Jahrhundert auf seiner Jungfernfahrt vor Schwedens Küste gesunken war. Es wurde täglich mit einer spezifischen Flüssigkeit abgespritzt, damit das brüchige Holz nicht austrocknete. Und in Stockholm sah ich zum ersten Mal eine überlebensgrosse Skulpur von Nicki de SaintPhalle: eine liegende Nana, die man durch eine torweit geöffnete Vagina betreten konnte. – Schweden blieb mir als modernes, zukunftsgerichtetes und menschenrespektierendes Land in Erinnerung, wo noch Linksverkehr herrschte, wo rund um Stockholm Satellitenstädte hochgezogen wurden, die ich damals für interessant hielt, und wo alle Menschen farbige, holzige Wochenendhäuschen besassen, die entweder in den mückengeplagten Wäldern oder an kalten Gewässern standen oder dann auf kahlgewaschenen Schären klebten und fröhlich-munteres Leben evozierten. Eine echte Alternative zur Schweiz.   

    Wieder zuhause, wechselte Mutter bald schon vom Morris zu einem Saab 99, schwedisch, wie Volvo auch, von Chefredaktor Stutzer noch nicht vereinnahmt, mit allen modernen charakteristischen Sicherheitsmerkmalen ausgestattet (Knautschzonen zum Beispiel oder geknickte Lenkstangen), die in englischen Automobilen von damals nicht durchgängig vorhanden waren oder nur gegen Aufpreis zur Verfügung standen. Mit dem Saab chauffierte ich Mutter in späteren Jahren nach Italien und nach Frankreich, manchmal lieh sie ihn mir für eigene Fahrten aus. Man fühlte sich im Auto unangefochten sicher, ja unsterblich. Schwedische Qualitätsarbeit halt, aber auch das wenige, was mich im täglichen Leben, neben der Musik der ABBA natürlich, noch an Schweden erinnerte. Ausser IKEA in Spreitenbach natürlich, die Möbelfirma, die in der Schweiz als erste ihre Kundschaft geduzt, als Appetizer für den ewiglangen Rundgang durch die Verkaufsebenen Köttbullar (Fleischklösschen) angeboten und geniale Billy-Büchergestelle verkauft hat, und ausser dann, wenn im 1. Stock des Zürcher Bahnhofbuffets einmal im Jahr mit einem Smörgåsbord schwedische Wochen gefeiert wurden. Dazu lud ich jeweils meine Mutter auf eigene Rechnung ein. 

    Was nicht so passte in mein sanftes Schwedenbild, war die lange Zeit nicht aufgeklärte Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme vom 28. Februar 1986. Wie kommt es, fragte ich mich damals, dass in einem sozialdemokratischen Land, das so viel für seine Bürger tut, dafür aber auch krass Steuern einzieht, dass dort ein konservativer Ministerpräsident, der sich für Abrüstung und Frieden und für die Dritte Welt einsetzt, so stark die Wut eines Bürgers auf sich zu ziehen vermochte, um mit seinem Leben büssen zu müssen?

    Ach ja, und jetzt taucht vor meinem geistigen Auge noch der alte Schwede Carl-Axel Englund auf, genannt Charlie, ein unbekümmerter Wikinger, ein journalistisches Schlachtross, das immer nur Lösungen sah und nie Probleme, was zuweilen auch anstrengend war. Wieso hat er überhaupt in der Schweiz angeheuert? - Ich weiss es nicht. Es gibt jedenfalls wohl kaum einen mir bekannten Journalisten, der im Laufe seiner Karriere soviele steile Auf- und Abstiege verzeichnen kann wie er. In seinem Palmarès figurieren Blick und NZZ ebenso wie Lokalblätter, zum Beispiel die Zuger Presse oder die Oerliker Vorstadt. Jetzt sei er, 65jährig, beim Tages-Anzeiger zuständig fürs Sihltal, heisst es im Gewerbe. Ich war einmal ein Kollege von ihm beim Züri Leu, einer Gratiszeitung, die damals von Jürg Ramspeck geleitet wurde. Über Mittag spielten wir jeweils Strategiebrettspiele, wo es unter anderem um Kauf und Betrieb von Warenhäusern und anderen Grossunternehmungen ging.  

    Wieso diese Schwedensplitter? – Anlässlich eines Telefonats mit meinem Freund Hans-Martin in der Schweiz vernahm ich, dass er beabsichtige, in diesem Jahr Schweden zu besuchen. Ich unterstützte sein Vorhaben und kam ins Erzählen, was ich alles von Schweden noch weiss. Mehr beschäftigte ihn aber der Umstand, dass eine Reise in den Norden auf dem Landweg dreimal teurer ist und sieben Mal länger dauert als mit dem Flugzeug. Dabei hatte er sich doch geschworen, nie mehr zu fliegen. Dieser Schwur ist auch der Grund, weshalb er mich in Kolumbien nie besuchen kam, was ich respektiere. Jetzt stellt ihn Schweden aber auf eine harte Probe.  

    1995 begleitete ich Mutter noch einmal nach Schweden. Sie wollte mich nach dem Tod meines Partners Chai mit dieser kleinen Reise aufmuntern. Natürlich machten wir auch Halt bei Anita. Sie kannte selbstverständlich meine Geschichte mit Chai. Während des Essens schreckte sie plötzlich auf. Sie meinte dort oben in der Ecke des Esszimmers Chai zu erkennen (als Fliege?) und zu wissen, dass es ihm jetzt gut gehe. Dann wendeten wir uns wieder dem Schwedenbraten zu. Ich bedankte mich für ihren Blick ins Pardo, der dunklen tibetisch-buddhistischen Todeszone, wo sich Chai zu diesem Zeitpunkt aufhalten mochte. Später am selben Tag begleitete ich Mutter zu einem Treffen mit Madeleine Gustafsson, der in Scheidung begriffenen Ehefrau des Schriftstellers Lars Gustafsson, selbst Autorin und Übersetzerin. Wir trafen sie in einer grossen, gut beheizten Markthalle. Die beiden Frauen sprachen miteinander Schwedisch, und ich hatte genug Zeit zu beobachten, wie sich die beiden auf Anhieb gut verstanden, ohne sich vorher persönlich gekannt zu haben. Es herrschte eine frauensolidarische Atmosphäre, beide erfolgreich mit Literatur vertraut und diese praktizierend, beide mit dem Schicksal untreuer Ehemänner behaftet. Das schaffte eine Stimmung, die mich total aussen vor hielt und mich gleichzeitig stolz machte auf die beiden Frauen, die unbeirrt und selbstbewusst ihre eigenen Wege gegangen sind.  

    Die letzten Schwedensplitter sind schnell erzählt. In Göteborg organisierte ich als Board-Member und Delegierter im Auftrag der European League of Institutes oft the Arts ELIA und in Zusammenarbeit mit der Universität Göteborg 2008 einen grossen Kongress für Verantwortliche von Europäischen Kunsthochschulen. Dieser Auftrag führte mich mehrere Male an die Westküste Schwedens. Die Vorbereitungen des Events waren interessant, auch wenn niemand von meinem Vorschlag begeistert war, am Eröffnungsabend „Mors lilla Olle“ zu singen. Stattdessen musste ich im Rahmen einer PechaKucha-Veranstaltung in 6 Minuten und 20 Sekunden unsere Luzerner Kunsthochschule präsentieren, was mir bei der Vorbereitung einiges Kopfzerbrechen bereitete (man hätte doch so viel mehr zu erzählen gehabt). Weder der Keynote-Speech einer brillanten Persönlichkeit noch alle sonstigen Veranstaltungen sind mir in Erinnerung geblieben. Noch schlimmer, dieses Göteborg kam mir etwas langweilig vor. In den freien Minuten wusste ich jeweils nicht so recht, was ich jetzt dort unternehmen könnte. Auf dem Uni-Campus hingegen hielt ich die Lehrformen, Methoden und Curricula in den künstlerischen Departementen für wesentlich interessanter und fortschrittlicher, als was wir damals in Luzern praktizierten, doch ich fühlte mich nicht eingeladen, diese in Anbetracht unseres eigenen Personalbestands und unserer kunstbildungsfeindlichen Innerschweizer Politik (siehe „Nur schwache Erinnerungen an Luzern“)  in einen Schweizer Kontext zu implementieren. In Göteborg war wesentlich mehr Geld, künstlerisches Selbstverständnis und Internationalität vorhanden. Alle, sowohl das Lehrpersonal wie auch die Studierenden, beherrschten Englisch, und das Schliesssystem in den Gebäulichkeiten war schon komplett elektronisiert, während wir in Luzern immer noch mit klobigen, uneinheitlichen Schlüsseln für das Öffnen jeder einzelnen Tür zu kämpfen hatten.

    Letzter Splitter. Im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen für Führungskräfte an Fachhochschulen führte uns einmal eine Reise nach Schweden und Finnland, wo wir Forschungsstätten, industrielle Betriebe und Universitäten besuchten. Doch am meisten beeindruckte mich damals die Überquerung des Bottnischen Meerbusens. Der Steuermann musste sein Schiff an Tausenden von putzigen Inselchen vorbeischlängeln, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn er mit seiner Fähre irgendwo aufgelaufen wäre. Helsinki übrigens beeindruckte mich atmosphärisch wesentlich mehr als Stockholm, so dass es mich schon fast reute, Finnland nicht schon früher meine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben: es kam mir zwar nüchterner vor, doch gleichzeitig weniger sorgenfaltig als das verwöhnte, etwas bequem gewordene Schweden. Als Mitbringsel überreichte der Leiter unserer Bildungsgruppe, Hans-Kaspar von Matt, den Gastgebern jeweils eine grosse Toblerone-Schokolade, wie man sie auch dort in jedem Supermarkt erstehen konnte. Ich machte ihn einmal darauf aufmerksam, doch er meinte, der Zuckergehalt sei in jedem Land anders. Die Schweizer Schoggi-Version sei im Vergleich dazu gesünder und weniger süss... 

 

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©Nikolaus Wyss
 

 

     


Donnerstag, 13. Februar 2025

Krieng - sawadee krap

Kriengsak 'Victor' Silakong

Es ist ein merkwürdiges Gefühl von Verlorenheit, plötzlich einem Menschen nachtrauern zu müssen, der schon vor bald drei Jahren gestorben ist. Doch ich habe erst gestern davon erfahren und zwar, als wir über Suppen sprachen. Wir erinnerten uns an eine Begegnung mit ihm in Bangkok vor vielleicht sieben Jahren. Er führte uns damals in ein Restaurant, wo in der Mitte des Tisches ein Gasbrenner Wasser in einem grossen Topf zum Sieden brachte. Dann bestellte er Zutaten wie Shrimps, Rindfleisch, Pilze und Gemüse unterschiedlichster Art, die jeder nach und nach mit Stäbchen in sein eigenes Körbchen packte und dieses anschliessend zum Garen ins kochende Wasser tauchte. Mit interessanten Sösschen angereichert verspeisten wir das so Zubereitete. Seine Anweisungen und Kommentare waren kenntnisreich und dergestalt, dass wir uns in der Stadt wohl grad im besten Suppenrestaurant befinden mussten. Darunter ging nichts. Das war seine Einschätzung, die er uns mit Nachdruck zur Kenntnis brachte. Er bewertete und kommentierte alles in dieser Art von Ratings. Zum Schluss blieb eine kräftige Suppe übrig, ihm zufolge natürlich die allerbeste, die wir dann anstelle einer Nachspeise auch noch schlürfen durften.

Nach dieser gestrigen Erinnerung nahm es mich wunder, wie es ihm geht und was aus ihm noch geworden ist. Damals war er Direktor des Filmfestivals von Bangkok. Eine angesehene, hochrangige Person, die Zugang zum Königshaus, zu Ministerien und Ämtern hatte, der für gewöhnliche Menschen verschlossen blieb. Im Laufe der vielen Jahre, in denen wir uns schon kannten, rief er mich ab und zu an, und wir plauderten über Filme, die ich gesehen haben sollte, und über Jungs, die in seinen Augen in Kolumbien attraktiver seien als in Peru. Doch dafür sei in Peru das Essen um Welten besser. "The best". Er kannte Cartagena an der Karibikküste gut. Er besuchte dort einige Male das Filmfestival, sagte aber immer wieder, wie müde er sei, und dass er aufs Alter hin im Süden Thailands gerne ein Gästehaus eröffnen möchte, dort, wo seine Eltern eine Kautschuk-Farm betrieben. Es interessierte ihn, wie ich hier in Bogotá unser kleines bed&breakfast führe. Er wollte einmal vorbeischauen kommen.   

Ich suchte also gestern im Internet nach Kriengsak Silakong, so hiess er, auch Victor genannt, und stiess zu meinem Schrecken auf einige Nachrufe,verfasst im März 2022: Unwohlsein mit Schmerzen in der Brust, Überführung ins Spital, kurz darauf Eintritt des Todes. Die Kommentare hielten fest, dass sein Tod ein grosser Verlust des thailändischen Kulturlebens sei. Mir verschlug es die Sprache.

Doch heute lasse ich betroffen, traurig, aber dankbar auch für unsere Freundschaft, Revue passieren, was alles uns verbunden hatte: 1989 war ich auf Reportage in Thailand. Zusammen mit dem Fotografen Emanuel Ammon. Es ging um die Erstaufführung von Friedrich Dürrenmatts Stück „Der Besuch der alten Dame“ auf Thai. Darüber wollte ich berichten. Bei unserer Ankunft wurde mir ein Begleiter zugeteilt, der Übersetzerdienste und auch sonstige Hilfestellungen leisten sollte. Er stellte sich mit Kriengsak vor und sprach ausgezeichnet Englisch. Was ich nicht erwartete: für ihn repräsentierte ich den gebildeten Westeuropäer, und er wollte die Gelegenheit beim Schopf packen, von meinem Wissen so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. So verwickelte mich der junge Mann gleichentags in ein Gespräch über Thornton Wilder („Die Brücke von San Luis Rey“, „Unsere kleine Stadt“), über Samuel Beckett („Warten auf Godot“), und über das Beziehungsgeflecht und die Gedichte von André Gide, Paul Valéry und Mallarmé, Rimbaud, Verlaine und Baudelaire. Ich konnte seine Neugier kaum befriedigen. Er wusste mehr als ich, auch wenn er mich dies nicht spüren liess. Ich glaube, ich steigerte bei ihm mein Prestige noch, als ich befand, dass ich die Theateraufführung der alten Dame für missraten hielt, denn das schien ihm Beweis genug gewesen zu sein, dass ich in Literatur und Kunst sachverständig war. Sein Bildungshunger beeindruckte mich, und irgendwann landeten wir im Bett, wo sich sein Hunger noch auf andere Weise zeigte. Wir bekamen Lovers, wohlwissend, dass dieser Kontakt grossen Einschränkungen unterworfen sein würde. Er studierte in Thailand, ich arbeitete in der Schweiz.   

Einmal kam er mich besuchen in der Schweiz. Ich wohnte damals in Schwamendingen. Nichts schmeckte ihm. Er ass keinen Salat, kein Gemüse, kein Grünzeugs (er pickte die Petersilie in einer Sauce fein säuberlich raus), konnte mit Fondue und Zürich-Geschnätzeltem nichts anfangen und verlor, dünn wie er war, innert einer Woche noch zusätzlich drei Kilo. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, führte ihn in ein Thai-Restaurant, das aber in seinen Augen der originalthailändischen Küche das Wasser nicht reichen konnte. Er liess das Bestellte einfach stehen. Doch eines Tages kam er glücklich nach Hause. Er sagte: „Now I am happy. I have been at MacDonald’s. It’s like at home.” – Dieses Zitat verwendete ich einige Male in öffentlichen Diskussionen, wenn es um Heimat und Globalisierung ging. Kriengsak, der als Schüler in Bangkok seine Hausaufgaben stets in den klimatisierten Räumen einer Mac-Filiale machte (zu Hause hatten sie nur einen Ventilator), fühlte sich in der so weit entfernten Schweiz plötzlich wie in seiner vertrauten Umgebung... 

Doch. Röschti mochte er auch und kaufte am Ende seines Aufenthaltes in der Migros ein paar Packungen vorgefertigter Röschtis, die man ohne weitere Zutaten in einer Bratpfanne anbraten konnte. 

Manchmal nervte mich Krieng auch, indem er keinen Unterschied gelten liess zwischen einer historisch gewachsenen, jahrhundertealten Altstadt und einem Neubau oder Disneyland. So lange ihn die Ästhetik befriedigte, konnte es gestern entstanden sein, auch ohne Reifeprozess und Patina (die man ja, befand er, auch anmalen konnte).

Meine Mutter, die wir einige Male besuchten, mochte Krieng gut und verwöhnte ihn. Sie schenkte ihm Kinoeintritte und besorgte für ihn ein Fläschchen Tabasco, das er fortan auf die Speisen schütten konnte, um so ein bisschen thailändische Schärfe zu kosten. Zum Abschied seines Aufenthalts bedankte er sich mit einem Lied. Er sang a capella vor meiner Mutter Frank Sinatras Lied „Stranger in the Night“. Auf Thai. Er hatte eine klare, kräftige Stimme, und das Lied bekam mit den unverständlichen Wörtern eine exotische Färbung. Sein Liedvortrag rührte uns sehr.

Der Zeiten Lauf brachte es mit sich, dass sich bei einer Distanz von 9000 Kilometern unsere Gefühle füreinander allmählich abschwächten. Umso erstaunlicher scheint mir, dass wir über Jahrzehnte brieflich und telefonisch in Kontakt geblieben sind. Nicht oft, aber so, dass wir immer wieder einmal voneinander wussten, was dem anderen so alles widerfahren ist.

Nach dem Studium, so mein Kenntnisstand, arbeitete er in der Filmbranche, fertigte für ein Thai-Publikum Trailers grosser Blogbusters an, amtete als Synchronsprecher und freundete sich mit dem französischen Botschafter an, der ihm mit seinen Kontakten ermöglichte, Theaterstücke zu schreiben und auch zu inszenieren. Krieng sprach seit einem späteren Schauspielstudium in Paris gern Französisch und eignete sich dabei auch gleich die französische Arroganz an, scharfe Urteile zu fällen und etwas auf die anderen hinunterzublicken, was ihm bei seinem beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg durchaus zu Hilfe kam. Er nannte sich von nun an Victor.

Er hatte eine ältere Schwester, die laut Krieng nach Singapore heiratete und eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde. Und er hatte einen jüngeren Bruder, dem er um alles in der Welt Bildung beibringen wollte. Er schenkte ihm Bücher und schleppte ihn in Kinos und Theateraufführungen, musste aber mit Befremden feststellen, dass dieser immer einschlief, sobald es dunkel wurde im Saal. Später, als Filmfestivaldirektor, stellte Kriengsak aber fest, dass dieser Bruder ein untrügliches Urteilvermögen besass für Filme, die auf einem Festival Erfolg haben könnten. So wurde er Kriengsaks Assistent, der alle in Betracht gezogenen Festival-Filme zu Hause auf einem Kassenrecorder vorvisionierte und mit seinen Empfehlungen gehörigen Einfluss aufs Festival-Programm auszuüben vermochte.  

Ich glaube, Krieng hatte nach mir zwar Dutzende von lovers, aber niemanden, mit dem er sich wirklich zusammentun wollte oder konnte. In unseren langen, gelegentlichen Telefongesprächen beklagte er sich oft, dass sein Lebensstil und die Arbeit es kaum zuliessen, eine ernsthafte Beziehung aufzubauen. Er reiste jedes Jahr in der Economy-Class rund um die Welt (auch wenn er sich ein Business-Ticket durchaus hätte leisten können). Er besuchte in allen Kontinenten Filmfestivals und ass sich durch die angesagtesten Restaurants. Viel hielt er sich auch in Indien auf, ich weiss nicht, ob privat oder geschäftlich. Zu Hause in Bangkok unterrichtete er in den Armenvierteln einmal in der Woche Jugendliche in Englisch und sonderte, so erzählte er mir, als weiteres Hobby auf Twitter Sottisen ab, spitze Bemerkungen zum Zustand seines Landes - unter Schonung des Königs, selbstverständlich. Ich besuchte ihn über die Jahre verschiedentlich in Thailand und stellte fest, dass mein kleiner Assistent und Liebhaber von damals allmählich in die höchsten Kreise Thailands aufgestiegen war. Krethi und Plethi kannten Victor, während dieser gerne klagte, dass das alles zu viel für ihn sei. Er träumte von einem ruhigen Leben. Wie ernst er es damit meinte, weiss ich nicht, ich sehe nur, dass ihm dies wohl bis zu seinem Ableben nicht vergönnt war.

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©Nikolaus Wyss