Stadtbesichtigung mit Erinnerungen an die Bologna-Reform
Erster Tag
Ankunft Bologna. Nach rasanter Zugsfahrt im Frecciarossa 9641 und fast pünktlicher Ankunft im düsteren Bahnhof von Bologna fuhren wir mit dem freundlich chauffierten Taxi (der Fahrer fuhr dasselbe Modell, wie ich eines in Bogotá habe: einen Kia Niro mit Hybridantrieb nämlich. Genug Stoff, sich auf dem Weg über die guten und weniger guten Eigenschaften dieses Fahrzeugtyps zu unterhalten…) stracks zu unserer vorgebuchten Bleibe an der Via Santa Caterina 69 im Viertel Zaragoza. Alessandro, ein gesetzter Herr, der uns dort empfing, fragte sofort, wieso wir ganze 11 Tage hierbleiben wollen, und ich antwortete ihm, ich sei zum Abbau meines Bologna-Traumas hierhergekommen. Natürlich verstand er mich nicht auf Anhieb, und ich erklärte ihm darauf, ich hätte an unserer Hochschule die Bologna-Reform durchsetzen müssen und dabei einige Blessuren erlitten. Bologna begleitete mich damals fast täglich und bekam durch den Widerstrand unseres Lehrkörpers einen ziemlich schlechten Ruf. Das fand ich gegenüber der Stadt etwas unfair, und ich entschloss mich, sie unbesehen ihres geschädigten Images in der Bildungslandschaft einmal persönlich kennenzulernen.
Hier nun sind wir also. Die paar Einkäufe für die kommenden Frühstücke waren schnell getätigt (Eier, Schinken, Käse, Milch, Butter, Brot, Konfitüre und ein paar Früchte), und müde, wie wir waren, entschlossen wir uns, bald schon in nächster Nachbarschaft eine unscheinbare Trattoria aufzusuchen, welche Dank unseres Hungers durchaus attraktiv schien. Sie hiess Amadeo. Wir waren die ersten dort, denn vor 20 Uhr wird in Bologna kaum diniert, wie wir feststellten konnten, denn eine Stunde später war das Lokal gut besetzt, während wir schon beim Tiramisu waren.
Normalerweise schiesst mein Begleiter von jeder Speise, die vor ihm auf dem Teller landet, ein Foto, um zu Hause berichten zu können, wie appetitlich sie ausgesehen hat. Hier aber blieb das Handy in der Tasche, denn was aufgetischt wurde, war kein Bild wert. Seltsam nur, dass wir auf unserer Reise bis dato kaum je besser gegessen haben. So unscheinbar das kalte Plättli zu Anfang und später die Lasagne bzw. die Saltimbocca, so harmonisch ausgewogen der Geschmack. Ein Wunder italienisch-schlichter Zubereitungsart, welche den paar Zutaten das notwendige Vertrauen schenkt, das sie verdienen. Ohne Firlefanz: eine Zehn auf der Skala von eins bis zehn.
Zweiter Tag
Meinen Leuten in Kolumbien, die ihre Pasta gerne flutschig-butterweich bis total verkocht essen, muss ich wohl erklären, was in Bologna al dente heisst. Ich weiss dann nicht, ob sie sich danach noch nach einem Aufenthalt hierher sehnen. Hier ist die Pasta bissfest. Selbst ich muss mich noch ein bisschen daran gewöhnen. 1-2 Minuten länger im Kochwasser würde ich ihr gerne zugestehen. Aber der Eigensinn der Emilia Romagna besteht eben darin, nicht den Gewohnheiten und Erwartungen Anderskauender zu entsprechen, sondern die Pasta so aufzutragen, dass man nachher weiss, wo man sich befindet. In Bologna eben, der Stadt mit der ältesten Universität Europas. Dort lässt man sich nicht dreinreden, was eine gute Pasta ausmacht. Schliesslich haben hier Grössen wie Umberto Eco, Paracelsus, Nicolaus Copernicus, Pier Paolo Pasolini und viele andere als Studierende oder als Gelehrte gewirkt und halbgare Pasta gegessen. Die Frage ist nur, ob sie wegen der harten Pasta oder ihr zum Trotz so gescheit und gelehrt geworden sind. Dieses Rätsel wird wohl nie endgültig gelöst werden, Tatsache aber ist, dass hier eine gewisse Solidarität herrscht, wann die Pasta al dente ist in Nicht-Übereinstimmung mit dem Rest der Welt. Oder, kommt mir grad auch noch in den Sinn: vielleicht hatten sie früher einfach zu fest Hunger und waren dementsprechend zu ungeduldig, um zu warten, bis die Pasta weich ist.
Gestern besuchten wir die Biblioteca Comunale dell‘ Archiginnasio im Zentrum der Stadt, worin diese berühmte und ehrwürdige Bildungsinstitution während über 300 Jahren ihre akademische Wirkung entfaltete (jetzt ist dort die Stadtbibliothek untergebracht). Ein besonderes Schauvergnügen war natürlich der Seziersaal, das teatro anatomico, wo man vor Studierenden, die von den Rängen aus zuschauten, auf dem Seziertisch Leichen auseinandernahm. Was mir auch sofort auffiel, waren die vielen Gedenkkacheln in den Gängen, die Muscheln gleich an den Wänden klebten und an beliebte Professorinnen und Professoren erinnerten. Laut ChatGPT war die Universität zu früheren Zeiten vom Wissensdurst der Studierenden getrieben. Diese sagten, welche Vorlesungen und Themen jetzt angesagt sind, sie wählten zum Teil auch ihre Lehrmeister selbst aus. Und zum Dank für die gute Lehr- und Forschungstätigkeit klebten sie dann diese Erinnerungsmuscheln an die Wand und begründeten auch, wieso ihnen der eine oder die andere besonders gefiel. Die Worte „brillant“, „wortgewaltig“, „eindrücklich“ kamen zur Begründung oft vor. Der Ehrgeiz der Professoren bestand wohl darin, mit einer solchen Gedenkmuschel verewigt zu werden und gaben entsprechend Gas. Heute hingegen wird Qualitätsmanagement betrieben, jeder Kurs wird in einem Rating-Verfahren beurteilt (auf einer Skala von sagen wir 1-10 oder 1-6), kein Gelehrter schafft es heute auf eine Kachel. Darüber aber später, dann, wenn ich mich an meinem Bologna-Reform-Trauma abarbeite. Zuerst muss ich mich an die bissfesten Taglatelle gewöhnen.
Dritter Tag
Es dürfte anfangs der Nullerjahre gewesen sein, als die Bologna-Reformwelle bis nach Luzern schwappte. Wir waren damals schon vollauf damit beschäftigt, unsere Kunstschule das erste Mal als Hochschule akkreditieren zu lassen mit Fremd- und Selbstevaluation. Wir lasen entsprechende Dokumente und nahmen auch an Weiterbildungsveranstaltungen teil, um dem Wandel gewachsen zu sein, ja, darin so gut wie möglich abzuschneiden. Es gab regelmässig Versammlungen mit der ganzen Belegschaft. Es kam auch eine Menge Trauerarbeit auf uns zu, denn in Zukunft sollte nicht mehr nur die Begabung über die Aufnahme der Studierenden entscheiden, es brauchte zusätzlich auch noch den Nachweis eines Matur- oder Berufsmaturabschlusses und dazu ein Jahr Berufspraxis. Dazu muss man wissen, dass viele Lehrerinnen und Lehrer an unserer Schule selbst nicht über die entsprechenden Qualifikationen verfügten, sondern oft seit Jahrzehnten «sur dossier» ihre Lehrtätigkeit verrichteten und jetzt plötzlich vor Studierenden stehen mussten, welche einen wesentlich grösseren Schulsack mitbrachten, als sie selber ihr Lebtag mit sich trugen. Es gab erhebliche Zweifel, ob diese «Intellektuellen» wirklich auch über ein künstlerisch-gestalterisches Talent verfügten. Noch schlimmer: Begabte und Talentierte ohne ordentliche Schulabschlusspapiere hatten es von jetzt weg noch schwerer, bei uns unterzukommen. Es gab für sie zwar die Ausnahmeregelung „sur dossier“, das allerdings das Gesamtsystem der Hochschulanforderungen nicht durcheinanderbringen durfte. Wir betraten also auf breitester Front Neuland und lösten entsprechende Verunsicherung aus.
Und inmitten dieses Change-Prozesses, wie man sowas heutzutage nennt, kündigte sich das Bologna-System an mit seiner Forderung, die Studiengänge und -abschlüsse international vergleichbar zu machen, damit reisefreudigen Studierenden zeitverlustlos Austauschsemester ermöglicht werden konnten. Mit dem Erwerb von Credit-Punkten sollten die Studienleistungen pro Semester sichtbar werden.
Es gab Tage, an denen ich mich etwas überfordert fühlte. Nicht dass ich die Absicht des Bologna-Systems nicht verstanden hätte. Es fehlte mir und meinen Mitstreitern aber zuweilen an der Überzeugung und am Glauben, ob Bologna für die Künste wirklich das Gelbe vom Ei sei. Die Modularisierung der Studiengänge in berechenbare Einheiten setzt einen Typus von Studierenden voraus, der mit sich so etwas auch machen lässt. Dabei hatten wir doch besonders Freude an Studis, die sich eben nicht den curricularen Vorgaben entlang zum Bachelor und Master hangelten, sondern an solchen, die, getrieben von Eigensinn und Hang zum Besonderen, willentlich von unseren Lehrangeboten abwichen und ihren eigenen Weg suchten.
Es muss an einem dieser Tage gewesen sein, an welchem ich wieder einmal mit zwei Seelen in der Brust meine Arbeit versah. Wir hatten zu dieser Zeit den Ausnahmeprofessor Lucius Burckhardt von der Gesamthochschule Kassel für ein Referat zu Gast (eines seiner Bücher trägt den Titel «Design ist unsichtbar»), und beim gemeinsamen Nachtessen, zusammen mit seiner Gattin Annemarie, klönte ich den beiden vermutlich etwas von der Schwierigkeit ins Gilet, die uns alle hier in Luzern mit dieser Bologna-Reform umtrieb. Ich war offiziell Vollstrecker von Vorgaben von ganz oben, gleichzeitig aber Sympathisant für jede Art von Anarchie an unserer Schule. Burckhardt hörte mir eine Weile zu und meinte dann trocken, er würde am liebsten einer Hochschule vorstehen, bei welcher zu Beginn des Studiums schon mal alle notwendigen Diplome und Studienabschlüsse ausgehändigt würden. «Und dann würden diejenigen, die noch mochten, mit der Arbeit beginnen. Ich glaube, eine solche freie Hochschule stünde an Produktion von Wissen und Lehrerfolgen besser da als jede durchsystematisierte Hochschule.»
Natürlich waren solche Überlegungen zur Lösung unserer Probleme nicht geeignet. Aber irgendwo löste Burckhardts Konzept bei mir einen gewissen Überdruck, nämlich dafür verantwortlich sein zu müssen, was aus einem Studierenden einmal werden wird. Angebote ja, doch die Lernbiografie jedes einzelnen ist immer noch wichtiger als ein verordneter Studiengang. Ich erinnerte mich dabei an mein eigenes Studium Jahrzehnte zuvor. Am meisten lernte ich in Kneipen und auf Reisen, im Kontakt mit interessanten Menschen, auch mit solchen, die nicht meine Wellenlänge hatten. In diesem merkwürdigen biografischen Gemisch wurde ich zu dem, was ich noch heute bin, und auf diesem Weg war ich auch mit gespaltenem Herzen fast zwölf Jahre Rektor einer Kunsthochschule.
So viel für heute aus Bologna. Es ist Pfingstsonntag und heiss. Die Abwaschmaschine läuft. Um das Netz nicht zu überlasten, haben wir während dieses Vorgangs die Klimaanlage abgeschaltet. Bald geht es zu einem Abendspaziergang mit dem frisch erworbenen Heiligen Geist über uns.
Professor Burckhardt übrigens wäre dieses Jahr 100 geworden. Ende Juni gibt es für ihn in Kassel eine Convention, organisiert von einem seiner Schüler, Prof. Martin Schmitz. Auch ich stehe im Programm und werde über meine Schwamendinger Führungen sprechen, die als leuchtendes Beispiel Aufnahme in die Spaziergangswissenschaften, der Promenadologie, gefunden hat. Auch so eine Idee von Burckhardt.
Die übrigen Tage
Gesagt ist gesagt. Getan ist getan. Ich bin nach Bologna gereist, um diese Stadt von meinen Erfahrungen mit der Bologna-Reform zu lösen. Ich glaube, mir ist das gelungen. Ich habe eine Stadt vorgefunden, für welche die Bologna-Reform nicht mehr als ein Vogelschiss ist. So werden die Verhältnisse wieder etwas zurechtgerückt. Hier haben die Etrusker und die Kelten schon gewirkt, und alles weitere, was später mit der Geschichte Italiens irgendwie im Zusammenhang steht, hat hier seinen Niederschlag gefunden. Ein Auf und Ab von Generationen, Völkerschaften, Herrschaften, Einflüssen, Kulturen, Kriegen und Hoffnungen, schön, klassisch und auch etwas langweilig aneinandergereiht im Museo Civico Archeologico di Bologna. Vielleicht gibt es hier dereinst auch eine kleine Sektion zur Bologna-Reform mit einem Gruppenfoto der Kultusminister Europas...
Die Bologna-Reform wurde ja nicht mit den Erfahrungen und Bedingungen eines künstlerischen Studiums generiert, sondern für Fächer wie Betriebswirtschaft und Technik. Die Tragik der Bologna-Reform liegt wohl eher in den Verrenkungen der Kunstausbildungen, sich diesem System angepasst haben zu müssen, und in der Einsicht, dass die Künste es verpasst haben, bei der Bologna-Reform eine signifikante Rolle zu spielen. Gleichwohl sind mit der Bologna-Reform seither schon Kohorten von MusikerInnen, DesignerInnen, Cineasten, GrafikerInnen, KünstlerInnen und TänzerInnen auf den freien Markt entlassen worden, wo sie sich, so beobachte ich, ebensogut metzgen wie Generationen vor ihnen.
Ich habe nur die Anfangszeiten der Bologna-Reform miterlebt, die in unseren Disziplinen eher als Verlust empfunden wurde. Und ich erlebte mich in meiner Position als Rektor in der zwiespältigen Lage, die Bologna-Reform als Chance preisen zu müssen, als Herausforderung, sich aus der Komfortzone herauszubegeben und neue Erfahrungen zu machen, so wie unsere Lehrkräfte die Studierenden seit je schon angetrieben haben, ihre eigene Komfortzone zu verlassen. Jetzt traf es einfach das Fach als ganzes, eine ganze Institution.
Im fraglichen archäologischen Museum gibt es übrigens zur Zeit eine Spezialausstellung zu Che Guevara. Der sah ja sowas von gut aus mit seinen 21 Jahren, als er als Medizinstudent, zusammen mit seinem Freund Alberto Granado auf einem Norton 18 Motorrad, genannt Poderosa II, durch Lateinamerika knatterte und sein Auge für schlimme soziale, revolutionsträchtige Zustände schärfte. Reich dokumentiert und mit ausserordentlich gekonntem Einsatz von neuen und interaktiven Medien wird hier das Bild eines werdenden und schliesslich an den real existierenden Verhätnissen gescheiterten Revolutionärs gezeichnet, eines Comandante, der alles auf einmal und alles zentral kontrolliert haben wollte, und dessen Vorbild Stalin war. Che vertrat die Idee eines umfassenden und rettenden kommunistischen Systems, und man sei mir bitte nicht böse, als mir irgendwann beim Ausstellungsbesuch die Bologna-Reform in den Sinn kam, die alle Studierenden glücklich zu machen versprach, weil sie ganz Europa als Bildungsspielwiese verstanden haben wollte, ungeachtet den Eigenheiten, die jede grosse Bildungsinstitution aufweist und sie dafür auch speziell macht.
Gleichentags stattete ich auch dem Museo per laMemoria di Ustica einen Besuch ab. Dieses umfasst eine Halle, in welcher die im Meer in der Nähe der Insel Ustica aufgefundenen Flugzeugteile der am 27. Juni 1980 abgestürzten DC-9 der Fluggesellschaft Itavia wieder halbwegs zu einem Flugzeugwrack zusammengesetzt worden sind. Die Tragödie des Unfalls mit 81 Passagieren, davon 13 Kinder und vier Besatzungsmitglieder, besteht nicht zuletzt auch darin, als über die Ursachen des Absturzes bis heute Unklarheit herrscht. Politiker und Armee sperrten sich gegen jede Untersuchung, die darauf abzielte, einen Raketenbeschuss nachzuweisen. Nach Bologna, wo die Unglücksmaschine mit Destination Palermo damals startete, ist also an ihrer Stelle ein Denkmal zurückgekehrt, künstlerisch-gestalterisch verfeinert und schlicht inszeniert von Christian Boltanski. – Mich hat diese Installation sehr beeindruckt. Für jeden Verunglückten glimmt jetzt über dem Wrack eine Lampe, einmal stärker, einmal schwächer, und in Kisten neben dem Wrack, den neugierigen Blicken des Besuchers entzogen, werden die gefundenen Habseligkeiten der verunglückten Passagieren aufbewahrt.