Vom 27.-29. Juni 2025 fand an der Kunsthochschule Kassel die vierte Convention zu Lucius Burckhardt statt, der heuer seinen 100. Geburtstag feiern würde. Burckhardt zählt zu den Gründern der Spaziergangwissenschaft. Ich wurde eingeladen, anlässlich dieser Tagung meine Erfahrungen mit meinen Führungen durch Schwamendingen darzulegen, die ich anfangs der 80er Jahre während einiger Sommermonaten veranstaltet habe.
Geschätzte Damen und Herren
Ich habe in den 80er Jahres des vergangenen Jahrhunderts Rundgänge durch den Alltag organisiert, ohne zu wissen, dass es dafür die Disziplin der Promenadologie gibt. Und ich bin mir noch heute nicht sicher, ob das, was ich damals veranstaltete, wirklich hardcore- Promenadologie ist. Ich wäre also froh, wenn zum Schluss meiner Ausführungen jemand vom Fach eine Beurteilung meiner damaligen Betätigung vornehmen würde.
Zum besseren Verständnis meiner Aktivitäten vorab noch dies: In der 70er Jahren studierte ich an der Universität Zürich Volkskunde, Ethnologie und Soziologie. Eine Kombination von Fächern, die es erlaubte, ein einmal gelesenes Buch in allen drei Fächern anwenden zu können. Während allerdings die Soziologie in jenen Jahren immer mehr zur Statistik driftete, was mich nicht so faszinierte, und die Ethnologie sich mit Vergleichen von Verwandtschaftsverhältnissen von Völkern in der Südsee beschäftigte, was mich als Einzelkind einer alleinerziehenden Mutter auch nicht sehr angezogen hat, geschah in der Volkskunde eine seltsame Wandlung. Weg von den angestammten Studienfeldern wie sterbendes Handwerk oder Bauernhausforschung, weg von der alpinen Landwirtschaft hin zu neuen Forschungsgebieten. Plötzlich traten Begriffe wie „Kultur von unten“, „Minderheiten“, „Migration“, „Statussymbolik“ und „Verhalten im öffentlichen Raum“ ins Gesichtsfeld. Der Tübinger Kulturwissenschafter Hermann Bausinger beeinflusste mit seinem Buch „Volkskunde, von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse“ das Fach in hohem Masse. In Zürich gab mein Professor, Arnold Niederer, dieselbe Richtung vor und animierte seine Studenten, sich mit Dingen zu befassen, die dem ungeübten Auge normalerweise verborgen bleiben. Ich zum Beispiel schrieb eine Abschlussarbeit über „Typische Verhaltensweisen von Benützern eines Grossstadtbahnhofs“. Inspiration holte ich mir dabei zum Beispiel bei den amüsanten und gleichermassen gescheiten Büchern von Ervin Goffman, dem genialen Sozialanthropologen, oder bei Norbert Elias mit seinem „Prozess der Zivilisation“.
Der Begriff des „Alltags“ als Basis dessen, was darin als ausserordentlich gilt, erhellte unser Bewusstsein. Plötzlich war das Alltägliche im Brennpunkt unseres Interessens, wogegen das Aussergewöhnliche nur davon ablenkte. Also rückten wir das Alltägliche ins Zentrum, und es war nur logisch, dass bald einmal die Idee aufkam, unter dem Titel „Der Alltag“ eine Zeitschrift zu gründen, deren Untertitel „Sensationen des Gewöhnlichen“ hiess. Die Sensationen sollten dabei aussen vor bleiben, das Gewöhnliche hingegen so sensationell und ausserordentlich wie möglich dargestellt werden.
Der Gründung dieser Zeitschrift vorausgegangen waren Talkshows mit Menschen wie du und ich. Wir sprachen vor Publikum mit Kioskfrauen, Buchhaltern und anderen „gewöhnlichen“ Menschen, verfertigten daraus ellenlange Gesprächsprotokolle und veröffentlichten diese in unserer neugegründeten Zeitschrift „Der Alltag“. Dass dies geht, hatten wir damals von Andy Warhol und seiner sensationellen Zeitschrift „Interview“ abgeschaut. Als Journalist, der ich damals auch war, interessierte mich das Experiment, mit „No-News“ Aufmerksamkeit zu erregen. Wie musste ein Beitrag formuliert und gestaltet sein, der vom Thema her grundsätzlich als langweilig gilt? Das interessierte mich.
Dem „Alltag“ war unter intellektuellen Feinschmeckerkreisen ein gewisser Erfolg beschieden. Nicht ausreichend, um davon leben zu können, aber doch so, um eine gewisse Aufmerksamkeit zu erzeugen, auch bei Lucius Burckhardt, der mich mit unserem Thema einmal zu einer Werkbundtagung nach Deutschland einlud. Kollege Walter Keller, der Mitbegründer der Zeitschrift, und ich bekamen durch unsere Tätigkeit einen gewissen Namen, der zu weiteren Aktivitäten anstachelte. Und jetzt komme ich zum Thema, zu meinen Führungen in Schwamendingen.
Schwamendingen ist der zwölfte, der letzte Stadtkreis von Zürich. In den Augen der restlichen Stadt galt er zu jener Zeit als extrem unattraktiv. Ich stiess bei meinen Freunden stets auf Unverständnis, wenn ich ihnen sagte, ich würde in Schwamendingen wohnen. Auch unsere Büros befanden sich in Schwamendingen. In der Tat fragte ich mich zu Anfang selbst, wie die Leute hier überhaupt wohnen können und ob sie sich dabei auch glücklich fühlen. Je mehr ich dieser Frage aber nachhing, umso mehr gewann das Quartier an Profil und Struktur und erwies sich als ideales Studienobjekt für Alltagsforschung.
An Schwamendingen lastete ein Stigma, was die Ausgangslage für meine Führungen noch reizvoller machte. Dieser Stadtteil wurde auf der grünen Wiese kurz nach dem 2. Weltkrieg und in den 50er Jahren erbaut. Der Anteil an Genossenschaftssiedlungen war sehr hoch, der höchste in der ganzen Stadt. Wie Sie wissen, geniessen Genossenschaftsbauten gewisse soziale Vorteile, zum Beispiel den, dass die Mieten dort ans Einkommen der bewohnenden Genossenschafter gekoppelt sind. Wer wenig verdiente, hauste relativ günstig. Dahinter steckte eine Finanzierung mit sozialem Geld, also Geld, das nicht aus Spekulationszwecken bereitgestellt wird und sich den Schwankungen der Finanzmärkte grossteils entzieht. Der ans Einkommen angepasste Mietpreis allerdings hatte zur Folge, dass jemand, der durch beruflichen Aufstieg mehr Geld in der Lohntüte hatte, plötzlich auch mehr für dieselbe Wohnung zu bezahlen hatte, eine Wohnung zudem, die qualitativ nicht sehr hohe Standards aufwies. Die Wände waren ringhörig, die Nachbarn konnten ohne dabei die Ohren spitzen zu müssen lauschen, wenn gestritten wurde oder wenn jemand aufs Klo kacken ging. So begannen die Menschen mit besser gefüllten Lohntüten sich nach besserem Wohnraum in angesagterer Umgebung umzusehen. Zurück aber blieben diejenigen mit kleinem Lohn, Arbeiter halt, Zugezogene, Migranten. Über die Jahre prägten sie so immer stärker das Bild dieses Quartiers. Kleinbürgerlich, langweilig, eng, konservativ. Und war der Ruf erst einmal ruiniert, so wucherten Gerüchte, die Kriminalität sei dort höher als anderswo, was statistisch gar nicht nachweisbar war. Die Kinder von Schwamendingen galten als ungezogen. Und in der Tat gab es in Schwamendingen eine wesentlich geringere Übertrittsquote an höhere Schulen wie zum Beispiel ans Gymnasium. So bekam Schwamendingen den Stempel einer unattraktiven Zone, eines Niemandlandes.
Und noch etwas: in Schwamendingen wurde fast ausschliesslich gewohnt. Rund 30.000 Einwohner lebten damals in Schwamendingen, Arbeitsplätze und Kleingewerbe gab es kaum.. Es gab auch kaum Gewerbe im Quartier, kaum Arbeitsplätze, es war ein typisches Pendlerquartier mit vielen grünen Witwen und Kleinkindern tagsüber. Abends kam dann der berufstätige Teil der Familie mit Tram und Bus nach Hause und setzte sich vor den Fernseher. Das war es dann. Wenn das nicht Alltag ist.
Vor diesem Hintergrund und mit der Mission, Alltag sichtbar zu machen, begann ich 1983, Führungen durch dieses Niemandsland zu organisieren. Sie sollten mir in den Sommermonaten während mehrerer Jahre ein gewisses Grundeinkommen ermöglichen.
Wer wurde angesprochen, wer biss an und liess sich zu einer Führung motivieren?
è Zunächst Menschen, die mich von der Zeitschrift „Der Alltag“ her schon kannten. Für sie war es eine gewisse logische Fortentwicklung der Idee, Alltag sichtbar zu machen. Als sich um diese Führungen der Ruf verbreitete, sie seien ungewöhnlich und attraktiv, gab es einen immer grösseren Interessenkreis. So kamen jeden Samstag 20-30 Neugierige zusammen, um in Schwamendingen einen Nachmittag zu verbringen.
Welche Erwartungen waren damit verbunden?
è Neugier zu erfahren, was spannend sein könnte an diesem langweiligen Quartier, interessiert, zu erfahren, ob Schwamendingen entgegen des weitverbreiteten Vorurteils doch etwas "hergeben" könnte. Wirft das Gewöhnliche einen gewissen Mehrwert an Welterfahrung ab? Nicht ausser Acht zu lassen war auch das Selbstbild der Teilnehmenden: sich selbst nämlich für originell zu halten und deshalb etwas Ungewöhnliches zu machen, sich selbst also einer ausserordentlichen Erfahrung auszusetzen.
Wie sah so eine Führung aus?
è Besammlung in Oerlikon. Verteilen der Fahrscheine für die Benützung des öffentlichen Verkehrs.
o Ca. 1 Stunde gemeinsame Wanderung durch Schwamendingen
o Besuch einer Bäckerei oder einer Metzgerei, Einkauf eines Gastgeschenkes
o Aufteilung in Kleingruppen, Besuch von Gastgeberfamilien, die ich durch Aufrufe rekrutieren konnte. Tee, Kaffee oder Bier dortselbst. Auflösung dort nach Bedarf.
Merkmale der Führung:
è Die Gruppe konnte entscheiden, durch welche Strassen die Führung gehen soll. Betonen des Gewöhnlichen
è Innen vs. Aussen. Was für einen Besucher als Einerlei empfunden wurde, hatte für die Bewohner sehr unterschiedliche Strukturen:
o Gerüche in den Treppenhäusern
o Die Persönlichkeit der jeweiligen Hausabwarte
o Ringhörigkeit der Häuser, Strategien dagegen
o Ferienverhalten
o Die persönlichen Erlebnisse und Verhältnisse zur Nachbarschaft
o Bei den Jugendlichen der erste Kuss (emotionale Aufladung des „Tatorts“)
o Fluchtwege der Jungen (ab ins Shopping Center nach Wallisellen)
o Versteck für Auswärtige (diskrete Prostitution im Niemandsland)
o Auch dieses Quartier verfügt über eine nennenswerte Geschichte
§ Landwirtschaft, Brachland;
§ Im Winter: Eisgewinnung;
§ Melioration/Begradigung der Glatt;
§ Erstes Bundesgerichtsurteil über die Besitzverhältnisse im Wald: Grenzziehung entlang der Streitholzstrasse;
§ Fuhrwerkerei
§ Schüler mussten früher im Winter das Holz für das Heizen des Ofens im Bosshard-Schulhaus selbst mitbringen;
§ Armut der Bauern führte zu Arbeit in der Maschinenfabrik in Oerlikon drüben;
§ Fuhrwerkerei;
§ Eingemeindung 1934. Aufgabe der politischen Selbständigkeit, Identifizierung des Gebiets als Nutzungsraum für Wohnbauten.
è Kritik
o Manche Beobachter störten sich an dieser Art der Zurschaustellung eines Quartiers und der Bewohnerinnen und Bewohner. Das sei wie ein Besuch im Zoo.
o Meine Beobachtung neigte zum Gegenteil: Das Selbstdarstellungsbedürfnis der Gastgeber-Familien war immens, die Freude, wahrgenommen zu werden im eigenen Quartier, führte dazu, dass sie ihre Besuche gar nicht mehr gehen lassen wollten. Sie zeigten ihnen Lichtbilder ihrer letzten Ferienreise und führten, wo vorhanden, die Modelleisenbahnanlage im Keller vor.
So, und jetzt meine Damen und Herren, liegt es an Ihnen zu beurteilen, ob diese Schwamendinger Führungen zur Promenadologie gezählt werden können oder nicht. Ich danke für die Aufmerksamkeit.
[Die Reaktion der Zuhörerschaft fiel überraschend positiv aus.]