Dienstag, 13. Dezember 2016

Der erste Kuss

Niemand bestreitet, dass es schönere, spannendere und somit attraktive Stadtquartiere gibt, die sich von langweiligeren unterscheiden. Bei der Beurteilung einer Stadt, die einem zusagt, werden als Beispiele immer die vorzeigbaren Quartiere angeführt, die Postkarten-Sujets, während man die hässlicheren Teile aussen vor lässt, obwohl sich diese in fast jeder noch so schönen Stadt finden lassen. Will man hingegen betonen, wie ungern man eine Stadt mag, so weist man mit Nachdruck auf diese hässlichen Quartiere hin, obwohl sich in jeder Stadt Ecken finden lassen, welche diese Behauptung Lügen strafen.
Was bei diesen Beurteilungen etwas verloren geht, ist das subjektive Stadt-Erlebnis der Bewohnerinnen und Bewohner. Sie sehen ihre Umgebung in anderer Weise als zufällige Besucher. Ihnen ist wichtiger, wo die nächsten Einkaufsgelegenheiten zu finden sind als die Farbe der Fassade. Sie legen mehr Wert auf die Verbindungen des öffentlichen Verkehrs und die Verfügbarkeit von Parkplätzen als auf allfällige Kunst im öffentlichen Raum.
Mich beeindrucken immer wieder Erzählungen von Menschen, welche ihre Jugendzeit in Stadtteilen verbracht haben, welche für den flüchtigen Touristen als unattraktiv gelten. In Schwamendingen zum Beispiel, oder in Schlieren. Sie berichten von einer Umgebung, die ich nicht zu sehen vermag. Sie erinnern sich an tolle und verrückte Begebenheiten, die im Kopf der Betroffenen Spuren hinterlassen haben, die sich aber an den Gemäuern und am Rasen vor den Häusern nicht ablesen lassen.
Dazu gehört der erste Kuss. Fast jeder weiss noch ganz genau, wo er stattgefunden hat, er gehört sozusagen zu den Schlüsselerlebnissen jeder Biografie. Der Busch oder der Hauseingang oder das Vordach wandeln sich für sie zum Hotspot, und das ganze Quartier wird für sie ein Leben lang in einem ganz besonderen Licht erleuchten, unabhängig davon, ob es für uns anderen als attraktiv gilt oder nicht. 

(Erschienen im Kirchenboten Schlieren, Herbst 2016)

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