Mittwoch, 17. August 2022

Der 20. Todestag

 

Ich weiss nicht, ob es ein Ritual gibt, den 20. Todestag der eigenen Mutter zu begehen, der man immerhin sein Leben und sein eigenes Werden verdankt. Manche begeben sich vermutlich zum Friedhof und legen gedankenvoll ein paar Blumen aufs Grab. Oft ist dies das letzte Mal, weil in vielen Gemeinden die offizielle Liegezeit nach 20 Jahren zu Ende geht. Gut, Verlängerungen sind auf Antrag möglich, sofern Platz vorhanden und man willens ist, dafür zu bezahlen. Ich bin gespannt, ob die Stadtverwaltung mich bald über die Aufhebung des Urnengrabes orientieren wird, oder ob sie damit noch etwas zuwartet, vielleicht auch im Wissen darum, dass meine Mutter zu ihren Lebzeiten als Journalistin und Schriftstellerin in der Öffentlichkeit eine gewisse Rolle gespielt hat. Im Friedhof Rehalp jedenfalls werden von unbekannten Besucherinnen immer mal wieder Steinchen auf ihren Grabstein gelegt, was besagt, dass sie für manche noch in lebendiger Erinnerung geblieben ist.

Meine Mutter starb am 21. August 2002. Ich schrieb darüber unter dem Titel Die Mutter als Leiche einen Text. Er stammt aus dem Jahre 2018 und wurde bis dato 1012 Male angeklickt. Er fand auch in meinem Büchlein Auf dem Amakong Eingang.

Es wird mir nicht möglich sein, an diesem Tag Blumen auf ihr Grab zu legen. Ich lebe seit geraumer Zeit in Kolumbien, 9075,06 km Luftlinie von Zürich entfernt, wohin ich schon einmal, anfangs der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, auswanderte, es damals aber nicht schaffte, dort richtig Fuss zu fassen. Meine Mutter wollte mich damals in Begleitung ihrer Freundin, der Modeschöpferin Hilde Haller, besuchen kommen. Doch ich lehnte entschieden ab. Zu unfertig kam ich mir selbst vor, und den Blick meiner Mutter, von welcher ich mich damals eigentlich emanzipieren wollte, hätte ich kaum ausgehalten. Aus heutiger Sicht tut mir diese Rückweisung leid.

Und noch etwas kommt mir in diesem Zusammenhang in den Sinn. Ich fuhr damals den Amazonas hinunter. Auch darüber habe ich geschrieben. Allerdings liess ich folgende Begebenheit aus: am Schluss meiner Flussreise, in Belém, wurde mir sämtliches Gepäck gestohlen. Ich trat die Weiterreise nach Brasília und São Paulo ohne Kleider zum Wechseln und ohne Geld an, ausgestattet lediglich mit einem Busbillett und dem Reisepass. Beides hatte ich beim Raub in meiner Unterhose versteckt.

Diese mehrtätige Busreise durch den Dschungel ohne Gepäck und Cruzeiros vermittelte mir das wohl grösste Glücksgefühl, das ich in meinem Leben je empfunden habe. Die Mitreisenden spendeten mir etwas zum Essen, bezahlten mir unterwegs sogar einen Duschgang, und ich gab mich leichtsinnig, ja, euphorisch der Meinung hin, das sei das wahre Leben: Mittel- und sorglos vorwärtszukommen.

In São Paulo jedoch war es winterlich kalt, und ich suchte das Schweizer Konsulat auf, um etwas Geld für einen Pullover und für Unterwäsche zu erbitten. Dort empfing mich Madame Mazloum. Bei ihr musste ich mein schütteres Französisch hervorklauben. Sie erkundigte sich auch nach meinem Elternhaus, worauf sie meiner Mutter nach Zürich kabelte. Einen Tag später überreichte mir Mme Mazloum im Auftrag meiner Mutter Geld im Wert von 500 Franken. Damals viel Geld! Statt Dankbarkeit zu bekunden, wurde ich aber wütend: Jetzt habe ich doch eine so weite Reise unternommen, um mich endlich selbständig zu fühlen, und plötzlich hänge ich wieder am rettenden Rockzipfel meiner Mutter! In diesem Moment vermochte ich nicht zu erkennen, dass Mütter so sind und nur das Beste für ihre Kinder wünschen. – Mein Zorn hätte sich eigentlich auf mich selbst richten müssen, denn er zeigte nur, dass die Abnabelung noch nicht vollzogen war und ich wohl nicht reif war für ein selbständiges Leben in der Ferne.

Meine dummen Gefühlswallungen von São Paulo taten mir in der Folge unsäglich leid. Ich weiss gar nicht, ob meine Mutter mir dafür böse war. Vielleicht wunderte sie sich einfach, dass ich die zu Recht erwartete Dankbarkeit vermissen liess. Doch auch das war meine Mutter: sie verzieh selbst die unangebrachteste Gefühlsregung ihres Sohnes.

Nun ist sie also seit 20 Jahren tot. Wir lassen uns weitgehend in Ruhe. Doch kürzlich trat sie in meinen Gedanken wieder stärker ins Blickfeld, als ich mit meinem Poesiefreund Miguel Angel das folgende Gedicht las. Es gehört zu meinen kostbarsten Momenten hier in Bogotá, einmal in der Woche seinen Besuch zu empfangen. Er bringt jeweils ein paar Gedichte lateinamerikanischer Autoren mit, die wir dann gemeinsam lesen. Daraus ergeben sich oft wunderbare Gespräche. Ich gerate aber in Panik beim Gedanken, dass er wegen seines Doktorats in diesem Herbst für ein paar Jahre nach Barcelona ziehen wird. In meiner gemeinen Fantasie pflege ich bereits die verwerfliche Vorstellung, Europa werde wegen Energie- und Wassernöten und wegen dieser schrecklichen Kriegsgurgel Putin gar nicht mehr bewohnbar sein und somit auch die Reise dieses Miguel Angel vereiteln. In solchen Momenten komme ich mir in Bogotá schon fast wie auf einer Insel der Glückseligen vor, weil es hier immer kühl ist (bis kalt), und der tropikale Regen für genug Wassernachschub sorgt. Ich weiss, angesichts des Elends rund herum ist dies ein schiefes Bild, doch angesichts des absehbaren Verlustes unvermeidbar. – Das folgende Gedicht, das ich in der vergangenen Woche mit Miguel Angel lesen durfte, stammt von der Kolumbianerin Eliana Maldonado Cano. Es heisst Alba (= Sonnenaufgang/Morgenröte) und beginnt mit einem Zitat von Sergei Alexandrowitsch Jessenin: In diesem Leben ist sterben nicht neu und leben ebenso wenig. Ich habe Alba auf die Schnelle ins Deutsche übersetzt. Es geht so:

---

Alba

Sterben ist nicht neu in diesem Leben.

Das Neue ist, geboren zu werden,

Das Verlassen der Gebärmutter,

Das Spüren der abgebrühten, dichten Luft

Eines alten Krankenhauses,

In wollenen Tüchern gewickelt,

Der Wärme der Mutter beraubt.

In diesem Leben ist das Sterben nicht neu,

Das Neue ist, tot zu sein.

Ich weiss nicht, wo es sein wird,

Ich weiss nicht wann.

In diesem Leben ist das Sterben nicht neu,

Das Neue ist, jeden Morgen aufzustehen,

Einzuatmen die fremde Luft dieser Stadt

Mit geschwellter Brust.

Was neu ist, ist die Strasse,

Menschen mit traurigem Blick,

Die Hand, welche für die Busfahrt

Die letzten fünf Münzen bekommt,

Das Neue ist der Kuss,

Die Haut eines Fremden,

Die Worte «Ich lebe».

Was neu ist, ist das Messer auf der Haut,

Das aus irgendeinem Grund nicht in der Lage ist, sie zu durchdringen,

Neu ist das kontinuierliche Pochen des Herzens.

In diesem Leben ist das Sterben nicht neu,

Doch jeden Morgen aufzustehen,

Das ist neu.

 ---

Meine Mutter konnte das Neue, den Tod, die letzten zwanzig Jahre schon etwas kennenlernen. Sie wird sich daran gewöhnt haben (was bleibt ihr anderes übrig?), während wir uns hier immer noch mit dem wohlbekannten Sterben abmühen und versuchen, jeden Tag neu anzugehen.

Soweit meine gedanklichen Blumen aufs Grab meiner Mutter zu ihrem 20. Todestag.

 © Nikolaus Wyss

________

Und hier noch die weiteren Blog-Einträge auf einen Blick 


Sonntag, 17. Juli 2022

KiöR in Buenaventura

Im Stadtpark von Buenaventura stehen neuerdings die drei chinesischen Gottheiten Fu Xing (der Glücksbringer), Lu Xing (zuständig für Prosperität) und Shou Xing (steht für langes Leben)

Zu den dreien gehört als vierter, um Köpfe grösser, ein lächelnder Buddha


Auch im Stadtpark von Buenaventura: eine lädierte, schattenspendende Schiffsschraube
Niemand weiss, wer veranlasst hat, diese Fulushou-Gruppe und den Buddha nach Buenaventura zu verfrachten. Und lange Zeit wusste niemand, dass sie überhaupt da sind, eingelagert in einem Schuppen der Hafenpolizei. Wahrscheinlich klappte es damals nicht mit den Einfuhrzoll-Papieren. Vielleicht verstarb der Empfänger zwischenzeitlich, oder er war nicht bereit, die erforderlichen Bestechungsgelder für die speditive administrative Abwicklung zu bezahlen. Item, die überlebensgrossen, gewichtigen (rund 25 Tonnen schweren) Marmor-Statuen fristeten ein jahrzehntelanges Dasein im Dunkel einer feuchten Lagerhalle.

Dass Chinesen in der Geschichte der kolumbianischen Hafenstadt am Pazifik eine Rolle spielten, ist hingegen wohlbekannt. Im Verlaufe des zweiten japanisch-chinesischen Krieges von 1937-1945 flohen viele Chinesen vor den japanischen Gräueltaten nach Peru und Ecuador, und manche landeten auch im kolumbianischen Buenaventura, wo sie als Händler, Ingenieure,  Hafenarbeiter, Baumeister, Ärzte und Wirte ein Auskommen fanden und dieser Hafenstadt ein internationales Gepräge verliehen. Sogar einen Monte Chino gibt es, weil auf dieser Anhöhe ein gewisser John Su, der offenbar dem Teufel vom Karren gesprungen war und den bürgerlichen Anschluss in seiner neuen Heimat nicht gefunden hat, als Stadtstreicher seine Runden drehte. Auch wenn Spanischkenntnisse bei manchen von ihnen wohl rudimentär geblieben sein dürften, so hispanisierten sie ihre Namen und wurden von den Einheimischen beispielsweise «el chino Juan» oder «la china Eliana» genannt. Sie betrieben einen eigenen Club im Quartier El Cable mit Balkonblick aufs Meer und beerdigten ihre Angehörigen in einem eigens für sie angelegten chinesischen Friedhof, dem einzigen übrigens in ganz Kolumbien. Mag gut sein, dass aus diesen Kreisen damals die Bestellung dieser vier Gottheiten getätigt wurde, vielleicht als Neujahrgeschenk eines zu Reichtum gekommenen Chinesen. 

Mittlerweile ist aber der Einfluss dieser chinesischen Immigranten auf ein Minimum geschrumpft. Die heute in der Stadt sichtbaren Chinesen kümmern sich im Auftrag chinesischer Firmen um das Funktionieren des grossen Hafens oder betreuen den Import chinesischer Waren ins Inland. Sie sind sozusagen Handlanger ihres Staatspräsidenten Xi Ji Pin und haben wohl kaum im Sinn, hier ansässig zu werden. Die Stadt ist heute verlottert, von Kolumbiens Zentralregierung sträflich vernachlässigt und in gleitendem Niedergang begriffen. Zudem im Würgegriff von Drogenbanden. Nicht gerade die beste Adresse für Neuankömmlinge. Eine arg lädierte Schiffschraube im Stadtpark von Buenaventura versinnbildlicht den Zustand dieser Hafenstadt, in welchem, etwas verloren aber in Sichtdistanz zum Schiffsrelikt, jetzt neuerdings auch die vier chinesischen Statuen aufgestellt worden sind. Ihre Bedeutung und ihre Wirkkraft sind vonnöten. Mögen sie Glück, Wohlstand und langes Leben ermöglichen. Ihre fröhliche Inbesitznahme durch die einheimische Bevölkerung als beliebtes Fotosujet ist geglückt, und der Buddha strahlt die Gelassenheit aus, die es braucht, um an eine prosperierende Zukunft dieser Stadt noch zu glauben. 

P.S. «Kiör» ist die hässliche Wortschöpfung der Zürcher Verwaltung für den Begriff «Kunst im öffentlichen Raum». Ich las dieses Kürzel zum ersten Mal im Zusammenhang mit der künstlerischen Gestaltung des Dachs der Schwamendinger Autobahn-Einhausung. Weiss Gott warum, hier in Buenaventura kam es mir wieder in den Sinn.  

 ©Nikolaus Wyss

UND HIER MIT EINEM CLICK ZU DEN WEITEREN EINTRAGUNGEN DIESES BLOGS, zum Beispiel zu meinem früheren Eintrag über Buenaventura: Treppauf und -ab in B'tura         

Dienstag, 12. Juli 2022

Meine Mexiko-Wochen

Wasserplausch in einem der Brunnen auf der Alamenda Central

 

Aus Anlass ihres Geburtstags vom 13. Juli der Schriftstellerin Milena Moser und ihrem aus Mexiko stammenden Ehemann, dem Künstler Victor Mario Zaballa, herzlich zugeeignet

 

    Herrn Grüninger ging der Ruf voraus, ein erfolgreicher Werbe- und Kampagnenfachmann zu sein. Er fuhr einen silbergrauen Ro 80 der Marke Audi/NSU, eines der wenigen Serienfahrzeuge mit Wankelmotor. Damals war noch nicht bekannt, dass es sich bei diesem Modell um ein zum Scheitern verurteiltes, reparaturanfälliges Fahrzeug handelte. Es repräsentierte vielmehr eine neue, vielversprechende Antriebstechnik und verlieh den Besitzern den Glanz, fortschrittlicher und erfolgsverwöhnter Gesinnung zu sein.

Als ich erfuhr, dass Herr Grüninger im Auftrag des mexikanischen Tourismusministeriums in der Schweiz Mexiko-Wochen veranstalten wollte, bewarb ich mich als Mitarbeiter. Frisch aus Lateinamerika zurückgekehrt und mit leidlichen Spanischkenntnissen versehen, versprach ich mir davon eine Möglichkeit, ohne den mühsamen Umweg über ein Studium ins Werbegeschäft einsteigen zu können, um in wenigen Jahren selbst stolzer Besitzer eines Ro 80 zu werden, vielleicht dann schon eines Nachfolgemodells, eines Ro 85 zum Beispiel… Ich war von Anfang an vom Erfolg dieser Kampagne überzeugt. Die eindrücklichen Olympischen Spiele von Mexico-City im Jahre 1968 waren damals bei allen noch in bester Erinnerung. Man hatte anfänglich den Latinos die Durchführung eines so gigantischen Vorhabens nicht zugetraut. Deshalb war der Respekt gross, als die Olympiade vor den Augen der ganzen Welt zu einem fulminanten Erfolg wurde und allen bewies, dass Mexiko zweifellos zu den Ländern gehörte, denen alles zuzutrauen ist.

    Von der Vorzimmerdame vorgelassen, versprach mir Señor Grüninger zwar ein mieses Honorar doch immerhin darin eingebunden eine Reise nach Mexiko. Für mich Verlockung genug, den in Aussicht gestellten Job anzunehmen.

Die Erinnerung an die mir auferlegten Aufgaben lässt mich allerdings im Stich. Einzig der Einzug des Mariachi-Orchesters ins Einkaufszentrum Glatt habe ich noch vor Augen mit seinen grellen Trompetenstössen, den Riesensombreros und den glitzernden Anzügen. Es trieb eine Gruppe von Folklore-Tänzerinnen vor sich her. Und bei den verschiedenen offiziellen Dinner-Veranstaltungen mit all den Tacos und Tortillas beeindruckten mich immer wieder die voll mit Haargel eingewirkten schwarzen Haare der Abgesandten des mexikanischen Tourismusministeriums. Mir entging dabei nicht, dass das Gel Spuren auf deren Kragen hinterliessen, und ich fragte mich, wie viele Hemden sie wohl eingepackt haben mochten. Sie alle logierten im damaligen Hotel Zürich hinter dem Landesmuseum an der Limmat. In Erinnerung bleibt mir allerdings die Mitteilung Grüningers später beim Debriefing, dass das Budget jetzt doch nicht für ein Flugticket nach Mexiko reichen würde. – Als Jahre später ruchbar wurde, dass der Ro 80 mit seinem Motor grosse Probleme verursache, bemächtigte mich eine gewisse Satisfaktion.

    Das mögen jetzt gute 50 Jahre her sein. Von Kolumbien herkommend befinde ich mich wieder einmal für eine Woche in Mexico-City. Der Abstecher hierher hat bei mir schon fast Tradition. Diese Megacity vermittelt mir ein urbanes Feeling, das ich in Bogotá zuweilen schmerzlich vermisse. Hier gibt es U-Bahn-Linien, Doppelstock-Busse, Strassenrestaurants, beeindruckende Museen und Kunstausstellungen, Strassen mit weniger Löchern und mit üppigem und schattenspendendem Baumbestand, und hier sind Schuhgrössen von 43 an aufwärts auch leichter zu finden, obwohl die Mexikaner nicht unbedingt grösser sind als die Kolumbianer. Der Helikopter-Lärm gehört zum städtischen Alltag: die Wolkenkratzer längs der Reforma, der mexikanischen Version der Pariser «Champs-Elysées», verfügen zuoberst reihum über Landeplätze.

    Heute Nachmittag sitze ich auf einer schattigen Bank in der Alameda Central, dem grossen, gut gepflegten und mit vielen schönen Bäumen ausgestatteten Volkspark der Stadt. Aus dem Nichts tauchten vorhin die paar Erinnerungen an Herrn Grüninger auf, die ich jetzt in meinem Notizbuch festhalte. Um mich herum promenieren Familien und Liebespaare, Rollbrettfahrer sausen vorbei, und Strassenwischer bemühen sich unentwegt, Weggeworfenes und Blätter einzusammeln. Weiter vorn plantschen Kinder in den diversen Brunnen und kreischen vor Glück. Gegen Abend werden dort ambulante Diskotheken aufgestellt, aus deren Lautsprechern rhythmische Volksweisen plärren. Im Handumdrehen verwandelt sich dann der Park zur vielgestaltigen Tanzfläche.

    Die Alameda Central wird ostwärts umsäumt vom opulenten Palacio de Bellas Artes mit unterirdischer Parkgarage, im Norden von der Avenida Hidalgo, die wegen der Bretterverschläge auf der anderen Seite etwas unattraktiv wirkt, und im Süden von der Avenida Benito Juárez, die weiter vorn auf das Revolutionsdenkmal zuläuft, hier aber mit Hotels und Geschäften auftrumpft und Strassenmusiker anzieht.

    Ich befinde mich in einer grünen Oase des Friedens und der Erholung, die zuweilen aber auch Zufluchtsort wird, wenn wieder einmal Demonstrierende auf ihrem Weg zum Zócalo, dem grossen, zentralen Platz der Verfassung mit seiner riesigen Nationalflagge in der Mitte und der imposanten Kathedrale auf der einen Seite, von der Polizei mit Tränengas auseinandergetrieben werden. Dann kommen sie in den Park gerannt und versuchen, an den Brunnen das Reizgas aus den Augen zu waschen. Das letzte Mal protestierten sie gegen das Vergessen von 43 jungen Menschen, die schon vor Jahren spurlos aus dem Weg geräumt worden sind. Regierung und Behörden scheinen bis zum heutigen Tage nicht fähig oder willens, dieses unfassbare Massaker aufzuklären. Stecken sie mit der skrupellosen Mafia unter einer Decke?

    Im Wissen um solche Grausamkeiten, und es gibt viele dieser Art in Mexiko, man kann in der lokalen Presse jeden Tag von umgebrachten Journalisten und unliebsamen Politikern lesen, von Drogenbanden, die ganze Stadtteile tyrannisieren, bekommt die Alameda eine andere Färbung. Ist sie vielleicht nicht nur Zufluchtsort verfolgter Demonstranten, sondern auch Erholungsort von Menschen, die eigentlich Dreck am Stecken haben und hier im Park mit ihren Familien aber so tun, als sei alles paletti?

    Was weiss ich schon von diesem Mann dort drüben, der liebevoll seinen zweijährigen, o-beinigen Knirps unter dem Beifall der versammelten Familie spazieren führt? Was weiss ich schon von dieser Frau dort hinten, die etwas nervös in ihrer Handtasche nestelt, um ihr klingelndes Handy herauszufischen? Wer ruft sie an? Ihre Freundin? Oder vielleicht doch ein Mafioso oder Zuhälter? Was ist mit diesen Polizisten hier, die meine Ausweispapiere verlangen und sie erst wieder zurückgeben könnten, wenn ihnen die Summe der Pesos, die ich in Aussicht stelle, angemessen scheint?

    Plötzlich füllt sich dieser Park mit Verdächtigen. Selbst ich stelle mich plötzlich unter Generalverdacht. Gebe ich nicht lediglich vor, ein paar Zeilen in mein Notizbuch zu schreiben, während ich eigentlich Ausschau halte nach einem hübschen Boy, den ich verführen könnte? Und wenn wir uns dann im Hinterzimmer einer stinkigen Absteige auskleiden, würde sich das Blatt wenden. Der Junge liesse verlauten, ich würde mit Schwierigkeiten und Gefängnis zu rechnen haben, denn er sei noch minderjährig, was sich aber lösen lasse, wenn ich ihm sofort eine ordentliche Summe Geld aushändige. Und beim Verlassen des Hauses würde ich ausserdem entdecken, dass mein Handy weg ist…

    Wie würde ich vor diesem Hintergrund heutzutage für die Schweiz Mexiko-Wochen gestalten? Erster Gedanke: ich rate davon ab. Zweiter Gedanke: damit verrate ich aber meine Begeisterung für diese Stadt, für dieses Land. Dritter Gedanke: die politisch-gesellschaftliche Problematik müsste wenigstens ansatzweise auch zur Darstellung gebracht werden – neben den feinen Tacos und den trompetenschmetternden Mariachis! Würde das mexikanische Tourismusministerium dazu Hand bieten? – An der Benito Juárez, also grad hinter mir, eröffnete kürzlich das Museum Memoria y Tolerancia. Die obersten zwei Stockwerke sind dem Dritten Reich und dem Holocaust gewidmet. Man sieht Filme aus jener Zeit, Militärparaden, Göbbels, Hitler natürlich, ausgemergelte, geschundene Menschen in Konzentrationslagern, dann Dokumente der Nürnberger Prozesse. Ein weiteres Stockwerk fasst in Fotos und Texten die Gräueltaten zusammen, wie sie in Ruanda, Guatemala, Kambodscha, Ex-Jugoslawien und an anderen Orten begangen wurden. Auf einem weiteren Stockwerk schliesslich werden die Unrechtmässigkeiten von Mexiko thematisiert. Allerdings, so scheint mir, mit Samthandschuhen, als ob sich die Verantwortlichen einer gewissen Selbstzensur unterworfen und Tolerancia gegenüber den Vergehen und Schandtaten im eigenen Land geübt hätten. Es gibt zwar eine Wand, auf welcher einigen der wichtigen Persönlichkeiten, die im Laufe der Zeit, umgebracht worden sind, gedacht wird, doch ans Herz, Mitleid und Entsetzen geht das nicht. In Netflix-Serien erfährt man wesentlich mehr dazu, selbst wenn nicht alles hundert Prozent historisch faktengerecht sein mag.

    Da scheint mir mein Kolumbien in der Aufarbeitung seiner grausamen Bürgerkriegsvergangenheit einen Schritt weiter zu sein, direkter und offener. Gegenwärtig finden Gerichtsprozesse gegen ehemalige Guerillakämpfer und Paramilitärs statt, die ganze Landstriche terrorisiert und die Bevölkerung massenweise umgebracht haben. Das Thema ist, neben der Strafe, das der Vergebung (und die Vermeidung einer Vergeltung). Kann in Zukunft ein Mörder im selben Dorf leben, wo er seine Untaten begangen hat? Wird damit für die Einwohner das Mass der Toleranz nicht arg strapaziert? – Das Thema der Toleranz sah ich in diesem Museum nahe der Alameda Central nicht einmal im Ansatz dargestellt. Wie generiert man Toleranz? Was muss geschehen, dass sie sich wirksam entfaltet und ein neues, zukunftsgerichtetes und von Misstrauen gereinigtes Klima schafft? In Kolumbien lernte ich den Begriff der Inklusion kennen. Er scheint mir für den anstehenden, notwendigen Friedensprozess geeigneter. Beim Begriff der Toleranz kommt mir nämlich immer mein Vater in den Sinn, der bei den Freimaurern Karriere gemacht hat. Er predigte unentwegt Toleranz, zeigte sich aber – zumindest mir gegenüber – als sehr intolerant und verurteilte jeden meiner Gedanken, der von seinen Überzeugungen abzuweichen drohte. Der Tolerante sieht überdies keinen Grund, sich selbst zu hinterfragen. Er muss lediglich den Atem anhalten und zulassen, dass es allenfalls abweichende Lebensarten und Auffassungen gibt. Die Inklusion hingegen ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess im Bewusstsein, dass darin alle erheblichen Veränderungen unterworfen sind.

Jetzt nachtet es ein, und von Norden her kündigen sich Gewitterwolken an. Ich halte mich für gut beraten, den Weg zu meiner Unterkunft anzutreten. Als Ausländer, als Gringo, bin ich hier spezieller Beobachtung unterworfen. Vor dem Zusammenpacken und Aufstehen will ich mir nur noch notieren, dass es hier in Mexico-City stinkt. Sie haben die Abwässer schlicht nicht im Griff. Selbst auf der Alameda Central treffen mich immer wieder Schwaden dieses leidigen Gestanks. Daran mögen sich die Einheimischen gewöhnt haben. Mich stört er aber, und wie. Meiner Meinung nach müsste er auch Platz finden in einer Neuauflage der Mexiko-Wochen. Säuberlich abgefüllt in Einmachgläsern. 

_________________

 

  ©Nikolaus Wyss

 

Weitere Texte dieses Blogs hier auf einen Click/Blick 

Montag, 7. Februar 2022

Bruno, mein Lebensretter...

 Kürzlich fiel mir dieses Foto wieder in die Hände. Nach vielleicht 35 Jahren.

Um mit einer Nebensache zu beginnen: Mir fällt auf, dass ich offenbar über eine rechte «Kiste» verfügte. Das war mir damals nicht bewusst. Heute hängt an mir sowieso alles schlaff herunter. Doch vielleicht täuscht das Bild nur. Vielleicht ist es einfach das Badetuch, das den Eindruck eines straffen Hinterteils vermittelt.

Links von mir steht Bruno, um den es hier geht, beziehungsweise um meine Gefühle für ihn.

Wir befanden uns damals zu viert auf einer Bergwanderung im Berner Oberland. Vor dem steilen Anstieg zur Blüemlisalphütte, wo wir zu übernachten gedachten, gönnten wir uns ein erfrischendes Bad im kalten Oeschinensee.

Der Dritte in unserer Wandergruppe hiess Georges. Ich glaube, die Aufnahme stammt von ihm. Er war seinerzeit mit seiner Biografie unzufrieden, bis er herausfand, dass er das uneheliche Kind eines spanischen Adligen ist. Heute lebt er glücklich mit seinem Freund im australischen Busch und schreibt mir jeweils zu Weihnachten.

An den vierten Wanderkameraden mag ich mich kaum mehr erinnern. Hiess der nicht Fritz und versuchte uns während des Aufstiegs die Monteverdi-Kompositionen zu erklären? Ich meine mich zu entsinnen, dass er uns darlegte, wie diese kurzatmigen Sequenzen zu verstehen seien, nämlich als selbständige Einheiten, nicht so wie bei Mahler oder Bruckner, wo alles durchgängig miteinander verwoben ist. Ohne Tonbeispiele und im atemraubenden Anstieg zur Blüemlisalphütte entpuppte sich dieser Musikunterricht als eine anstrengende Angelegenheit. Doch Fritz ging davon aus, dass wir alle noch L’Orfeo mit Nikolaus Harnoncourt im Zürcher Opernhaus im Ohr hätten. – Gleichzeitig litt aber unser Dozent unter partieller Schwerhörigkeit, was ich heute in meinem Alter insofern nachvollziehen kann, als ich bei lauter Musik oder bei grossem Stimmengewirr auch nicht mehr richtig höre.

Ich weiss nicht, ob meine Wanderfreunde damals auch einen geheimen Plan mit sich führten. Ich jedenfalls freute mich schon den ganzen Tag auf die bevorstehende Nacht im Massenlager. Eine wunderbare Gelegenheit, endlich an Brunos Seite schlafen zu dürfen. Ich schwärmte schon eine ganze Zeitlang für ihn und umwarb ihn. Unglücklich, aber konstant. Leider wollte er von mir nichts wissen. Nett, aber bestimmt. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte. Dabei gefiel er mir doch so in seiner reinen, unschuldigen Art. Ich fühlte mich bei ihm besonders herausgefordert, seine zarte Unschuld zu respektieren und ihm ein anständiger Lover zu sein – wenn er mich nur gelassen hätte. Ich wollte ihm beweisen, dass es unter schwulen Männern auch welche gibt, die nicht nur das Eine suchten. Doch nichts nützte.

Nun aber ergab sich die wunderbare Gelegenheit, in dieser Berghütte auf über 2000 Metern über Meer meine edle Gesinnung in die Tat umzusetzen. Ich würde ihn zwar nicht küssen und umarmen können in Anbetracht von 25 schnarchenden Bergwanderern im selben Raum, doch seinen Atem würde ich spüren dürfen, seine Wärme würde zu mir herüberstrahlen, und ich würde ihm die Hand halten und ihn streicheln. Von mir aus konnte er dabei auch schlafen…

Heute, 35 Jahre später, frage ich mich, was mich überhaupt veranlasst haben mochte, zu meinen, er sei eine unschuldige Seele? Seine Mandelaugen? Seine zarte Haut? Sein verschmitztes Lächeln? Seine angenehme Stimme? Sein besonnener Gesichtsausdruck? Seine anmutige Gestalt? – Idealere Bedingungen für eine Menge romantischer Projektionen gibt es wohl kaum! Nur durchschaute ich sie in meiner Verliebtheit nicht, wollte sie wohl auch gar nicht wahrhaben. Ich baute mir im Kopf einen Bruno zusammen, über den sich der reale Bruno wohl nur gewundert hätte. Denn ich lernte ihn in einer Männersauna kennen, in einer Umgebung also, wo es zur Sache ging. Wo meiner Erfahrung nach reine Seelen gar nicht erst anzutreffen sind. Das war die Fallhöhe. Einem Typen wie Bruno dort zu begegnen, rief förmlich nach einem Rettungsversuch. Darin sah ich meine Aufgabe. Ihn wegzuzerren von all den vielen grobschlächtigen, schwitzenden, haarigen Männern, die ungeniert zur Schau stellten, worum es ihnen ging. Abstossend und ohne Charme. Was hatte Bruno in einer solchen Umgebung überhaupt verloren? Was hatte ich in einer solchen Umgebung überhaupt verloren?

Wir kamen dort auf einem abgesessenen, feuchten Sofa ins Gespräch und unterhielten uns auf eine Art, die mir Hoffnung machte. Er berichtete von seiner Arbeit als Buchhalter, von seinem Engagement in der Zürcher Jugendbewegung und im Autonomen Jugendzentrum hinter dem Bahnhof, er erzählte auch von seiner Teilnahme an Protesten, wo er regelmässig Schwaden von Tränengas abbekam. Er behauptete, die leichte Rötung seiner Augen käme davon. Von mir hingegen, so schien mir, wollte er nicht viel wissen. Und irgendwann verschwand er im Dampfbad und liess mich sitzen. Sollte ich ihm gierig folgen? – Ich hielt dies für zu billig, es hätte auch gar nicht dem entsprochen, was ich als Essenz meiner eigenen Persönlichkeit ansah. Wahrscheinlich hatte ich aber auch Angst, in der erdrückenden Schwüle dieser feuchtheissen Kapelle der Lust abgewiesen zu werden. Die Situation stachelte mich an, mit einer anderen Taktik den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten. Ich wartete geduldig, bis er wieder herauskam, schweissüberströmt und erschöpft, wie mir schien. Immerhin lächelte er mir zu, was mir die Gewissheit vermittelte, dass er mich nicht schon vergessen hatte. Ich versuchte es nochmals mit einem Gespräch, zu welchem er aber keine grosse Lust mehr verspürte. Wir tauschten wenigstens unsere Telefonnummern aus und verblieben so, uns einmal auf ein Bier zu treffen.

Was darauf folgte, war eine ziemlich verhaltene Freundschaft, die sich übers Jahr in einigen wenigen Abmachungen zu einem Bier manifestierte, bei denen ich mich allerdings eher langweilte, weil sich keine Zeichen der Annäherung einstellten – bis eben die Idee auftauchte, zusammen mit weiteren Freunden eine sommerliche Bergtour zu unternehmen. Er sagte zu meiner nicht geringen Freude sofort zu, was meine Gefühle für ihn aufs Neue entfachte.

Als es dort oben auf der Blüemlisalp darum ging, das Nachtquartier zu beziehen, geschah genau das, was passieren musste. Fritz, wenn er denn so hiess, schob sich zwischen Bruno und mir. Da mein Plan geheim und unabgesprochen war, sah ich auch keine Gelegenheit, irgendein Recht einzufordern und die Plätze zu tauschen. In Bruno hatte ich sowieso keinen Verbündeten. Wahrscheinlich war ihm das getroffene Setting sogar lieber. In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. Zu sehr war ich besessen vom Gedanken, zwischen Fritz und Bruno könnte auch nur eine kleine Annäherung stattfinden. Argwöhnisch behielt ich die beiden im Auge und litt dabei Qualen, die sich am darauffolgenden Morgen in Übermüdung und schlechter Laune niederschlugen.

Nach diesem Wochenende sah ich ein, dass Bruno für mich in meinem Sinne nicht erreichbar war. Ich weiss nicht mehr, ob ich ihn nachher überhaupt noch einmal getroffen habe. Ich musste mir schweren Herzens eingestehen, dass es wohl ausgerechnet diese unappetitlichen, grobschlächtigen Männer mit viel Brusthaar waren, die ihn anzogen, und eben nicht der zartbesaitete Nikolaus, der meinte, zwischen Anstand und Verwerflichkeit unterscheiden zu müssen. Ja, aufgrund meiner frustrierenden Freundschaft zu Bruno begann in mir bei späteren Begegnungen mit jungen Männern ähnlicher Art sogar eine Alarmglocke zu läuten. Sie bewahrte mich wohl vor weiteren unglücklichen Erfahrungen.

* * *

Eines Tages, es dürfte vielleicht ein Jahr später gewesen sein, bekam ich den Anruf einer mir unbekannten Frau. Sie stellte sich als Brunos Schwester vor und erklärte, sie hätte meine Nummer in Brunos Telefonverzeichnis gefunden. Und dann sagte sie mit gefasster Stimme: «Ich muss Ihnen mitteilen, dass Bruno vor ein paar Tagen an Aids verstorben ist. Wenn Sie Lust und Zeit haben, so laden wir Sie gerne zur Urnenbeisetzung im Friedhof Sihlfeld ein.» Sie nannte Datum und Uhrzeit. Ich bedankte mich zögerlich und mit erstickter Stimme für ihre Nachricht und blieb betroffen neben dem Telefonapparat sitzen.

So ist Bruno plötzlich wieder in mein Bewusstsein gerückt. Erinnerungen wurden wach, und ich konnte neben vielen weiteren Gedanken und Überlegungen auch erahnen, wo er sich angesteckt haben mochte. Mich beeindruckte dieser Tatbestand, und ich gewann ein ganz neues Bild von Bruno, eines, das mit Dankbarkeit durchwirkt war, Dankbarkeit dafür, dass zwischen uns nichts gelaufen ist. Als ich zur Trauergemeinde im Friedhof Sihlfeld stiess, war ich schon der festen Überzeugung, ich verdanke Brunos Verhalten mein Leben. Sie erschütterte mich, und ich weinte, wie alle anderen auch.


______  

©Nikolaus Wyss

________

 

Vielleicht in diesem Kontext auch interessant zu lesen: Wenn das Schaubad kalt wird (über mein Coming-out) 

Oder über die Rache eines Nichtbeachteten: Die Lektion

______ 

 

Weitere Texte dieses Blogs hier auf einen Click/Blick

Freitag, 7. Januar 2022

Der Blick der Giraffe

 

Das Umschlagblatt des Notizbuches, das ich mir gestern in Cancún erstanden habe, ziert das Porträt einer Giraffe. Die Aufnahme ist interessanter, als ich mir Giraffen im allgemeinen vorstelle. In Naturfilmen und Ganzkörperaufnahmen kommen sie mir nämlich eher ungelenk vor und auch etwas blöd mit ihren überhängenden Oberlippen. Öffnen sie ihr Maul, so züngelt gar eine Schlange heraus. Auch nicht gerade das, was mich anmacht, Sympathien zu entwickeln.

Doch hier, bei dieser Giraffe, werde ich mit grossen Augen fürsorglich angeschaut, als ob sie sich über mein Krankenlager beugte und fragen wollte, ob es uns denn gut gehe heute Morgen. Der Blick wird von den Fältchen über den Augen und den auf den Patienten gerichteten Ohren noch unterstützt. Rief der Fotograf dem Tier vor dem Knipsen etwas zu? «Guck mal», oder «Psps», oder «so ist gut»…  

Ihre Aufmerksamkeit wird, und das ist mir bei Giraffen früher nie aufgefallen, auch durch den hochgezogenen Stirnbuckel und die beiden senkrecht in den Himmel reckenden, lustig behaarten Hörnchen signalisiert. Darauf hat die Giraffe gar keinen Einfluss, die sind ihr von Natur aus gegeben. verleihen ihr aber, zusammen mit den markanten Augenbrauen, einen gewissen Charme.

Ich empfehle Giraffen dringend, sich nicht beim Fressen oder Fortbewegen filmen zu lassen, denn dann verlieren sie das, was mich zum Kauf des Notizbuches verleitet hat, nämlich eine angenehme und verständnisvolle Begleitung für meine täglichen Notizen zu sein, die ich niederzuschreiben vorhabe.

Der Himmel ist blau, die vereinzelten Schleierwolken tragen dazu bei, dass es ihr und mir nicht zu heiss wird und uns erlaubt, auch noch nicht ganz klare Gedanken zuzulassen. Oft ergeben sie sich erst, wenn man sie nachwirken lässt.  

 

©Nikolaus Wyss

 

Weitere Texte dieses Blogs hier auf einen Click/Blick 

 



Dienstag, 26. Oktober 2021

Eine noch wenig erforschte Nebenwirkung einer Covid-19-Impfung

 Ich wollte gerade das Haus für ein paar Einkäufe verlassen, als mich im Vorgarten drei Damen abpassten, eingepackt in blauer, medizinischer Schutzkleidung. Ihre Haare waren mit einer Gaze-Haube aus derselben Farbe überzogen, und sie steckten mit ihren Schuhen in Wegwerfschlüpfern. Sie trugen, wie wir alle hier, Mundschutz, darüber hinaus hatten sie Latex-Handschuhe übergestreift. An einer der Damen hing ein Stethoskop über der Brust, die andere hatte eine Styropor-Schachtel bei sich, in welcher sich kühl zu lagernde Medikamente erahnen liessen. Die dritte führte Protokoll und notierte pausenlos, was es zu notieren gab. Auf der anderen Strassenseite wartete ihr Auto mit laufendem Motor. Der Chauffeur blieb am Steuer sitzen. Die Wortführerin stellte sich mit Doctora Gonzalez vor. Mit von der Partie waren Doctora Gutierrez und Enfermera Maria.

Ob ich denn Don Nicolás sei, der sich kürzlich einer Corona-Schutzimpfung unterzogen habe? Ich bejahte. Dann fragten sie mich, ob es die erste oder zweite Injektion gewesen sei und um welches Fabrikat es sich denn gehandelt habe. Ich gab bereitwillig Auskunft. Dann fragten sie mich nach meiner Krankenkasse. Auch diese Frage beantwortete pflichtbewusst. Doctor Gonzalez meinte darauf, ihr Team sei hier für eine Nachuntersuchung, ob ich denn dafür Zeit hätte, es dauere nicht länger als 20 Minuten. Sie hätten auch ein paar Vitaminpräparate, damit es mir bald wieder gut gehe.

Ich reagierte belustigt, weil es mir ja gar nicht schlecht ging. Ich bat die drei Frauen herein, und sie wiederum baten mich, mich mit geöffnetem Hemd auf dem Sofa des Wohnzimmers hinzulegen. Frau Gonzalez meinte, mein Eau de Toilette sei von besonderer Qualität, und ich gab ihr zu verstehen, dass es sich dabei um Bleu de Chanel handle. Sie nickte bedeutungsvoll. Die beiden anderen Damen verlor ich vom Sofa aus aus meinem Blickfeld. Mir schienen sie aus mir nicht ersichtlichen Gründen sehr geschäftig. Die eine erkundigte sich nach der Toilette, die andere stiess die Tür zur Küche auf und fragte, ob sich sonst noch jemand im Haus befinde. Doctor Gonzalez hörte meinen ganzen Brustkorb ab und meinte, dort zwischen Leber und Milz rassle es. Sie entnahm der Styropor-Schachtel eine Pille und bat mich, diese zu schlucken, was ich ordnungsgemäss tat.

Es muss Stunden später gewesen sein, als ich mit brummendem Kopf erwachte und unsere gute Stube kaum wiedererkannte. Das Glas der Vitrine war zerschlagen, das Silberbesteck, die vielen Nippes und Erinnerungsgegenstände waren alle weg. Auch der Fernseher war verschwunden und mein iPad und mein iPhone. Auch das Geld und die Kreditkarten aus der Brusttasche meines Hemdes. Ich nahm alles nur durch einen Filter wahr und fühlte mich ausserstande, in diesem Moment irgendeine sinnvolle Handlung zu vollziehen. Ich glaube, ich grinste nur einfältig vor mich hin. Polizei anrufen? Ohne Handy nicht möglich. Mühsam hangelte ich mich zu meinem Schlafzimmer im zweiten Stock empor und musste dort feststellen, dass diese Frauen gründlich gearbeitet haben. Die Garderobestange war leer. Sämtliche Hemden, Hosen und Vestons fehlten. Der Rest der Wäsche lag verstreut auf dem Boden. Der kleine Safe war offen und leergeräumt.

* * *

Die obige Geschichte stimmt mit der gelebten Realität bis zu dem Moment überein, als mir Frau Gonzalez die Pille verabreichen wollte, die mich in einen langen Tiefschlaf versetzt hätte. Der Rest der Geschichte jedoch entspringt meiner Fantasie und ist lediglich eine Vermutung, denn genau zum fraglichen Zeitpunkt tauchte mein Wohnpartner Johan auf und fragte mich, ob ich diese eifrigen Damen denn kenne. Ich antwortete etwas verwundert, sie hätten sich vorgestellt und seien hier für eine Nachuntersuchung. Johan jedoch liess nicht locker und verlangte, während ich noch mit entblösstem Oberkörper auf dem Sofa lag, nach Ausweisen der Damen, worauf sich ein ziemlich lautes Wortgefecht entwickelte, in dessen Verlauf die Frauen sich bei mir beklagten, wie eklig dieser Mensch sei. Und plötzlich ging alles ganz schnell. Sie packten das Styropor-Köfferchen, rannten zur Tür und verliessen das Haus in aller Eile. Aus dem Fenster sah ich noch, wie sie zum Auto eilten und wohl froh darum waren, dass der Fahrer den Motor laufen gelassen hatte. 

 @Nikolaus Wyss

 

Weitere Texte dieses Blogs hier auf einen Click/Blick 


 


Mittwoch, 17. März 2021

Kontroversen – Lustige Debatten mit Lucius Burckhardt aus dem Jahr 1996

Luzius Burckhardt (links), Professor an der Gesamthochschule Kassel, Fachbereich Stadtplanung, und Nikolaus Wyss (rechts), Publizist in Zürich, schreiben in dieser Rubrik jeden Monat für die STZ
Soll man Industriedenkmäler schützen? / Nützen Fahrradwege den Velofahrern? / Soll man seinen Rasen scheren? / Bis in vier Jahren haben wir den Euro – oder nicht? / Soll man den Zoo abschaffen? / Soll es A- und B-Post geben? / Spart bargeldloses Zahlen Arbeit? / Führen Prüfungen zu besseren Ausbildungen? / Schadet Schwarzarbeit der Volkswirtschaft? / Erleichtern Fussgängerzonen den Einkauf? / Waschen wir uns zuviel oder zuwenig?

 

Im Jahre 1996 pflegte die Schweizerische Technische Zeitschrift (STZ) unter dem Titel Kontroverse eine Rubrik, in welcher Prof. Lucius Burckhardt und ich zu unterschiedlichsten und nicht immer belangvollen Themen PingPong spielten. Die obigen Titel dachte sich Burckhardt aus, und dann kästen wir aus, wer auf welcher Seite argumentiert. Seinem unkonventionellen Denken kam es dann gelegen, wenn ich den „vernünftigen“ Standpunkt zugeschlagen bekam. Denn so konnte er sich ungehindert auf seine unkonventionellen Gedankengänge begeben. Einige Male aber traf es auch mich, mich mit der mir fremderen Seite zu befreunden...

Beim Aufräumen habe ich diese Serie wieder gefunden und stelle die Themen jetzt hier oben als Links, auf die man einzeln klicken kann, der geneigten Leserschaft zur amüsanten Lektüre ins Netz.

* * *

Weitere Beiträge auf einen Click