Dienstag, 13. Dezember 2016

Freundschaftliches Schweigen

Wir hatten uns zu einem Spaziergang verabredet, der Japaner Y. und ich. Die Begegnung behalte ich als äusserst zähflüssig in Erinnerung. In meiner Wahrnehmung wussten wir uns nichts zu sagen. Ich war froh, mich von ihm bald darauf wieder verabschieden zu dürfen. Er aber bedankte sich für die Zusammenkunft. Es sei selten, sagte er mir zum Schluss, dass man bei einem ersten Treffen schon so gut schweigen könne. Das Schweigen sei schliesslich Zeichen von Vertrautheit, und diese stelle sich normalerweise erst später ein.
 Y. erwischte mich auf dem falschen Fuss. Keinen Augenblick hatte ich an eine solche Einschätzung unserer Begegnung gedacht. Ich selber verbinde Schweigen erst einmal mit Verlegenheit, mit Desinteresse, eventuell mit passiver Aggression. Positives Schweigen stellt sich für mich erst dann ein, wenn man sich gut versteht, wenn man weiss, was das Schweigen bedeutet, nach Monaten vielleicht, nach Jahren. Dass aber meine Wortlosigkeit gegenüber diesem fremden Mann einen Wohlfühl-Aspekt aufwies, ja eine Auszeichnung unseres Verhältnisses darstellte, das hat mich geradezu umgehauen. Ich kannte ihn doch gar nicht, und nach diesem Spaziergang hätte ich ihn auch gar nicht noch besser kennenlernen wollen.
Gleichwohl stellt sich heute bei mir Dankbarkeit ein, wenn ich an Y. denke. Immerhin zeigte er mir, dass Wortlosigkeit mehr bedeutet, als ich für möglich gehalten hätte. Die Begegnung lehrte mich, mit Urteilen vorsichtiger zu sein und auch unbeabsichtigte Wirkungen zu bedenken. 

(Erschienen im Kirchenboten Schlieren, Sommer 2016) 

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