Dienstag, 13. Dezember 2016

Crème brûlée

Meine beiden Grossmütter brannten sich in meinen Erinnerungen als fabelhafte Köchinnen ein. Insbesondere ihre Dessert-Cremen waren grosse Küche. Solche Leckereien entschädigten mich jeweils für die etwas langweiligen Besuche, fürs Anprobieren der Stricksocken und für die feuchten Willkommens- und Abschiedsküsse.
Die eine Grossmutter wohnte in St. Gallen, die andere in Biel. So fabelhaft die Süssspeisen, so unterschiedlich aber ihre Reaktionen zum Schluss. Wenn ich in Biel satt war und noch etwas Creme in der Schüssel übrig liess, so huschte ein befriedigtes Lächeln über Grossmutters Gesicht. Denn meine Sättigung bestätigte sie in ihrem Bestreben, genug Creme bereitgestellt zu haben. Sie wollte doch nicht den Eindruck aufkommen lassen, sie sei geizig und der Bub werde hungrig vom Tisch entlassen. Resten bestätigten ihre Grosszügigkeit und Gastfreundschaft.
Wehe aber in St. Gallen. Dort war das Stehenlassen von Cremeresten der sichtbare Beweis, dass mit der Süssspeise etwas nicht in Ordnung war. Wie sonst wäre zu erklären, dass ich nicht die ganze Portion verschlang, so jung und gierig ich doch war? Diese Grossmutter löcherte mich dann mit Fragen, ob sie etwa zu wenig Zucker hineingeschüttet habe? Oder ob es an den eingemischten Früchten gelegen haben mochte? – Meine Antwort, ich hätte einfach genug gehabt, konnte sie nicht gelten lassen.
Diese Geschichte hat keine Moral. Beide Grossmütter meinten es gut und taten ihr bestes, mich zu verwöhnen, jede auf ihre Art.
 
(Erschienen als Editorial im Kirchenboten Schlieren, August 2016)

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