Donnerstag, 26. September 2024

Vom Abschminken meiner eigenen Unsterblichkeit

Erinnerungsstücke ja, zur Kultivierung der eigenen Unsterblichkeit allerdings ungeeignet
Der tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera (1929-2023) verhalf mir in frühen Jahren mit seinen Büchern zu vielen vergnüglichen Lesestunden. Ich weiss noch, wie ich damals die Romane „Die unerträgliche Leichtigeit des Seins“ und „Das Buch der lächerlichen Liebe“ verschlungen habe und mich über Freundinnen von mir ärgerte, die dem Autor eine gewisse frauenfeindliche Grundhaltung vorwarfen. Merkwürdigerweise erinnere ich mich heute kaum noch an den Inhalt dieser Bücher. Geblieben ist mir einzig das Gefühl, das ich damals beim Lesen empfand: ich wurde bis zur letzten Zeile klug und unterhaltsam geführt. Ich dachte, wenn die Tschechen so sind, wie Kundera sie darstellt, und wenn sie so gekonnt erzählen können wie Kundera, so müsste ich mich mit dieser Kultur an der Moldau wirklich einmal näher befassen.

Der Zufall wollte es, dass ich damals in Zürich zuweilen an der Unteren Zäune im „Fliegenden Fisch“ verkehrte, einer Wohngemeinschaft, auf mehrere Stockwerke verteilt, wo einige Tschechen nach ihrer Flucht aus ihrer Heimat Unterschlupf gefunden hatten und sich mit unterschiedlichsten Aktivitäten über Wasser zu halten versuchten. Sie wurden von den Mitbewohnern für Schlitzohren gehalten. Ich wiederum suchte in ihnen Charakteren, die ich von Kunderas Romanen her kannte, was mir allerdings nur in sehr beschränktem Masse gelang.

Eine Szene eines anderen Romans von Kundera jedoch begleitet mich bis heute. Das Buch heisst „Die Unsterblichkeit“ und handelt von zwei Paaren, die sich in einem Beziehungsgestrüpp mit tragischem Ausgang verstricken. Die vielen Dialoge drehen sich immer wieder um die Frage und um den Wunsch, unsterblich zu werden, und um die dafür notwendigen Vorkehrungen und Strategien. Und Kundera schildert an einer eingeschobenen Stelle die Beziehung des 60jährigen Johann Wolfgang von Goethe zum jungen Schwarmgeist Bettine von Arnim, die kein Geheimnis daraus machte, alles, was sie von Goethe in Erfahrung bringen konnte, fein säuberlich niederzuschreiben. Kundera vermutet nun, dass sich Goethe vor dem scharf beobachtenden Auge und vor der spitzen Feder seiner jungen Bewunderin fürchtete. War er doch bedacht auf seinen guten Ruf, der mit Blick auf seine Unsterblichkeit nicht beschädigt werden sollte. Wenn also Bettine unten an der Haustür klingelte und um Einlass bat, so machte sich Goethe erst zurecht, kämmte sich das Haar, schob sein Gebiss rein und zog den Gehrock an. Frisch geschniegelt und mit wohlriechendem Parfum versehen öffnete er dann Bettine die Tür und liess die junge Dame gewähren. Das war zuweilen anstrengend, aber offenbar unabdingbar - bis, ja bis bei Goethe die Überzeugung reifte, dass Bettine ihm wohl nichts Rufschädigendes mehr anhängen kann. Jetzt, so Kunderas These, war sich Goethe endlich seiner Unsterblichkeit sicher. Name und Werk würden sein irdisches Leben um viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte überdauern. So entschloss er sich beim nächsten Besuch Bettines kurzerhand, ihr ungewaschen, zahnlos und im Morgenrock entgegenzutreten, was bei der jungen Dame wohl Befremden ausgelöst haben dürfte. Plötzlich hatte sie ihn mit ihren Beobachtungen nicht mehr im Griff. Goethe liess sie so wissen, dass es ihm von jetzt ab scheissegal ist, was sie von ihm halten mochte…

Ich gebe gerne zu, dass ich mich in frühen Jahren mit meiner eigenen Unsterblichkeit auch befasste, vielleicht in dem Masse, wie meine Mutter sich anschickte, durch ihre Bücher, Preise und Auftritte eine schweizweit bekannte Persönlichkeit zu werden. Ihre Aktivitäten bargen ein gewisses Potential an Unsterblichkeit. – Jetzt ist sie schon seit 22 Jahren tot, und ihre Geburtsstadt Biel nennt immerhin einen ihrer grössten Plätze nach ihr: Die Esplanade Laure Wyss. Und auf dem Zürcher Friedhof Rehalp wird für sie während der kommenden 50 Jahre ein Ehrengrab unterhalten. Das sind schon Ansätze zur Unsterblichkeit, auch wenn ihr Verlag keine Anstalten mehr macht, längst vergriffene Bücher von ihr neu aufzulegen. Für die Pflege der Unsterblichkeit ist dies vielleicht auch gar nicht nötig.

Ich hingegen blieb bereits in jungen Jahren im Gefühl stecken (und unternahm auch nichts dagegen), untauglich zu sein für die Förderung meiner eigenen Unsterblichkeit. Ich war faul, ziellos und oft deprimiert. Ich schrieb über mein Leid tonnenweise Tagebücher. Energie in nachhaltigeres Tun zu stecken, in etwas, was hätte Früchte tragen mögen, die noch weit über meinen Tod hinaus reifen und meinen Namen lebendig halten würden, gelang mir irgendwie nicht. Ich war zwar gut im Anreissen von Initiativen, konnte mich in die unmöglichsten Abenteuer stürzen und galt als ganz umgänglich und nett, aber meistens reichten der Durchhaltewillen und das Engagement für die Konsolidierung der Projekte nicht aus. So musste ich mir das mit der eigenen Unsterblichkeit gezwungenermassen abschminken. Zum Trost kaprizierte ich mich auf den Gedanken, dass man von seiner eigenen Unsterblichkeit eh nichts hat, weil man ja dann tot sein wird.

Ich weiss nicht mehr, wie ironisch Kundera in seinem Buch die Sache mit der Unsterblichkeit wirklich gemeint hat. Ein Roman erlaubt dem Autor schliesslich, die eigene Meinung nicht kundtun zu müssen. Sofern er überhaupt eine Meinung dazu hat. Der Schreiber darf einfach das Potential eines Themas oder einer Geschichte ausbeuten. Für ihn entwickeln sich daraus Figuren, Handlungen und Wirkungen. Das ist eigentlich alles. Blöd ist nur derjenige Leser, wenn er sich das Thema zu eigen macht und meint, etwas Wichtiges dazu beitragen zu müssen, wie ich jetzt, der sagt: wer findet, etwas Wesentliches geschaffen zu haben in seinem Leben, das der Nachwelt unbedingt erhalten werden muss, nimmt etwas vorweg, worüber erst kommende Generationen werden urteilen können. - Wie viele Nachlässe, wenn man jetzt bei den Schriftstellern bleiben will, vermodern in den Kellern von Archiven, weil sich niemand mehr dafür interessiert? Wenn die verstorbenen Autoren dies nur wüssten! Dabei haben sie sich zu Lebzeiten so angestrengt, alles logisch und erhaltenswert zu ordnen. Hautnah habe ich das als zeitweiliger Privatsekretär des Schriftstellers Hugo Loetscher mitbekommen. Damals war er erst 45 Jahre alt, doch jeder Text, jede Korrespondenz, jede Romanversion wurden akribisch für die Ewigkeit, oder doch wenigstens für ein paar Philologen späterer Generationen archiviert.       

Die gängigste Form des Wunsches nach Unsterblichkeit, und dies trifft wohl auf die Mehrheit der Menschen zu, ist die Hoffnung, nach dem Ableben zumindest im eigenen Umfeld, in der Familie, bei der Nachbarschaft, bei Freunden und Kollegen in guter Erinnerung zu bleiben. Noch schöner, wenn diese Hoffnung mit einer passablen Erbschaft unterfüttert werden kann, was dann allerdings oft zu Streit führt und die Pervertierung seiner eigenen Unsterblichkeit bedeutet. Bei Gläubigen kommt noch der Wunsch hinzu, mit ihrem vorbildlichen Verhalten in den Himmel zu kommen. Diese Idee jedoch konnte sich bei mir nie durchsetzen.

Auch ich nehme den Wunsch, in guter Erinnerung zu bleiben, für mich in Anspruch, auch wenn es mir egal sein könnte. Hinterlassenschaft habe ich keine. Bleibt noch die Frage, was mit dem Kram, den ich bis hierher nach Kolumbien mit mir herumgeschleppt habe (Tagebücher, Erinnerungsstücke, Korrespondenz, Kleider etc.), nach meinem Ableben passieren soll. Ich befürchte, er wäre eine Belastung für mein Umfeld. Und doch hänge ich noch ein bisschen daran. Hält mich dieser Kram noch etwas am Leben? Soll ich erst gehen dürfen, wenn bei mir aufgeräumt und alles entsorgt sein wird?

P.S. Seit meine eigene Unsterblichkeit kein Thema mehr ist, fällt mir das Schreiben leichter...

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©Nikolaus Wyss
 

Donnerstag, 19. September 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 11)


Sonntagsausfahrt ins Blaue. Zu Beginn die Frage, in welche Richtung wir aufbrechen sollen. Die Entscheidung fiel auf westwärts. Wir durchquerten dabei unbekannte Quartiere und fanden es spannend, unsere Kenntnisse der Stadt auf diese Weise zu erweitern. Doch an der Carrera 106 war dann plötzlich Schluss. Wir mussten uns entscheiden, für die Fortsetzung des Ausflugs entweder die Richtung nach Süden oder die nach Norden einzuschlagen. Wir entschieden uns für den Norden. Eine Viertelstunde weiter vorn stand auf einem Wegweiser "Chia". Da leuchteten seine Augen, denn dort verlebte mein junger Liebhaber zwei Jahre seines Lebens, und er wollte mir zeigen, wo sein Zuhause war. Die Fahrt führte uns über löchrige Strassen. Dazu hörten wir unter anderen den Song, den Carol G mit Andrea Bocelli kürzlich herausgebracht hat, ein Remake von VIVO POR ELLA, das derselbe Sänger damals, vor 30 Jahren, mit Marta Sánchez aufgenommen hatte. Mir schien, dass Bocellis Stimme in der neuen Aufnahme seltsam brüchig klang, während Carol G, die sonst gerne eher leise und mit wenig Volumen unterwegs ist (Billie Eilish lässt grüssen), stimmlich aufdrehte, um vielleicht dem Vergleich mit Marta Sánchez standzuhalten, was ihr allerdings nicht ganz gelingt. Das Zentrum von Chia, einem Ort, der bekannt ist für seine wohlhabendere Einwohnerschaft, fiel im Vergleich zu anderen Kommunen der Gegend nicht speziell auf. So fuhren wir bald weiter mit dem Ziel, irgendwo zu essen. Der Wunsch des jungen Mannes auf dem Beifahrersitz fiel auf einen Eventschuppen namens "La Chula Campestre". Google Maps führte uns problemlos dahin. Es handelte sich genau um die Art von Ausflugsrestaurants, die mir für ein Mittagsmahl nicht einmal im Traum in den Sinn kämen. Weder für den Sonntag noch für einen Geburtstag. Grosser Parkplatz, viel Personal, aufwändige Eingangskontrolle, riesiger, dunkler Speisesaal, vorherrschend in Rot und Leuchtstoffgrün, aufwändig dekoriert. Mit drei grossen Leinwänden, auf denen mexikanische Musikclips dargeboten werden, und über welche später die live-Darbietung zu den schlechteren Plätzen des Saales hinüberflimmert. Wir wurden aufgeklärt, dass um halb zwei eine Marriachi-Show stattfinden wird und um halb drei ein Pferdeevent. Der Schluss sei für 16 Uhr geplant. Darum herum würden sich Vorspeisen, Hauptspeisen und Desserts schlängeln. Viele Tische waren mit Luftballonen dekoriert, mit Fähnchen in den kolumbianischen Landesfarben und mit vielem mehr. Der Saal füllte sich mit Familien, die etwas zu feiern hatten. Meinem Begleiter gefiel das Ambiente, ich fragte allerdings den Keller, der sich mit Diego vorgestellt hatte, ob die Speisen auch in rascherer Folge serviert werden könnten, weil wir nicht beabsichtigen würden, bis zum Schluss zu bleiben (ab 16 Uhr wird die Rückfahrt in die Stadt zur Qual. Manchmal bleibt man nämlich in der Autoschlange am selben Fleck bis zu einer Stunde stecken. Das wollte ich meiner schwachen Blase und meiner Ungeduld nicht antun). Diego hatte für mein Anliegen Verständnis und servierte das Bestellte zügig und ohne Rücksicht aufs offizielle Tagesprogramm. Ich kenne weiss Gott bessere Lokale in unserer näheren Umgebung, die für weniger Geld wesentlich bekömmlichere Speisen auftischen. Doch ich hielt mich an die Beobachtung, dass es meinem Liebhaber dort draussen ausserordentlich gut gefallen hat. Glückstrahlend bedankte er sich bei mir für diesen schönen Tag, was mich dann auch glücklich machte. Ohne in einer Schlange steckenzubleiben, verlief die Rückfahrt flüssig. Bevor ich das Auto wieder in unsere Garage stellte, wischte ich anstelle eines Verdauungsspaziergangs die Einfahrt von allerlei angesammeltem Unrat frei.

(Sonntag, 1. September, 2024)

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Beim Inder

    Bei uns um die Ecke gibt es ein indisches Restaurant, welches nach meinem Dafürhalten ziemlich authentische Gerichte auf den Tisch bringt, wenn auch nicht so pikant wie im Original (Kolumbianer mögen nicht so gern Scharfes). Gerne würde ich dort öfters essen gehen, doch der Reiz der indischen Küche liegt für mich unter anderem auch darin, von unterschiedlichen Plättlis zu kosten, und wenn wir nur zu zweit sind, so fällt dieser weg (ausser man bestellt viel mehr, als man auf einmal mag, lässt sich die Resten einpacken und wärmt sie anderntags zu Hause auf). Gestern jedoch ergab es sich, dass wir zu viert waren. Es war ein Abschiedsessen, weil Danika gleichtags für ein paar Shows nach Amsterdam wegflog (fast hätte sie den Flug verpasst, weil sie sich irrtümlicherweise nur das Ankunftsdatum vom 5. September gemerkt hatte, dabei startete der Flieger schon am Abend zuvor). Es war köstlich, auch wenn ich mich schon nicht mehr genau an alles erinnere, was wir bestellt hatten: div. Huhn-Zubereitungsarten, Gemüse, Lamm, Pilze, Shrimps, Salat etc. Das Tafelbild gibt nicht alle Köstlichkeiten wider, denn die Kellnerin war bemüht, leergegessene Schalen jeweils zügig wegzuräumen, und Saúl, dem einen von uns vieren, kam erst gegen Ende des Mittagsmahls in den Sinn, eine Foto von oben zu schiessen. Kostenpunkt für uns vier: 88 Schweizerfranken. Das geht noch, finde ich. Später fuhr ich Danika zum Flughafen. Die sonst vollgestopften Strassen waren seltsam leer. Könnte der Lastwagenstreik Grund dafür gewesen sein? Hunderte von Camions riegeln dieser Tage die grossen Einfallstrassen in die Stadt ab, um niedrigere Treibstoffpreise zu erzwingen. Die Presse spricht bereits von Versorgungsnotstand, weil keine neuen Frischwaren die Läden erreichen und die Preise für Salat, Fleisch und Gemüse im Steigen begriffen sind. Die Verriegelung der Stadt hatte gestern dann auch zur Folge, dass nicht so viel Privatverkehr in die Stadt einströmen konnte. Item, wir erreichten den Flughafen bereits nach 20 Minuten. Sonst muss man zu Stosszeiten mit bis zu 60 Minuten rechnen, oder mehr. Mir kam das alles entgegen, denn ich fahre wegen meinen Augen ungern nachts. So aber kehrte ich noch bei Tageslicht zurück und setzte mich zum Einnachten auf die Treppe vor dem Haus und wartete auf den Kolibri. Doch der erschien nicht mehr. Scheint um diese Zeit schon satt gewesen zu sein.
 
(Mittwoch, 4. September 2024)
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 Kolibri

     

    Bei unserem Biolehrer Zopfi genoss der Kolibri einen Sonderstatus: er sei ein untypischer Vogel, exotisch, geheimnisumrankt, nur in Lateinamerika zu Hause, ein physikalisches Wunderwesen, das in der Luft mit schnellem Flügelschlag an derselben Stelle schweben könne wie ein Helikopter, um dann mit dem feinen, langen Schnabel Nektar aus den Blüten zu saugen! Herr Zopfi steckte uns Schüler mit seiner Begeisterung an. Manchmal begann er von Kolibris zu reden, wenn eigentlich Elefanten an der Reihe gewesen wären. Oder Maikäfer. Zu Gesicht bekommen hatte unsere Klasse allerdings einen Kolibri nie. Auch Herr Zopfi nicht. Nur auf einem Tafelbild wurde das Vögelchen einmal gezeigt, zusammen mit Papageien und anderem Gefieder.

    Damals gab es im Klassenzimmer zwar schon einen Projektionsapparat, doch die passenden Lichtbilder fehlten. Kolibris wären für Zopfi Grund genug gewesen, einmal nach Costa Rica zu reisen, um diese Helis der Fauna in freier Wildbahn zu beobachten und zu fotografieren. Leider fehlten ihm offenbar die Mittel dazu. Oder seine Frau stemmte sich dagegen. Wer weiss das schon. Bei uns in Europa gab es sie damals nicht einmal im Zoo. Als Exotenersatz hatten wir in unseren Breitengraden wenigstens die Nachtigall. Wegen ihres sagenhaften, rätselhaften und bezaubernden Endlosgesangs durfte sie auch ein wenig einen Sonderstatus einnehmen. Herr Zopfi, Besitzer eines starken Feldstechers, hatte, so versicherte er uns glaubhaft, Nachtigalle schon zu Gesicht bekommen, in der Provence zum Beispiel, oder, selten genug, auf den Feldern des Mittellandes. Doch zu Fotos reichte es nicht. Auch zum Zeigen einer Nachtigall bediente sich Zopfi eines farbigen Tafelbildes, worauf auch Elstern, Spechte, Amseln und Spatzen zu sehen waren. Zur Nachtigall sagte er: man hört sie eher, als dass man sie sieht.
    Ob hingegen Kolibris überhaupt Laute von sich geben können, zwitschern oder gar singen, wusste Herr Zopfi damals nicht. Es war jedenfalls kein Thema. Ich hingegen weiss es heute Dank Google. Als ob es mit dem sonderbaren, achterbahnartigen Flügelschlag nicht genug wäre, bringen Kolibris im Sturzflug für ihre Herzdamen ihre Schwanzfedern zum Singen, steht da. Und Wissenschaft.de titelt: „Kolibris spielen mit dem Doppler-Effekt“. Auch zwitschern können sie. Steht da. Ich habe allerdings noch nie einen Kolibri gehört, auch wenn sich im Laufe jeden Tages in unserem Vorgarten Kolibris einfinden, um den Nektar aus den Blüten unserer Sträucher zu saugen. Lautlos mitten in unserer lärmigen 12-Millionenstadt Bogotá auf 2600 Metern Höhe über Meer. Wenn das Herr Zopfi noch erleben könnte!
    So sitze ich des öfteren vor unserem Haus auf der Steintreppe und harre der Kolibris, die da kommen. Und ich erinnere mich plötzlich, wie ich als Bub meine Mutter einmal an einen Ornithologenausflug ins Reusstal begleiten musste. In aller Herrgottsfrühe waren wir aufgestanden, wurden von einem Bus voller Vogelfreunde eingesammelt, zu einem Ried gefahren und anschliessend auf feuchtem Boden durchs hohe Schilf zu einer Beobachtungsplattform geschleust. Es war bitterkalt und neblig, ich bekam nasse Füsse und wusste dem Unterfangen überhaupt nichts Positives abzugewinnen. Vögel konnten wir ohne Sicht keine ausmachen, ab und zu hörte man Gezwitscher und Geschnatter. Das war‘s. Dort reifte mein Entschluss, dass Vögel in meinem Leben nicht im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stehen werden. 
    Bis zu den Kolibris in unserem Vorgarten wich ich nur zweimal von diesem Vorsatz ab. Einmal im Winter 1990/91, als ich einige Monate in New York City in der Nähe des Central Parks zubrachte. Es war naheliegend, dass mich meine täglichen Spaziergänge oft in dieses benachbarte Grün führten, und ich durfte entdecken, dass der Park auch als eine hochfrequentierte, heiße Cruising-Gegend galt, wo man harmlos spazierend jungen Männern begegnen konnte, was mich zugegebenermassen faszinierte. In einem Wäldchen inmitten des Parkes befindet sich ein speziell eingegrenztes Revier mit Wasserspiel. Dort fanden sich tagsüber allerlei Vögel ein, dort versammelten sich auch viele Vogelbeobachter mit ihren Teleobjektiven. Dort stand ich dann oft, beobachtete aber nicht nur die eintreffenden Vögel, die sich ums Futter stritten, sondern eben auch vorbeiziehende Jungs und junge Männer, die, wie ich, eine Zeitlang stehenblieben und dem bunten Treiben zusahen. Dort diente die Vogelwelt bestens als Vorwand, dem eigentlichen Zweck des Parkaufenthalts zu frönen.
    Das zweite Mal, zehn Jahre später, in Luzern. Wenn mir als Hochschulrektor die Sorgen, der Stress, die Künstler, die Geschäftsleitung, der Konkordatsrat, die Studierenden, das Geld und die Einsamkeit über den Kopf wuchsen und mich in ein Loch zu reissen drohten, pflegte ich zuweilen auszubüchsen und auf dem Bürgenstock einen Spaziergang zu machen. Im Aufstieg zum Hammetschwandlift begleitete mich dabei regelmässig der Gesang einer Nachtigall, was eine schon an ein Wunder grenzende Beruhigung zur Folge hatte. Gelöst, geläutert, dankbar und mit neuer Energie versorgt konnte ich in die Stadt zurückkehren und mich den anstehenden Geschäften widmen.
    Heute auf der Treppe vor dem Haus zog ich die Handykamera hervor und machte vom Kolibri ein kleines Video.
 
(Sonntag, 8. September 2024)
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Aus meinem Tagebuch von 1974
 
Patrick Lévy, Vater zweier Kinder, Smadah und Sarah, Fachmann für Geflügelaufzucht. Lebt getrennt von seiner Familie.
    Er ist aus Frankreich, lebt ohne Bewilligung in der Schweiz (seine Frau ist aber Schweizerin). Er lebt in Wohngemeinschaften wie der unseren. Jetzt muss Patrick aber gehen. Der Verwalter unserer WG, R.P., hat ihn, aus was für Gründen auch immer, bei der Einwohnerkontrolle verpetzt. Jetzt ist die Fremdenpolizei hinter ihm her. Er findet keine Arbeit. Er will morgen verreisen, er weiss jedoch nicht, wohin. Er wird vermutlich wieder nach Frankreich reisen.
    Es ist trist. Er ist moralisch auf dem Hund. Es ist schlimm,  ziellos fortgehen zu müssen.
    Seine Familie Lévy stammt ursprünglich aus Spanien. Während der Inquisition flüchtete sie nach Rumänien und nahm den Schlüssel zu ihrem Haus in Spanien mit. Das war vor 400 Jahren. Noch jetzt wird der Schlüssel als Familienschatz gehütet. Der erstgeborene Sohn bekommt ihn.
    Patrick ist der Erbe. Doch er hat nur Töchter. Aber auch seine anderen Geschwister haben nur Töchter. Wem wird der Schlüssel vermacht werden?  
    Seit zwei oder drei Generationen wohnen Lévys jetzt in Frankreich. Ich glaube, Patrick ist einsam. Er hat kaum Freunde, die ihm jetzt helfen könnten, zu denen er jetzt gehen könnte. Auch seine Familie mag ihn nicht. Er sei zuhause das schwarze Schaf, sagt er.
    Patrick sprich französisch. Sein Deutsch ist mangelhaft. Es scheint, dass da eine schwere Last auf Patrick schlummert, die wohl kaum je abgetragen werden kann.
    Patrick liest Comics oder schaut sich die Bilder in den Heftchen an. Sonst macht er nichts. Er kann gut vor sich hinstarren. Lange Zeit. Früher habe er Eisen gelegt beim Bau eines Atomkraftwerks hier in der Schweiz. Jetzt wollen sie ihn nicht mehr, weil er keine Arbeitsbewilligung vorweisen kann.
    Er weiss also nicht, wohin er gehen könnte. Ich fühle mich so elend dabei. Ich weiss nicht, wie helfen. Und ob da sogar eine Nicht-Bereitschaft im Spiel ist, sich für Lösungen einzusetzen? Nicht einmal versucht habe ich es. Ich lass ihn einfach ziehen. Ungeheure Ferne. Ich würde doch einflussreiche Leute kennen, die ihm vielleicht helfen könnten. Ich lasse aber seinen für uns schamvollen Auszug geschehen. Ich sag ihm "Au revoir", als ob das genügen würde.
    Patrick erfährt Wahrheiten über uns, die ihm seine Einsamkeit bestätigen. Aber er bleibt hochanständig. Dieser Mann hat eine Würde und eine Grösse. Er lässt sich kaum etwas anmerken. Ich glaube, er könnte zu Recht von uns enttäuscht sein.
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Instagram-Flash (August 2024)
 

Ich bin Trump-verseucht. Während Donold bei seinen Rallies die Massen zählt und dafür von Barack Obama am Chicagoer Parteitag der Demokraten schon schön eins auf die Mütze bekommen hat, zähle ich ab und zu, wie viele Clicks durchschnittlich mein Blog bekommt (1400/Monat).
    Ja, ich habe auch ein Instagram-Account (@rector_wyss), bin aber total überfordert beim Wissen, was Reels, Threads, Stories und anderes mehr überhaupt bedeuten. Ich schiebe einfach hie und da ein Erinnerungsfoti dorthin. Auch die Katze bekommt ab und zu ihren Ehrenplatz. Die Zahl der Followers pendelte sich über die Jahre so bei ungefähr 1500 ein. Das sind keine Influencer-Dimensionen. In der Kurz-Bio schrieb ich von mir sogar, ich sei "the contrary of an influencer". - Item.
    Und jetzt dies. Seit einem 16-Sekunden-Video, das ich vor gut drei Monaten veröffentlichte, und worin ich mit dem Künstler Not Vital in seinem Atelier in Sent einen beinlosen Tisch ausprobiere, werde ich von meiner Umgebung plötzlich anders wahrgenommen. Dieser Clip wurde bis dato sageundschreibe 14,9 Millionen Mal angeschaut, bald wird die 15-Mio-Marke geknackt werden. 539'000 Herzchen wurden für diesen Beitrag vergeben, 1184 Menschen hielten den Beitrag sogar für einen Kommentar wert. Und jetzt verfüge ich schon über 4800 Followers.
    Das macht schon was mit einem. Ich weiss nur noch nicht genau was. Vielleicht die Reue, damit keinen Rappen verdient zu haben? Vielleicht die Enttäuschung, dass spätere Posts wieder aufs übliche Beachtungsniveau gesunken sind? Die Furcht, die neuen Followers könnten wieder wegschmelzen? - Alles Gefühle weit weg von der Freude, so einen Ausreisser überhaupt und unbeabsichtigt gelandet zu haben. Wieder einmal bestätigt sich mir die These, dass Instagram im Grunde unglücklich macht...
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©Nikolaus Wyss
 
 

Dienstag, 27. August 2024

Wo war ich?

Von Sandro Fischli hergerichtet im Fotostudio von Pitsch im Hinterhof der Niederdorfstrasse 2 im Frühjahr 1974

The past is never dead. It's not even past (William Faulkner, Requiem for a Nun)

Im Kopf meines Vaters hatte sich irgendwann die Überzeugung festgesetzt, ich sei ein Linker. Ende der 60er Jahre lebte er mit seiner Partnerin Beatrice in Athen und beschimpfte vom Balkon seiner kleinen Wohnung herab protestierende Studenten unten auf der Strasse, die sich einerseits gegen die griechische Militärdiktatur und andrerseits gegen Präsident Nixon und seinen Vietnam-Krieg auflehnten. Mein Vater hingegen besass Aktien südafrikanischer Goldminen und sah diese angesichts der studentischen Unruhen für einsturzgefährdet. Von dieser Warte aus war es wohl leicht, mich als Linken zu identifizieren, auch wenn ich Marx, Engels und Marcuse ungelesen im Büchergestell verstauben liess. Wenn Vater nur gewusst hätte, wie ich mich fühlte damals im Sommer 1968 während der Globus-Krawalle auf Zürichs Quai-Brücke. Dort stand ich sprachlos und staunend, weil ich nicht verstehen wollte, wie Jugendliche in meinem Alter verdatterte Feuerwehrmänner attackieren können, die sich mit in der Strafanstalt Regensdorf geflochtenen Schutzschilden aus Weidenruten und schlaffen Wasserschläuchen zu erwehren versuchten, bis ihr Kommandant den Rückzug befahl, weil sie mit Steinen beworfen und beschimpft wurden, als ob sie ihre Töchter der Prostitution ausgesetzt und ihren Söhnen die Finger abgehackt hätten. Ich glaube, in der Folge fasste der Stadtrat damals den Beschluss, anstelle der Feuerwehr von nun an nur noch besser gerüstete Polizisten einzusetzen und einen gepanzerten Wasserwerfer mehr anzuschaffen.

Besser gerüstet? Beim Hauptbahnhof unten versuchten zur selben Zeit Polizisten in blossen Hemden und ohne Helm, also völlig ungeschützt, sich den Randalierern entgegenzustellen. Sie wurden angeleitet vom damaligen Polizeikommandanten Rudolf Bertschi, der sich vom Balkon des Hotel Du Nord aus mit einem Megafon Gehör zu verschaffen versuchte. Meine moderat linke Position kam ziemlich ins Schwanken. Mit solchen Radaubrüdern wollte ich nichts zu tun haben. Die verwirrten Polizisten taten mir leid, das Globusprovisorium als Jugendzentrum interessierte mich nicht und war für meine damalige Gesinnung eine Schuhnummer zu klein. Gleichwohl schämte ich mich gegenüber meinen Schulkameraden, kein Tränengas und keine Wasserdusche abbekommen zu haben. Das tat meinem Prestige in diesen Kreisen nicht gut. Ich wurde weder festgenommen noch verhört. Nie. Ich machte mich jeweils rechtzeitig aus dem Staub. Dieses Fluchtverhalten hatte schon das Jahr zuvor seine Wirkung gezeitigt, als ich mein damaliges Date, ein finnisches Au-pair-Mädchen namens Saima, eine lächelnde Sonne mit strohblondem Haar und dicken Fesseln, zum Rolling Stones-Konzert ins Hallenstadion einlud, bis unten im Parkett Radau ausbrach und sämtliche Stühle in einer wütenden Schlacht in Kleinholz verwandelt wurden. Wir verliessen den Ort ohne Blick zurück, von den Stones kriegten wir wegen des schlechten Sounds eh nichts mit. Ich kam mir ritterlich vor, eine junge Frau, die in der Schweiz zu Gast war, vor Ungemach bewahrt zu haben. 

Studentenführer Rudi Dutschke machte mir zu lange Sätze. Als er angeschossen wurde, tat es mir leid, so schlecht über ihn gedacht zu haben. Studentenführer Daniel Cohn-Bendit hingegen bewunderte ich wegen seiner Zweisprachigkeit. Doch Paris war weit weg. Ich fragte mich damals bloss, wo sich denn Präsident Charles de Gaulles aufhalten könnte, denn er war in den heissesten Phasen der Pariser Proteste abgetaucht, ungewöhnlich für einen kriegsgeübten General.

Mein Lateinamerika-Aufenthalt von 1970 bis 1972 gab meiner linken Gesinnung allerdings Schub. Ich wurde Zeuge von so viel Elend, von so viel Ignoranz der Politik gegenüber den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung, von so viel Ungerechtigkeit, von so viel partikulärem Besitzdenken, von so viel Grausamkeit, dieses mit allen Mitteln zu verteidigen… – Ich glaube, ich schrieb meinem Vater damals einige geharnischte Briefe, in welchen ich kundtat, was ich von seinen südafrikanischen Goldaktien, was ich vom Schah von Persien und vom Vietnamkrieg hielt, und wieso nur eine gesellschaftliche Umwälzung, eine Revolution, die Situation verbessern könnte. Mit einiger Sympathie verfolgte ich damals die Aktivitäten der Guerilleros in Kolumbien, las alles über Camilo Torres, dem katholischen Priester, der sich der ELN-Guerilla angeschlossen hatte und 1967 in einem Gefecht im Departament Santander heldenhaft starb. Ich liess auch einen NZZ-Redaktor abblitzen, der mich dafür vorsah, ab und zu aus Lateinamerika zu berichten. An den freien Sonntagen stieg ich zusammen mit Gesinnungsgenossen ins Armenviertel Pardio Rubio hinauf und half mit, das Loch für eine Zisterne zu graben.

Unter Hinterlassung eines Che Guevara-Posters kehrte ich 1972 jedoch ziemlich geknickt, desillusioniert und kleinmütig in die Schweiz zurück. Von Depressionen gepeinigt, überzeugt, für diese Welt nicht lebenstüchtig genug zu sein. Bereit, einen Psychologen aufzusuchen. Froh, in einer Bar arbeiten zu können, wo klare Verhältnisse herrschten: ich stelle dir ein Bier auf den Tresen, und du bezahlst mir, was es kostet. – In dieser Verfassung traf ich einmal meinen Vater im Restaurant des Hotels Gotthard an Zürichs Bahnhofstrasse. Gleich zu Beginn überreichte ich ihm als kostbares Mitbringsel eine kleine Indio-Skulptur aus Sandstein, die ich mir in Kolumbien für ihn erstanden hatte. Er aber, der meinte, immer noch den Revoluzzer mit den bösen Briefen aus Lateinamerika vor sich zu haben, wies das Geschenk wutentbrannt von sich, worauf ich ihn am Tisch sitzen liess und in meiner eigenen Bedrängnis das Lokal ohne Abschied verliess. 

 Die Zeit, in welcher politische Bekenntnisse wieder in den Hintergrund traten, hatte gleich nach meiner Rückkehr nach Europa begonnen. Mich beschäftigten vielmehr meine Sexualität, meine Einsamkeit, meine Ziellosigkeit, mich beschäftigte meine einvernehmliche Art, die ich offenbar ausstrahlte, die aber überhaupt nichts mit meinem inneren Chaos gemein hatte. Nicht gerade hilfreich war auch mein Job als Co-Therapeut in einer kinderpsychologischen Praxis in Hausen am Albis, denn dort geschahen Prozesse, denen ich nicht traute, und die ich schon gar nicht verstand. Wieso sollte beim ausgiebigen Sandkastenspiel mit einem Bettnässer dieser plötzlich aufhören, ins Bett zu pinkeln? Und beim Ballspiel mit zwei Stotterern hielt ich nicht zurück. Wir hüpften herum und wurden dabei recht lärmig, so dass meine Chefin mir zurief: «Be tender». Doch ich verstand ihre Worte nicht und tobte weiter mit den beiden. Ein paar Wochen später aber wurden diese Kinder als geheilt entlassen. Zusammen mit dem trocken gewordenen Bettnässer. Das Leben war mir ein Rätsel, und ich mir selbst noch mehr.

Mit grossem Befremden lese ich meine Tagebuch-Eintragungen aus jener Zeit. Sie sind eine Aneinanderreihung von unerfüllten Sehnsüchten und Klagen. Ich verliebte mich stets in junge, heterosexuelle Männer, die sich im Gegenzug darin üben konnten, mir gegenüber tolerant zu sein, ohne sich dabei etwas vergeben zu müssen. Ich glaube, einige wären gerne wirklich gute Freunde von mir geworden, sahen aber in einer körperlichen Annäherung keinen Mehrwert. Das machte mich unglücklich, und in meiner Ohnmacht und Frustration verstiess ich sie alle.

Ich erinnere mich zum Beispiel gut an den bildhübschen Sandro, den ich bei einer Party im schmalen Fotostudio von Pitsch an der Niederdorfstrasse 2 kennenlernte. Er spielte mit seiner Androgynität und anerbot sich, mich zu schminken. Dieses Setting erlaubte es, einander ganz nah und auf eine spezifische Art intim zu sein, allerdings nicht mit dem Ziel, sich zu vereinen, sondern eine Verwandlung zu vollziehen. Er schminkte mich zu einem Vamp (siehe Bild), der Sandro vielleicht erlaubt hätte, mich attraktiv zu finden. Stattdessen bekam ich zum Schluss eine Katze in den Arm gedrückt, mit der ich mich dann vom schwarz gekleideten Pitsch, dessen Spezialität es war, Porträts von Prostituierten zu erstellen, abgelichtet wurde. Sandro war es zufrieden und ich ein weiteres Mal frustriert.

Etwas anders verhielt es sich mit dem hübschen Kenny und seinen unwiderstehlichen Augen. Wir lernten uns beim Tanzen im Castel Pub, dem vormaligen, geschichtsträchtigen Cabaret Voltaire, kennen. Wir amüsierten uns köstlich, wenn die Schallplattennadel bei harten Rhythmen immer wieder einmal aus den Rillen sprang, weil wir es auf dem Dance Floor allzu wild trieben. Der Discjockey mit seinem Equipment befand sich nämlich über uns auf einer Art Balkon, der sich aber auf der nicht ganz erschütterungsfreien Tanzfläche abstützte und das Gestampfe und Gehüpfe von uns 30 bis 50 Tänzerinnen und Tänzern ungedämpft auf den Plattenspieler übertrug.

Von da weg kreuzten sich für eine geraume Zeit Kennys und meine Wege, und ich machte dafür auch Umwege in der Hoffnung, ihn irgendwo im Bermuda-Dreieck zwischen der Brasserie an der Rämistrasse, im Oberdörfli, oder dann in der Fantasio-Bar anzutreffen. Seine Eloquenz begeisterte mich, seine gesellschaftlichen Analysen waren faszinierend. Er interessierte sich für Wissenschaftstheorie, hatte allerdings eine Freundin, die ihm Sorgen bereitete. Sie nahm sich für sein Dafürhalten zu viel heraus, was ihn eifersüchtig machte. Dieses Gefühl stand aber im Widerspruch zu seiner linken Gesinnung, die doch für Toleranz und Befreiung stand. In diese Lücke passte ich als verständnisvoller Zuhörer gut hinein. Ihm gefiel wohl auch, dass ich ihn, im Gegensatz offenbar zu seiner Freundin, vorbehaltlos anhimmelte. So entstand eine Art Freundschaft, die zwar wiederum das, worum ich buhlte, ausliess, doch immerhin eine Art beidseitiger Nutzen abwarf bis zu dem Punkt, wo ich seiner Eloquenz nicht mehr ganz traute. Ich wollte Kenny mehr als einmal klar machen, dass die Welt nicht so ist, wie er sie zu sehen meint. Meiner Ansicht nach sieht sie bei jedem etwas anders aus, je nachdem, wie sie sich jemandem gerade erschliesst und wo sich dieser Jemand darin gerade befindet. Ich sah die Welt, die Gesellschaft, alles, was darauf kreucht und fleucht, als sich stets wandelnde, vorantreibende und immer wieder von neuen Einsichten, Hoffnungen oder Verzweiflung getränkte Kugel. Kennys Theorie und Rechthaberei hingegen beschworen ein starres Gefüge, das aufgebrochen und revolutioniert werden musste. Meine Bedenken und Zweifel etikettierte er als Revisionismus und Trotzkismus. Fürchterliche Schimpfworte in seinen Kreisen. Nach der Absolvierung der Rekrutenschule radikalisierte er sich in einem Masse, die ich unerträglich fand. Was meinem Vater die randalierenden Studenten auf den Strassen Athens, waren für Kenny bürgerliche Politiker, Offiziere und Kapitalisten, wie mein Vater einer war. Ich wieder dazwischen, einer, der mit seinen Vorbehalten und der Bevorzugung eines dritten Weges die revolutionäre Bewegung zu schwächen drohte…  

Dann zog ich vom Stadtzentrum an die Peripherie von Schwamendingen, zu weit weg für regelmässige nächtliche Touren durchs Bermuda-Dreieck. In Schwamendingen war ich mehr auf mich selbst gestellt. Spürte Einsamkeit und Sehnsucht noch stärker und kam zu Einsichten, die ich so beschrieb:

«Ich lebe lauter Ahnungen. Und auch das ahne ich nur.» - Inspiriert vom leidensfähigen, selbstlosen Philosophen Ludwig Hohl, der die auf Zetteln festgehaltenen Gedanken in seiner Genfer Kellerbleibe an einer Wäscheleine aufzuhängen pflegte, kritzelte ich meine Tagebüchlein voll mit Halbausgegorenem. Ich wusste, dass meine Einsichten kein intellektuelles, schriftstellerisches oder philosophisches Niveau erreichten, doch ich war gleichzeitig besessen von der Idee, das einzige Mittel gegen mein Versagen bestünde im Festhalten meines Unvermögens.

„Und wieder einmal darf ich fragen, wer ich bin und was ich mache. Das mache ich stets in Momenten, wo ich etwas tun sollte. Die Frage nach der Sinnlosigkeit des Ganzen wächst mit den Anforderungen, die an mich gestellt werden. Das ist so etwas wie Hammer und Ambos, wo ich mich dazwischen bewege. Am Bild ist falsch, dass ich nicht weiss, was passiert, wenn der Hammer zuschlägt.  Bis jetzt verhinderte ich diese Situation durch geschicktes Lavieren zwischen den Fronten.“ – Mit anderen Worten: ich floh vor dem Schlag des niedersausenden Hammers, indem ich lustlos versuchte, mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Ich kombinierte mein Volkskunde-Recherchen an der Universität mit Journalistischem. Da war zum Beispiel das Thema „Die Behandlung einer Leiche vom Moment ihrer Wahrnehmung als solche bis zur Beerdigung.“ Ich pilgerte dafür ins Triemlispital und sprach dort mit dem Personal aus der Pathologie. Ich machte auch Interviews mit Angestellten des Bestattungsamtes, und nach Abgabe der Arbeit bei meinem Professor, Arnold Niederer, verfasste ich daraus einen Text, der im Magazin des Tages-Anzeigers oder in einem anderen gehobenen Blatt publiziert wurde.

Und als Gegenmassnahme zu meiner Schlaflosigkeit verfasste ich einen Restaurantführer über Wirtschaften, die bereits um fünf Uhr in der Früh öffneten. Das fand ich spannend, denn dort vermischten sich Partygänger und Überhöckler mit Arbeitern, die nach einem kräftigen Frühstück in den Stollen fuhren. In der „Neugasse“ zum Beispiel gab es anstelle von Kaffee und Croissants frühmorgens ein Kotelett nature für Fr. 6.-, Geschnetzeltes für Fr. 4.50, Läberli zu Fr. 3.60, Speckrösti und Käserösti zu je Fr. 4.-, Schinken mit Ei für Fr. 4.50, und Rührei Tessiner Art zu Fr. 4.50. Zutaten wie Rösti, Teigwaren und Salat kosteten zusätzlich je Fr. 2.-. „Verziert mit 2 Kirschen“ steht da noch in meinem Notizbuch, aber ich weiss nicht mehr, worauf sich diese Beobachtung bezog. Auf den Salat? Auf die Teigwaren? Oder auf die Rösti?

           Bref: Ich dümpelte herum, wurde aber von anderen gar nicht so wahrgenommen, wie ich mich selbst fühlte – was mich in weitere Identitätskrisen stürzen liess. Ich lebte meine elende Verfassung, wirkte gegen aussen aber freundlich und unternahm selbst erstaunlich wenig dagegen, diesem Zwiespalt zu entrinnen. Ich biss mich an der Vorstellung fest, dass Warten auf bessere Zeiten das wohl heilsamste Mittel sei, dem schlechten Selbstgefühl zu entkommen. Besser jedenfalls als sich krampfhaft dagegenzustemmen. So wartete ich und machte eine ganze Philosophie darum herum. Warten als aktive Form von Passivität. Beim Warten schwingen immerhin Zuversicht und Hoffnung mit, dass es einmal anders, besser, klarer, bestimmter und eindeutiger werden wird. Auch der bevorstehende Tod. Auch der kann zuweilen erlösend sein.

         Entgegen kam mir damals ein Satz, der verschiedenen Autoren zugeschrieben wird, und der mich seinerzeit ungemein zu trösten vermochte: „Happiness is not the goal.“  Mit dieser Aussage gewannen meine unerfüllten Gefühle und meine Sehnsucht nach einem Partner langsam eine andere Färbung. Geldverdienen, Alleinsein und Studium musste ich nicht mehr zwingend als unüberwindbare Barrieren vor dem erstrebten Glücklichsein ansehen. Sie bargen vielmehr den Glücksschatz bereits in sich, ohne dass man danach graben musste, sofern man die Wertung dessen, in welcher Situation man sich gerade befand, als wahrhaftig und sinnvoll akzeptierte und nicht als Unglück.

Ich glaube heute, dieser Verzicht auf Glückssuche war der Schlüssel zu meinen Aktivitäten in Schwamendingen. Ich fragte mich damals, wie man in diesem in jeder Beziehung alltäglichen, sensationslosen und zuweilen sogar randständigen Quartier der Stadt Zürich überhaupt überleben oder gar glücklich werden konnte? – Je mehr mich diese Frage unter Zuhilfenahme meines ethnologisch geschulten Auges beschäftigte, umso weniger beherrschte mich mein Unglücklichsein. Endlich hatte ich mein Thema. Es hiess Alltag und meine Beobachtungen gestatteten mir, mich in unterschiedlichster Art dazu zu äussern. Ich heimste sogar den Respekt meines Professors ein, ich wurde medial bekannt mit meinen Führungen durchs Quartier, und unsere Zeitschrift „Der Alltag – Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ tat das ihrige dazu, plötzlich ein unverkennbares Profil zu besitzen. Die Klagen in meinem Tagebüchlein veränderten sich. Nicht dass ich deswegen glücklicher geworden wäre. Aber ich war weniger unglücklich. Ich war beschäftigt. Ich hatte gar keine Zeit, mich mit meinen Defiziten und Träumen zu beschäftigen. Denn was ich mir mit Schwamendingen eingebrockt hatte, verlangte nach Nachschub, nach neuen Ideen, nach weiteren Aktivitäten. So entstand ein Buch übers Quartier, herausgegeben vom Quartierverein Schwamendingen. Meine Führungen durch Schwamendingen schärften nicht zuletzt meinen eigenen Blick aufs Alltägliche, auf die damit verbundenen Qualitäten und Nachteile. Ich gründete an der Winterthurerstrasse 495 eine Genossenschaftsbuchhandlung und wurde deren erster Präsident. Ich drehte einen Film über eine Arbeitersiedlung im Hirzenbachquartier, und schliesslich wurde ich dort draussen auch noch Theaterproduzent und bekam den Titel eines Botschafters von Schwamendingen verliehen.

Die Frage, wo ich denn war, wurde so mit der Zeit hinfällig. Jedermann konnte jetzt sehen, auf welchem Weg ich mich befand. Die Frage jedoch bleibt, wieso zuweilen so viele Umwege gemacht werden müssen, um festzustellen, wo man war und ist… Gelebtes Leben dazu ist offenbar unvermeidlich… 

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© Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 7. August 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 10)

 Klavier

Vierhändig mit Hans-Martin Bossert, Musiker, der lange Jahre mit mir an der Schwamendinger Bocklerstrasse gewohnt hat.

Mit meinem Vater selig verbindet mich, dass wir beide sehr nahe am Wasser gebaut sind. Und meine Mutter verstand es, dieses Wasser zum Fliessen zu bringen. Ich glaube nicht, dass sie es absichtlich tat, doch es gelang ihr meisterlich, mich immer wieder mal in feuchte Rührung, Trauer oder Freude zu versetzen.
    So entnehme ich grad meinem Tagebüchlein unter dem Datum 11. Dezember 1974, also vor nunmehr 50 Jahren: „Gestern Abend habe ich bitterlich geweint. Lang und laut. War wahnsinnig traurig. Auslöser war der Klaviertransport.“
    Dazu muss man wissen, dass ich in diesem Jahr nach Schwamendingen gezogen bin und offenbar den Wunsch äusserte, mein Klavier, das bis zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung meiner Mutter stehen blieb, in mein neues Zuhause zu verlegen.
Ich schrieb weiter: „Auf der Innenseite des Klaviaturdeckels hat meine Mutter einen Zettel geklebt, auf welchem geschrieben steht: ‘Vielen Dank meinem lieben Sohn, der mir mit seinem Klavierspiel gute Jahre geschenkt hat. M.'." (M. steht für Mutter.)
    Es war ein Zeichen des Abschieds, der endgültigen Veränderung, des Eintritts in eine neue Lebensphase, wo meine Musik anderen zu Gehör gebracht wird. Doch Mutter wird sie vermissen, muss auf sie verzichten.
    Heute, beim Mittagessen, erzählte ich meiner Wohnpartnerin Danika davon und konnte die Geschichte gar nicht zu Ende bringen, weil ich schon wieder zu weinen anfing wie damals. Der Geschmack meiner Tränen erinnerte mich auch an den Moment, als die Männer vom Bestattungsamt den Sargdeckel über dem Leichnam meiner Mutter schlossen und sich daran machten, die Kiste in ihren schwarzen Wagen zu tragen. Ich war vorgewarnt, doch ich konnte mich nicht halten und heulte drauflos wie ein Schlosshund. 

Tod und Suizid



 
 
Mich beschäftigt der eigene Tod kaum. Er kommt, wenn es Zeit dazu ist. Auf die Frage, was meine Nächsten hier in Kolumbien machen sollen, wenn er eintritt, habe ich keine Antwort. Ich sage nur, macht es so, wie es für euch stimmt. Wir wohnen ja nur zwei Fussminuten vom Sterbeinstitut Coorserpark/La Fé entfernt. Die sind bestimmt hilfreich, wenn das Geld stimmt.
Zum Leichentransport verfügen sie über ein Vehikel, das mir dann aber doch ein kleines Schmunzeln entlockt: einem würdigen Tod angemessen…
Und dann lese ich in der Zeitung, dass die Anzahl der Suizide und Suizid-Versuche hier in Kolumbien drastisch zugenommen hat. Besonders unter Jugendlichen. Gut, früher war Selbstmord tabuisiert, man sprach eher von Unfall und so. Doch dies erklärt noch nicht den ganzen Anstieg der Suizid-Rate. In meinem näheren jugendlichen Freundeskreis wollten sich schon drei das Leben nehmen. Andere packten die Gelegenheit am Schopf, auszuwandern («partir c’est mourir un peu»), jeder und jede auf seine Weise. Das nennt man dann brain drain, denn es sind wohl die clevereren (was für ein Wort, stimmt das überhaupt?), die sich auf die Socken machen und für sich einen Weg finden, ihrem Unglück hier in Kolumbien zu entrinnen, Kolumbien, das vielen nicht die Chancen bietet, die sie verdient hätten, und das eben auf die Clevereren angewiesen wäre, um weiterzukommen. So lastet auf vielen jungen Menschen eine existentielle Angst. Dazu kommt die Erwartung, nicht nur aus sich selbst etwas Rechtes zu machen, sondern auch noch für die Eltern und Grosseltern sorgen zu müssen. Eine glatte Überforderung.
 
Rudolf
"Bluetige Dumme"
    Am 29. Juni 1974 ging ich nach einem ereignisreichen Tag (am Nachmittag besuchte ich die Eröffnung der Ausstellung «Schweiz im Bild – Bild der Schweiz?» im Zürcher Helmhaus und traf dort viele Freunde und Bekannte; Adolf Muschg schmückte seine Eröffnungsrede ausgiebig mit Gottfried Keller-Zitaten) in den Bluetige Duume an der Marktgasse (Bild) und kam neben einen jüngeren, jedoch bereits zahnlosen Mann zu sitzen, der mir freimütig seine Lebensgeschichte erzählte, während ich mich bei einem Bier mit Läberli Rösti verköstigte. Er heisse Rudolf und sei 30, begann er seine Ausführungen. Sein Vater sei ein Nazi-Offizier gewesen, lebe jetzt aber unter anderem Namen mit einer neuen Familie in Australien. Seine Mutter hingegen wohne mit einem Oberförster zusammen in Bümpliz bei Bern. Sie sei steinreich und habe Rudolfs jüngerem Bruder zu Weihnachten einen Fiat 124 geschenkt. Von ihrem älteren Sohn aber will sie nichts mehr wissen. Mit 14 interessierte sich Rudolf für Kunst und Musik und wollte etwas in dieser Richtung studieren. Wieso er sich stattdessen dann aber als Seemann anheuern liess, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Als er 19 wurde, liess er sich ausmustern und wollte heiraten. Die Auserwählte war ein Bauernmädchen. Er bezahlte ihr eine ganze Aussteuer und kaufte für ihre gemeinsame Zukunft eine Dreizimmerwohnung, die damals 28.000 Franken gekostet haben soll. 14 Tage vor der Hochzeit jedoch wandte sich dieses Mädchen von ihm ab und liess ihn hocken. In seiner Verzweiflung ging Rudolf nach Frankreich und trat in die Fremdenlegion ein. Nach der Ausbildung zum Legionär wurde er in den Tschad verlegt. Gegen Malaria assen sie dort unten tonnenweise Chinin. Davon sei er süchtig geworden. Er wurde zum Fixer für allerlei Drogen. Nach zwei Jahren desertierte er, weil er mitansehen musste, wie in einem Gefecht sein bester Freund zu Tode geschossen wurde. Da kam ihm der Sinn des Lebens abhanden. In Lyon musste er dann wegen Fahnenflucht drei Jahre ins Gefängnis, denn ursprünglich hatte er sich für fünf Jahre Dienst verpflichtet. Später, zurück in der Schweiz, fühlte sich Rudolf nirgends mehr zu Hause und konsumierte weiter Drogen, was ihn erneut ins Gefängnis brachte. Weiter kam ich in seiner atemlos vorgetragenen Geschichte nicht, denn ich wollte bezahlen und raus an die frische Luft. Ach ja, tätowiert war er. Von oben bis unten. Ich gewann während seiner Erzählung den Eindruck, als suche er verzweifelt irgendwo Anschluss. Ich war bestimmt nicht der erste, dem er seine Geschichte auftischte. Das machte die Verabschiedung etwas mühsam. Ich floh gewissermassen (und mit schlechtem Gewissen, ihm keine Hand dargeboten zu haben) und genehmigte mir zum Absacken noch ein Bier in der Züri Bar, wo es zur vorgerückten Stunde schon ziemlich laut zu- und herging. Vielleicht weiss jemand, wie es mit diesem Rudolf damals noch weitergegangen ist?
 
Samstag, 1. Juni 1974, Rotachstrasse in Zürich
Blumenstrauss, (liebevoll hergerichtet von Bruno Egger)
    Ich habe Mutter zum Mittagessen eingeladen und wartete auf sie. Ich sass auf dem Balkon und beobachtete eine Frau, wie sie sich unserem Haus näherte. Sie sah auf den ersten Blick meiner Mutter nicht unähnlich. Doch sie war etwas fester, kleiner, vollbusiger und trug ein Kostüm, das meine Mutter nie in ihrer Garderobe hängen gehabt hätte. Diese Frau hatte Blumen bei sich, und mir schoss durch den Kopf, wie das wäre, wenn statt meiner Mutter diese unbekannte Frau zu Besuch käme. - Würde sie sich als meine Mutter ausgeben? 
    Plötzlich steht diese Frau vor der Wohnungstüre. Ich öffne und wir küssen uns auf die linke und die rechte Wange. Sie sagt: "Ich freue mich, bei dir eingeladen zu sein. Was hast du gekocht?" - Ich führe sie in die Küche, wo sie an den vor sich hinköchelnden Gerichten schnüffelt. Dann suchte sie eine Vase, um die mitgebrachten Blumen einzustellen. 
    Meine Mutter aber kommt nicht. Diese mir unbekannte Frau ist hier, sie isst bei uns zu Mittag (ich habe keinen Hunger, mit ist der Appetit vergangen), nur gezwungen führen wir ein Gespräch, und die Frau meint, ich sei nicht gerade bester Laune. Es kommt noch schöner. Sie fragt mich, ob ich schmutzige Wäsche hätte, am nächsten Dienstag sei Waschtag. Diese Frau sagt, sie führe einen Saab (wie meine Mutter), wohne an der Winkelwiese (wie meine Mutter) und behauptet zu wissen, dass ich Kalbsbratwürste nicht mag, was stimmt. 
    Ich weiss, dass, dass diese Frau nicht meine Mutter ist, und ich gewöhne mich an den Gedanken, dass diese Frau an die Stelle meiner Mutter tritt. Ich erkenne, nachdem wir uns ein bisschen aneinander gewöhnt haben, dass diese Frau ganz praktisch ist, leicht zu nehmen. Sie lässt mich leben, ich lasse sie leben. Und es gibt Phasen, wo ich traurig bin über meine verlorene Mutter, die woanders verblieben ist und sicher auch traurig über ihr Schicksal. Bestimmt macht sie das Beste daraus. 
 
Franz
    Vor sehr langer Zeit lebte ich an der Rotachstrasse in einer WG. Ich teilte die Räume unter anderen mit Franz, Franz Gnädinger, Künstler und Privatgelehrter, damals noch auf der Suche nach sich selbst. Er brachte die Erfahrung und die Bildung eines Klosterschülers aus Einsiedeln ins Haus. Sein Latein war exzellent, sein Griechisch wohl auch, was ich allerdings nicht genau beurteilen konnte. Ihn interessierten Mathematik (vor allem Geometrie), Astronomie und Leonardo da Vinci, dem er später mit theoretischen Schriften ein Gutteil seines Lebens widmete. Er empfahl mir immer wieder Buster Keaton-Filme und versuchte, aus Tomaten Konfitüre zu machen. Sein Tun und Lassen überforderten zuweilen den Haushalt bzw. mich, denn zur Befriedigung meiner eigenen Komfort-Ansprüche musste ich mich zuweilen zum Reinigungspersonal degradieren. Meine Appelle an seinen Gemeinsinn verhallten in den Zimmerfluchten meist ungehört.
    Manchmal erzählte er von seiner Schulzeit im Kloster. Vier Müsterchen hier, drei davon von Pater Carl. Zuerst aber dieses hier: "Klosterbruder Kasimir lernte das Wörterbuch Latein-Deutsch bis etwa zum Buchstaben L oder M auswendig. Dann trat er freiwillig in die Küchenmannschaft über und wusch von da weg sein Leben lang das Geschirr der 280 Klosterschüler. Als später die Gärtner den Klosterpark neu gestalten wollten, stiessen sie beim Umgraben auf Berge von schmutzigem Geschirr. Da erinnerte man sich, wie während einer gewissen Zeit in der Küche Geschirr verschwand. Kasimir schien es wohl zu stinken, die dreckigen Teller der Jungs zu spülen und liess sie im Klosterpark verschwinden."
    Das zweite Müsterchen geht so: "Pater Carl machte mit seinen Schülern einen Skiausflug. Er fuhr Ski in seiner Soutane. Ausgehungert nach einem langen Marsch kamen sie in eine Wirtschaft und setzten sich an einen der langen Tische, wo er aus seiner Soutane eine Ovomaltine- Büchse zog. Als er sie öffnete, kamen zwei Paar Wienerli mit Sauerkraut zum Vorschein. Pater Carl bat die Serviertochter, die Speisen aufzuwärmen und noch ein paar Gabeln zu bringen. Die aufgewärmte Ovomaltine-Büchse liess er dann unter den Schülern zirkulieren und forderte sie auf, sich damit zu stärken. Dann gab er der Serviertochter einen Franken Trinkgeld und verliess mit seinen Schützlingen das Lokal."
    Und nochmals Pater Carl: "Eine Zeitlang hielt er sich in einer Filiale des Klosters in Argentinien auf. Sie bestand aus einer Missionsschule und einem landwirtschaftlichen Lehrbetrieb. Er lernte Jeep fahren. Der Instruktor zeigte ihm, wie es geht, worauf sich Pater Carl ans Steuer setzte und losbrauste. Doch der Instruktor vergass offenbar zu zeigen, wie man das Fahrzeug wieder zum Stehen bringt. So fuhr Pater Carl den ganzen Tag über die Felder und kam erst gegen Abend zum Anhalten, als kein Benzin mehr im Tank war."
    Offenbar kristallisierten sich an der Person von Pater Carl allerlei Anekdoten. Niemand kann sagen, ob sie wirklich so stattgefunden haben. Ich schrieb mir Franz' Geschichten aber nicht zuletzt deshalb auf, weil ich das Klosterleben stets für sehr exotisch hielt und eigentlich selber gerne dort einmal eine gewisse Zeit verbracht hätte. "Pater Carl war Lateinlehrer. Zur Latsch-Prüfung brachte er einmal ein Kassettengerät mit und spielte während des Examens laut spanische Stierkampf-Musik ab. Die Resultate der Prüfungen sollen aber katastrophal ausgefallen sein. Niedergeschlagen meinte er darauf, dass es bei den Kühen doch so sei, dass sie bei Musik mehr Milch geben würden..."
    Franz verlor ich nie ganz aus den Augen, auch wenn er eine ganz andere Art von Leben einschlug als ich. Er deponierte seine theoretischen Schriften, die er in Leitz-Ordnern ablegte, über Jahre bei mir mit dem Wunsch, ich soll nach seinem Tod etwas damit anfangen. Und als ich zum Rektor der Kunsthochschule Luzern gewählt wurde, gab er mir die dringende Empfehlung mit auf den Weg, zum Vorkurs besonders Sorge zu tragen. Er sei das Wichtigste, was man einem jungen Menschen mit auf den Weg geben könne.
    Die Leitz-Ordner holte Franz übrigens wieder ab, als ich mich anschickte, die Schweiz zu verlassen und nach Kolumbien zu übersiedeln. 
    Franz starb am 23. Januar 2020. Sein Bruder Steve Gnädinger liess das Leitz-Ordner-Vermächnis digitalisieren und stellte Franzens gedanklichen Reichtum ins Netz. Franz meinte dazu, die Rezeption seiner Arbeit brauche wohl genauso viel Zeit wie die Niederschrift derselben. Irgendwann wird sie beginnen. 

"Fortsetzung des Forschungsberichts"
Frankfurter Allgemeine, 7. August 2024
    Die Wissenschaft entdeckt uns. Mehr als 40 Jahre nach der ersten Ausgabe unserer Zeitschrift "Der Alltag - Sensationen des Gewöhnlichen" würdigt die FAZ in ihrer heutigen Ausgabe, 7. August 2024, unsere Leistung und stellt sie als Pioniertat für einen ganzen Forschungszweig, der aus dieser Idee erwachsen ist, dar. Ein bisschen habe ich mich schon gefreut, als mein Berliner Freund Martin Schmitz, Chef des gleichnamigen Verlags, mir diesen Zeitungsausschnitt zugeschickt hat. (Schmitz lernte ich laut seinen eigenen Angaben im Jahre 1981 anlässlich einer Deutschen Werkbundtagung in Darmstadt kennen. Siehe Foto hier unten. Das Thema damals: „Architektur für den Alltag, bescheiden Bauen oder: Die Sensation des Gewöhnlichen“. Ich hielt damals auch einen Vortrag, natürlich über den "Alltag".)
    Hier nachfolgend der Text aus der FAZ, der sich auf eine kürzlich stattgefundene Fachtagung über Alltag bezieht: 

ALLTAGSKUNDE

Fortsetzung des Forschungsberichts

Von Thomas Thiemeyer

Sensationen beleben das Forschungsgeschäft, gerade wenn sie nicht danach aussehen. (Legende zum obigen Bild)

7. August 2024 · Vor einem halben Jahrhundert entdeckte die Empirische Kulturwissenschaft, damals oft noch Volkskunde genannt, den Alltag. Ist dieses Interesse inzwischen selbst nur noch Routine?

Im Jahr 1978 gründeten die beiden Studenten Walter Keller und Nikolaus Wyss in Zürich die Zeitschrift mit dem Titel „Der Alltag“, den sie alsbald um den recht schrillen Untertitel „Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ ergänzten. Grafisch gaben sich die Hefte bescheiden bis rotzig: Eine provisorisch wirkende Typewritertypographie mit unscharfem Schriftschnitt verband sich mit Fotos in Polaroidoptik, handgemachten Collagen und kaum redigierten Interviewtranskripten. Diese Ästhetik war unkonventionell und alltagsnah. Was die Grafik ankündigte, setzte sich beim Inhalt fort: „Kioskfrauen, Hebammen und Mütter, Coifeure, Brasilienreisende, Wirtinnen von Rockerkneipen, Polizisten, Heilsarmisten und Naturfreunde“ waren die Gewährspersonen der Redaktion, nicht Wissenschaftlerinnen oder Celebrities.

In den Heften schien das Unscheinbare und „Normale“ des Alltags ebenso durch wie das Freche und Ironische der Subkulturen als neuer kreativer Impuls für eine zunehmend entgrenzte Kunst und Kultur. Vor allem aber begegneten die Autoren der einfachen Frau und dem Mann von der Straße mit ganz neuem Ernst – nicht mehr von oben herab aus der Position des Besserwissers, sondern als ehrlich interessierte Vermittler ihrer Lebensgeschichten. Darin lag seinerzeit die „Sensation“: „Der Alltag“ versprach einen erfahrungsbasierten Blick auf die Welt aus der Perspektive der Bevölkerung. Er ließ die Bürger selbst zu Wort kommen und erhob sie zur erkenntnis- und kulturstiftenden Kraft.

Über die Anfänge des heute fast vergessenen Periodikums, das 1997 aufgab, erinnerte Wyss unlängst im Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich,wo das Magazinarchiv heute lagert. Im Herbst hatte schon der Zürcher Kulturwissenschftler Bernhard Tschofen in der Eröffnungsrede des 44. Fachkongresses der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaften in Dortmund das Magazin als Aufhänger genutzt, um das Kongressthema in einem Objekt einzufangen: „Analysen des Alltags“. Dabei erinnerte Tschofen an 1978 als das Jahr, in dem die Diszplin den Alltag endgültig zu ihrem Markenkern nobilitierte und Theorien zu ihm entwickelte: Die Frankfurter Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus veröffentlichte im Beck-Verlag ihr Grundlagenwerk „Kultur und Alltagswelt“, und ihr Tübinger Kollege Utz Jeggle definierte in einem bis heute zentralen Aufsatz Alltag als „problemlose, normale, wiederholbare, sicher auch mühevolle, aber auch darin akzeptable und akzeptierte Routinewirklichkeit“.

Die „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“

Alltag, hieß das, ist das Gewohnte und Gewöhnliche, so selbstverständlich, dass wir vieles von dem, was ihn ausmacht, gar nicht bewusst wahrnehmen. Er passiert eher, als dass er sich ereignet, und da er unspektakulär ist, bleibt er oft unbemerkt. Natürlich basiert er auf jeder Menge Erfahrungen, von denen aber kaum noch jemand weiß, welche das im Einzelnen sind. Das ist auch nicht nötig: Über den Alltag muss man nicht nachdenken, sondern man weiß aus dem Bauch heraus ziemlich sicher, was zu tun und wie etwas zu beurteilen ist. Als Sicherungsseil des Lebens kennzeichnet ihn für Jeggle die Angst vor Neuem: Alltage zu verändern bedroht die eigene Existenz, weil Routinen und Gewissheiten außer Kraft gesetzt werden, was im Extremfall als unzulässiger Eingriff in die soziale Intimzone verstanden wird. Pandemieleugner und Querdenker lassen grüßen.

Was den Alltag in den Siebzigerjahren so aufregend machte, war die Aussicht auf eine andere Gesellschaftsanalyse. Im Alltag ließ sich das Leben der Menschen in seinen täglichen Abläufen, Routinen, Fährnissen und Kontingenzen beobachten und mit den Augen derjenigen betrachten, die man beobachtete. Was die Menschen ganz konkret machten, bildete den Fokus einer von nun an mehr denn je auf Erfahrungen und Praktiken konzentrierten Kulturanalyse. Ihre Forschungen waren zwar kleinteilig, aber weniger abstrakt als Strukturanalysen, marxistische oder Systemtheorien, die den Menschen als fremdbestimmtes Rädchen im großen Getriebe der Institutionen, Ökonomien und Politiken verstanden. Individuelle Handlungsspielräume und eigenständige Urteile sahen diese Theorien eher nicht vor.

Die Entdeckung des Alltags war kein Spezifikum der Kulturwissenschaft. Wichtige Stichworte lieferte etwa die Wissenssoziologie. Unter dem Begriff „Lebenswelt“ hatte allen voran Alfred Schütz eine Phänomenologie des Alltagslebens entworfen, die das Handeln der Menschen auf pragmatische Motive und Erfahrungen zurückführt: Der Mensch macht schlicht das, was sich in bestimmten Situationen für ihn bewährt hat. Wer diese Motive verstehen will, muss tief in die Wissenshorizonte der Menschen eintauchen und die „gemeinsame kommunikative Umwelt“ ihres Milieus verstehen. Vor allem aber muss er sie in ihrem Denken, Glauben und Fühlen ernst nehmen und aus diesem heraus ihre „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“ erklären.

Wie verändert sich unser Alltag durch digitale Technologien?

Für die Empirische Kulturwissenschaft (die damals vielerorts noch Volkskunde hieß) war der analytische Fokus auf den Alltag einschneidend. Er veränderte den Blick auf die Gruppen, die sie untersuchte, und er zwang sie, an den Problemen der Gegenwart beobachtend teilzunehmen, statt sich auf urtümliche Relikte der „Volkskultur“ aus der Zeit vor der Industrialisierung zu beschränken. Konkret hieß das: Arbeitskultur statt Bauernleben, Fernsehen statt Folklore, Schlager statt Volkslied. Für Tschofen landete die Disziplin so unversehens in der Mitte des aktuellen Lebens und konnte gesellschaftlich und politisch wieder relevanter werden.

Das Streben zu den heißen Themen der Gegenwart hat das Fach seither nicht verloren. Die beim Fachkongress präsentierten Forschungen widmeten sich dem Leben im Lockdown und dem Strukturwandel in Neckarwestheim nach dem Aus des dortigen Kernkraftwerks. Sie schauten auf das Verhältnis von Mode, Kleidung und Körperwahrnehmungen und darauf, wie sich der Alltag durch Künstliche Intelligenzen und digitale Technologien verändert. Sie analysierten, wie Gefühle eingeübt und aufgeführt werden oder was ein Leben ohne Arbeit und in Armut mit Menschen macht. Und sie zeigten in einem besonders eindrucksvollen Panel zu Ethnographien im Gefängnis, bei Polizei, Militär und rechtsradikalen Hooligans, dass der Alltag nicht nur bräsig und behaglich, sondern auch brutal sein kann, und Forschende dann vor massive ethische Probleme stellt: Macht man bei Schlägereien und polizeilichen „Sicherungsmaßnahmen“ mit? Oder erreichen dort Teilnahme und „Kollaboration“ ihre Grenzen?

In Dortmund hat der Alltag als Dachthema zudem das Assoziationsfeld sichtbar gemacht, das der Begriff heute hervorruft: Das ist nach wie vor das Unscheinbare, Gewöhnliche, Routinierte, das in der Krise besonders deutlich vor Augen tritt. Dass sich die Gegenwart mit Krieg, Pandemie und Klima im Zustand der „Permakrise“ befinde, dieser Befund wurde von Tine Damsholt (Kopenhagen) mit Blick auf Pandemietagebücher empirisch untermauert. Er machte den Bezug zum Alltag als irgendwie geartetes Gegenteil der Krise fast schon trivial.

Nichtmenschliche Wesen als neue Sensation

Überhaupt lud der Alltagsbezug viele Vortragende dazu ein, ihn eher assoziativ zu nutzen, statt ihn analytisch weiterzudenken. Dabei wäre gerade das heute nötig: Das Ernstnehmen der je individuellen Ansichten und Verständnisse von der Welt und ihren Zusammenhängen, das den Alltag einst so attraktiv machte, bedarf in Zeiten der Chatbots, Verschwörungstheorien und Echokammern einer Revision. Nicht jede Meinung ist gleichwertig, nicht jedes Faktum beliebige Konstruktion, nicht jede Stimme spricht mit derselben Autorität.

Darüber hinaus fordern die postkolonialen Grundsatzkritiken an „westlichen“ Kategorien und Deutungen die Kulturforschung heute ebenso heraus wie die „ontologische Wende“. Deren Vertretern geht es, wie Mirko Uhlig (Mainz) zeigte, um fundamental andere Epistemologien. Radikalontologische Theorien gehen nicht mehr davon aus, dass die Lebewesen der Erde dieselbe Realität lediglich unterschiedlich wahrnehmen, sondern dass jedes von ihnen in einer anderen Welt lebt, weil sich jeder Körper unterscheidet. Für die Kulturwissenschaft ist das eine schlechte Nachricht: In fremde Ideenwelten kann man sich hineindenken (es zumindest versuchen), in fremde Körper nicht. Was bliebe, wäre die bloße Dokumentation anderer Weltsichten, die aber nicht mehr intersubjektiv zugänglich und damit kritisierbar wären. 

Die postkolonialen und ontologischen Provokationen haben die Analysen des Alltags gleichwohl aktualisiert. Das Interesse gilt – auch das wurde in Dortmund deutlich – nicht mehr allein menschlichen Beziehungen, sondern den größeren Netzwerken zwischen Menschen, Dingen, Tieren, Planzen, Technologien, Infrastrukturen und Algorithmen, in die das menschliche Handeln eingewoben ist. „Posthumanismus“, „Multispezies“, „Assemblage“, „RessourcenKulturen“ oder „NaturenKulturen“ lauten Schlagworte für interdisziplinäre Ansätze, die den Platz des Menschen in der Welt neu zu bestimmen suchen. Rund fünfzig Jahre nachdem das Konzept des Alltags die Weltsichten der (einfachen) Leute aufgewertet hat, sind nun die nichtmenschlichen Wesen und Phänomene die neuen Sensationen der Alltagswissenschaft. 

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© Nikolaus Wyss

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