Sonntag, 2. März 2025

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 13)


Beim Anhören weinen

    Ich hatte einmal eine Liebschaft mit einem Franco Meier. Das sind wohl 40 Jahre her, und er ist schon seit langem tot, wobei ich nicht weiss, ob er sich damals das Leben nahm oder ob er an einer Überdosis starb. Es kommt letztlich aufs gleiche hinaus. Er schenkte damals an einer Stehbar im noch nicht umgebauten Zürcher Hauptbahnhof Kaffee und Bier aus, und wir verknallten uns ineinander. 
    Was mich an ihm einerseits faszinierte und andererseits jeweils auch vor Rätsel stellte, war die Art, wie er kommunizierte. Er wusste seine Gefühle oft nicht in Worte zu fassen, doch Songs englischsprachiger Popstars seiner Zeit halfen ihm, das auszudrücken, was ihm selbst nicht gelingen wollte. So hörten wir auf meine Fragen hin andauernd aus seinem Kassettenrecorder Musik, deren Botschaft ich nur selten auf Anhieb verstand, die aber mit ihm wohl zu tun hatten. Die Dire Straits, und bei denen natürlich Mark Knopfler, standen ganz oben auf seiner persönlichen Gefühlshitliste.
    Ich komme darauf, weil ich momentan in einer Phase stecke, wo ich einerseits meine, mit Simons Abgang nach einer fast dreijährigen Liebschaft endlich über dem Berg zu sein. Kein Wort mehr möchte ich über ihn verlieren. Doch ich komme grad ins Heulen, wenn ich die folgenden (Abschieds-)Songs anhöre. Büne Hubers Frage hier oben, wo die Geliebte heute Nacht sich befinde, halte ich für einen der gefühlvollsten Beiträge zum Thema. Und die langsam ausklingende Maultrommel zum Schluss bringt es auf den Punkt.  
    Sehr sehr emotional bin ich kürzlich beim Anhören dieses Songs von Dabu Bucher geworden. Ich kannte ihn vorher nicht, und sein Zürichdeutsch steht einer emotionalen Poesie eher im Wege. Doch beim zweiten Mal hinhören erschütterte mich sein Lied gewaltig. Er schrieb es, als er sich in eine neue Frau verknallt hatte und sich von seiner früheren Freundin trennen wollte/musste:
 

    Udo Lindenberg will es aktiv mit Abgrenzung schaffen und redet sich ein, dass es ihm gut gehe ohne sie. Dieser trotzige Kampf mit seinen eigenen Gefühlen ist grosse Psychologie.  

 
    Das vierte Lied hat sich Simon selbst immer wieder angehört. Auch dort geht es ums Verlassenwerden und das kaum darüber Hinwegkommen:
 
 
 
Und schliesslich der Salsa zum Schluss, wo es auch um das Rätsel des Fortgehens einer Geliebten geht, allerdings so: geh schon, wenn du gehen willst.

  
 
     Ja, das Thema des Verlassenwerdens steht bei mir grad im Vordergrund, wobei ich glaube, es gehe nicht nur um den einen Menschen, von dem ich mich übrigens selbst getrennt habe. Es geht wohl eher um den schmerzhaften Abschiedsprozess vom früheren Leben, von den verbliebenen jugendlichen Restgefühlen. Ich erlebe mich jetzt plötzlich älter, als ich sein möchte. Das war früher nie der Fall. 
    Ich sehe keine Vorteile meines Alters. Es ist zwar nicht so, nochmals in ein früheres Alter zurückkehren zu wollen. Doch irgendwo einen Mehrwert zu sehen in der gegenwärtigen Situation wäre doch sehr wünschenswert. Stattdessen drohen die Zähne auszufallen, und die Arthritis erlaubt mir nicht mehr, ein normal verschlossenes Gonfiglas zu öffnen. Soll es da ein Trost sein, dass die ärztliche Untersuchung mir attestieren will, dass ich - für mein Alter (!) - kerngesund sei?
 
Der Einschlagskorridor
 

    Meine Wahlheimat Bogotá befindet sich laut neuesten Berechnungen im Einschlagskorridor des Asteroiden 2024YR4, der am 22. Dezember 2032 mit einer über dreiprozentigen Wahrscheinlichkeit die Erde treffen wird. Ein vorangekündigtes, himmlisches Vorweihnachtsgeschenk, das mir insofern in den Kram passt, als es nicht die einzige Bedrohung darstellt, die mich derzeit umtreibt. Natürlich ist es nicht dieselbe Dimension, doch hinter unserem Haus flattern seit kurzem giftgrüne Flaggen, die verheissen, dass hier ein Neubau geplant ist. Man spricht von 30 Stockwerken, wobei ich selbst die Pläne noch nicht gesehen habe. Schon einmal planten sie auf diesem Parkplatz eine Überbauung. Das war noch vor der Pandemie. Dann aber wurden die Baumaterialien teurer, und die Berechnungen der bereits verkauften Flächen ergaben, dass sich der Bau nicht lohnt. Jetzt scheint es einen zweiten Anlauf zu geben mit potenteren Geldgebern, die vor steigenden Zement- und Stahlpreisen nicht zurückschrecken.

    Plötzlich sehe ich meinen Alterssitz für gefährdet. Ich weiss nicht, ob ich in meinem fortgeschrittenen Alter in unmittelbarer Nähe zwei bis drei Jahre Bauzeit mit all dem Lärm, dem Staub und den Erschütterungen schadlos überstehe für einen Klotz, der mir zum Schluss Licht und Sicht rauben wird. Und manchmal denke ich, wenn die Investoren die Einschlagswahrscheinlichkeit des Asteroiden als Risikofaktor ernst nehmen würden, würden sie von der Errichtung des Bauwerks vielleicht die Finger lassen…

 

Der 20. Februar

 


    Geburtstage haben ihre eigene Hierarchie. Für ein Kind ist der Geburtstag in jedem Jahr ein Ereignis, geschürt von stolzen Eltern mit Kerzlein-Ausblas-Ritualen, Kindereinladungen und Geschenken. Hinzu kommen ab einem bestimmten Alter die Eintrittsberechtigungen für Kindergarten und später für die Primarschule. Und dann signalisiert jeder weitere Geburtstag, in welche Filme man schon gehen darf und welche noch verboten sind (und man trotzdem hingeht). Dasselbe gilt für den Kauf von Alkoholika und Tabakwaren. Auch Sex ist altersgeregelt, der Führerausweis und die politische Mündigkeit. Das heisst, Geburtstage haben im Kindes- und Jugendalter ihre legitimierende Wichtigkeit. Dann aber lässt ihre Bedeutung nach. Wenn man einmal 20 ist, so ist der 21. Geburtstag oder der 22. oder der 23. nicht mehr das Tor zu einem neuen Lebensgefühl der Freiheit und der bis anhin verbotenen Zugangsberechtigungen. Wenn man dann trotzdem seinen Geburtstag feiert, so ist es, weil man es schön findet und Aufmerksamkeit geschenkt bekommt. (Umso trister, wenn sich niemand dieses Anlasses annimmt. Ich kenne ein paar Jungs hier in Kolumbien, in deren Familien Geburtstage kein Thema sind. Oft mangelt es auch an Geld, ihn gebührend zu feiern. Diese Jungs wenden sich dann an mich und kündigen an, dass sie übermorgen Geburtstag hätten in der Erwartung, ich würde ihnen etwas spendieren, was ich im allgemeinen auch gerne tue.)

    Weitere Lebensereignisse aber, wie bestandene Prüfungen, Stellenwechsel und Hochzeiten, halten sich nicht an das eigene Geburtsdatum und laufen so der Bedeutung des Geburtstags den Rang ab. Natürlich gibt es Ausnahmen bei runden. Ich zum Beispiel feierte meinen 40. in der algerischen Sahara in der Nähe von Tamanrasset. Den 50. in Luzern mit 200 Gästen aus nah und fern, den 60. als Abschied von meinem Posten als Rektor, den 65. in der Mars-Bar an der Zürcher Langstrasse, den 70. auf dem Dach unseres Hauses hier in Bogotá, ebenso den 75., dies gerade zweimal. Einmal hier in Bogotá wieder auf dem Dach des Hauses mit 30 Gästen, und das zweite Mal im Juni in der Schwamendinger Ziegelhütte am Rande des Zürichbergwaldes mit über 60 Gästen. Daran erinnere ich mich gerne zurück mit dem Gefühl des Geliebtseins und der Dankbarkeit.

    Kürzlich wurde ich 76, und einige meiner Generation haben nicht reagiert, was ihnen nachträglich peinlich war. Mein Gott, in diesem Alter hat ein 76. doch keine besondere Bedeutung. Mir fiel das Ausbleiben von einigen Glückwünschen nicht einmal auf. Denn gleichzeitig bekommt man ja auf Facebook einen kaum überblickbaren Schwarm von "happy birthdays" von mir meist persönlich unbekannten Usern/"Freunden" aus aller Welt...

    Ich feierte meinen diesjährigen Geburtstag ohne grossen Aufhebens, auch wenn meine Hausbewohner in kleinem Rahmen mit einer Torte für einen feierlichen Augenblick gesorgt hatten. Doch die Bedeutung eines Geburtstages liegt bei meiner Alterskategorie woanders. Wo stehen andere 76jährige? – Bröckelt es bei ihnen schon gewaltig, oder rieselt es eher (wie bei mir)? Und mit wachsendem Wohlwollen erinnere ich mich an meine Grossmutter, wenn sie über Gleichaltrige oder soeben Verstorbene sprach. Das war jeweils eine grosse Peer Review, bei welcher sie bis ins hohe Alter ziemlich gut abschnitt.  

 

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©Nikolaus Wyss
 

 

   

 

 

 

Freitag, 28. Februar 2025

Schwedensplitter


 

    Das erste Kinderlied, das ich als Bub auswendig konnte, war auf Schwedisch, hiess „Mors lilla Olle“ und handelte vom kleinen Buben Olle, der in den Wald ging, um Beeren zu pflücken. Er fühlte sich aber einsam. Doch plötzlich knackte es im Gebüsch. „Brummelibrum, vem lufsar där?“ heisst es dann im Lied. Brummelibrum, wer kommt denn da? Olle meinte, einem grossen Hund zu begegnen, und freute sich über das Zusammentreffen. Jetzt hatte er einen Spielkameraden. Olle liess ihn von seinen Beeren kosten und streichelte das struppige Fell. Als die Mutter dazustiess, schrie sie laut auf und verscheuchte das Tier. Es war ein Bär. Olle war enttäuscht und bat die Mutter vergeblich, den Spielkameraden zurückzuholen.

    Meine Mutter hat das Lied in Schweden vorsorglich auswendig gelernt, damit sie dann gut gerüstet ist, um dem eigenen Kind etwas vorsingen zu können. Trotz etlicher Ehejahre gab es jedoch keinen Nachwuchs. So nahm sie das Lied mit auf ihren Rückweg in die Schweiz und bewahrte es für mich auf, Jahre später gezeugt von einem früheren IKRK-Delegierten und damaligen Bezirksammann von Flawil mit weiterreichenden politischen Ambitionen, die ihn später als Nationalrat immerhin bis ins Bundeshaus trugen.   

    Schweden war also von kleinauf präsent in unserem Haushalt. Mindestens zweimal im Jahr zum Beispiel kamen Kerstin und Kecke mit ihrem schnittigen GM-Roadster vorbei. Kerstin betrieb damals in Stockholm ein Geigengeschäft und ging regelmässig nach Italien auf Einkaufstour. Kecke begleitete sie als Chauffeur, Geiger und (vermutlich) Geliebter. Er spielte im Kungliga Filharmoniska Orkestern, in der Königlichen Philharmonie Stockholm also. Er probierte die ins Auge gefassten Instrumente aus und überprüfte sie auf ihre Qualität. Ich frage mich noch heute, wie die vielen Geigen in diesem engen Sportwagen von Italien nach Stockholm Platz gefunden haben. Kecke sprach nur Schwedisch und erzählte einen Witz nach dem andern, was für mich etwas anstrengend war, weil ich nichts verstand. Mutter übersetzte mir zuweilen eine von Keckes Geschichten. In der Philharmonie zum Beispiel soll einmal ein vom Orchester vielgehasster Dirigent auf dem Podium gestanden haben. Einer, der die Musiker anschrie. Da soll das Orchester auf ein geheimes Zeichen hin das Konzert begonnen haben noch bevor der Dirigent den Taktstock hob. Das gefiel mir als Zeichen adäquaten Protests.

    Es kam oft vor, dass Mutter mit schwedischen Freundinnen telefonierte. Am meisten mit Anita. Sie war in Stockholm mit einem Staatsanwalt verheiratet und verfügte über hellseherische Fähigkeiten. Sie konnte zum Beispiel bei der Suche nach einem Parkplatz mit Sicherheit voraussagen, dass im 5. Stock eines Parkhauses auf Feld 523 noch ein Parkplatz freistand. Ihr Mann fuhr ohne zu zögern zum vorausgesagten Platz hoch, der, siehe da, frei war. Anita als Vertrauensperson blieb meiner Mutter ein Leben lang verbunden und erwies sich besonders in jenen Zeiten als hilfreich, als ich, schon lange weggezogen, meiner Mutter nicht mehr über alles und jedes Detail aus meinem eigenen Leben berichterstatten wollte. So befriedigte Mutter ihre Neugier, indem sie ab und zu Anita anrief, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Triumphierend erstattete Mutter mir danach jeweils Bericht. Am Telefon teilte sie mir mit, sie sei so froh, dass es mir gut gehe. Anita hätte es ihr versichert.

    Im Sommer 1966 kam es zu einer Schwedenreise. In einem blauen Morris 1800, den meine Mutter bald darauf schon wieder verkaufte, weil sie entdeckt hatte, dass ihr Vorgesetzter beim Tages-Anzeiger, Chefredaktor Walter Stutzer, dasselbe Modell fuhr, was sie als untergebene Redaktorin nicht statthaft fand, in einem blauen Morris also fuhren damals Mutter, mein Vetter Tobias und ich durch Deutschland und Dänemark, um ihre Freunde in Schweden zu besuchen. Allzu viel ist mir von dieser Reise leider nicht in Erinnerung geblieben. Die vielen Mücken und der penetrante Regen auf Öland schon, und das wundersame Barocktheater mit seinen fein gemalten Laubsägekulissen auf Schloss Trottningholm auch. Tobias vermag sich heute noch an Besuche bei verschiedenen Familien erinnern, bei den Täslers zum Beispiel in Örebro, deutschen Kommunisten, welche vor Hitler nach Moskau fliehen mussten und später vor Stalin nach Schweden. Werner Taesler war Architekt und konnte sich mit Aquarellmalereien und Bauaufträgen leidlich über Wasser halten. Seine Frau Irene, so erzählte es mir meine Mutter, nahm sich im schwedischen Exil vieler Flüchtlinge an, was sie aber zuweilen auch überforderte. Von ihr soll der Spruch stammen: „Der Kamm liegt bei der Butter“, was jeweils als untrügliches Zeichen einer masslosen Erschöpfung gedeutet werden durfte.

    Am hellsten in Erinnerung geblieben ist mir der Besuch bei Chefkoch Werner Vögeli im Stockholms Operakällaren, damals eines der angesagtesten Feinschmeckerlokale der Stadt, ausgestattet mit Michelin-Sternen, von Tradition und Reputation her vielleicht am ehesten vergleichbar mit der Zürcher Kronenhalle. Zur Finanzierung unserer Reise nach Schweden musste Mutter ein paar Reportagen heimbringen. Da erwies es sich als Glücksfall, dass der Schweizer Vögeli im Opernkeller für Könige, Opernstars und Nobelpreisträger den Kochlöffel schwang. Das vermochte eine Schweizer Leserschaft zu interessieren. Dort erfuhr ich auch, dass der Chefkoch zum Ausprobieren neuer Rezepte neben seinem Büro über eine Probeküche verfügte. Das machte mir Eindruck. Ich glaube, wir konnten nach dem Interview Dank preislichem Entgegenkommen von Herrn Vögeli und auf Spesen des Tages-Anzeigers auch ein mehrgängiges Menü kosten. Was auf den Tisch kam, ist mir jedoch entfallen. Fische und Meerfrüchte vermutlich. Bemerkenswert aber ist, dass ich seither diesen Opernkeller von Stockholm als ultimativen kulinarischen und kulturellen Höhepunkt gespeichert habe, der mir jedes Mal in den Sinn kommt, wenn ich an Stockholm denke. Später wollte ich noch zweimal dort einkehren, beide Male war er aber entweder wegen Renovationsarbeiten oder wegen eines Wirtesonntags geschlossen.

    Mutter wurde auf dieser Reise von einer gewissen Melancholie begleitet. Erinnerungen an ihr eigenes, gescheitertes Eheleben kamen ihr wohl hoch, eine gewisse Trauer auch. Sie wollte uns Buben damit zwar nicht belasten, doch ganz verstecken konnte sie ihre Gefühle nicht. Waren es Reue und Versagen? Oder war es eher eine verhalten-stolze Nachdenklichkeit, verbunden mit dem Wunsch, ihren alten Freunden zu zeigen, dass sie es trotz allem beruflich zu etwas gebracht und einen unehelich geborenen Sohn hochgezogen hat, der zwar unerträglich tief noch in der Pupertät steckte, aber ansehnlich und grossgewachsen war? – Ich weiss es nicht.

    Wir statteten auch dem kurz vorher aus dem Meer gehobenen Kriegsschiff Vasa einen Besuch ab, das im 17. Jahrhundert auf seiner Jungfernfahrt vor Schwedens Küste gesunken war. Es wurde täglich abgespritzt, damit das brüchige Holz nicht austrocknete. Und in Stockholm sah ich zum ersten Mal eine überlebensgrosse Skulpur von Nicki de SaintPhalle: eine liegende Nana, die man durch eine torweit geöffnete Vagina betreten konnte. – Schweden blieb mir als modernes, zukunftsgerichtetes und menschenrespektierendes Land in Erinnerung, wo noch Linksverkehr herrschte, wo rund um Stockholm Satellitenstädte hochgezogen wurden, die ich damals für interessant hielt, und wo alle Menschen farbige, holzige Wochenendhäuschen besassen, die entweder in den mückengeplagten Wäldern oder an kalten Gewässern standen oder dann auf kahlgewaschenen Schären klebten und fröhlich-munteres Leben evozierten. Eine echte Alternative zur Schweiz.   

    Wieder zuhause, wechselte Mutter bald schon vom Morris zu einem Saab 99, schwedisch, wie Volvo auch, von Chefredaktor Stutzer noch nicht vereinnahmt, mit allen modernen charakteristischen Sicherheitsmerkmalen ausgestattet (Knautschzonen zum Beispiel oder geknickte Lenkstangen), die in englischen Automobilen von damals nicht durchgängig vorhanden waren oder nur gegen Aufpreis zur Verfügung standen. Mit dem Saab chauffierte ich Mutter in späteren Jahren nach Italien und nach Frankreich, manchmal lieh sie ihn mir für eigene Fahrten aus. Man fühlte sich im Auto unangefochten sicher, ja unsterblich. Schwedische Qualitätsarbeit halt, aber auch das wenige, was mich im täglichen Leben, neben der Musik der ABBA natürlich, noch an Schweden erinnerte,  und ausser IKEA in Spreitenbach natürlich, die Möbelfirma, die in der Schweiz als erste ihre Kundschaft geduzt, als Appetizer für den ewiglangen Rundgang durch die Verkaufsebenen Köttbullar (Fleischklösschen) angeboten und geniale Büchergestelle verkauft hat, und ausser dann, wenn im 1. Stock des Zürcher Bahnhofbuffets einmal im Jahr mit einem Smörgåsbord schwedische Wochen gefeiert wurden. Dazu lud ich jeweils meine Mutter auf eigene Rechnung ein. 

    Was nicht so passte in mein sanftes Schwedenbild, war die lange Zeit nicht aufgeklärte Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme vom 28. Februar 1986. Wie kommt es, fragte ich mich damals, dass in einem sozialdemokratischen Land, das so viel für seine Bürger tut, dafür aber auch krass Steuern einzieht, dass dort ein konservativer Ministerpräsident, der sich für Abrüstung und Frieden und für die Dritte Welt einsetzt, so stark die Wut eines Bürgers auf sich zu ziehen vermochte, um mit seinem Leben büssen zu müssen?

    Ach ja, und jetzt taucht vor meinem geistigen Auge noch der alte Schwede Carl-Axel Englund auf, genannt Charlie, ein unbekümmerter Wikinger, ein journalistisches Schlachtross, das immer nur Lösungen sah und nie Probleme, was zuweilen auch anstrengend war. Wieso hat er überhaupt in der Schweiz angeheuert? - Ich weiss es nicht. Es gibt jedenfalls wohl kaum einen Journalisten, der im Laufe seiner Karriere derart steile Auf- und Abstiege verzeichnen kann wie er. In seinem Palmarès figurieren Blick und NZZ ebenso wie Lokalblätter, zum Beispiel die Zuger Presse oder die Oerliker Vorstadt. Jetzt sei er, 65jährig, beim Tages-Anzeiger zuständig fürs Sihltal, heisst es im Gewerbe. Ich war einmal ein Kollege von ihm beim Züri Leu, einer Gratiszeitung, die damals von Jürg Ramspeck geleitet wurde. Mittags spielten wir immer irgendwelche Strategiebrettspiele.  

    Wieso diese Schwedensplitter? – Anlässlich eines Telefonats mit meinem Freund Hans-Martin in der Schweiz vernahm ich, dass er beabsichtige, in diesem Jahr Schweden zu besuchen. Ich unterstützte sein Vorhaben und kam ins Erzählen, was ich alles von Schweden noch weiss. Mehr beschäftigte ihn aber der Umstand, dass eine Reise in den Norden auf dem Landweg dreimal teurer ist und sieben Mal länger dauert als mit dem Flugzeug. Dabei hatte er sich doch geschworen, nie mehr zu fliegen. Dieser Schwur ist auch der Grund, weshalb er mich in Kolumbien nie besuchen kam, was ich respektiere. Jetzt stellt ihn Schweden aber auf eine harte Probe.  

    1995 begleitete ich Mutter noch einmal nach Schweden. Sie wollte mich nach dem Tod meines Partners Chai mit dieser kleinen Reise aufmuntern. Natürlich machten wir auch Halt bei Anita. Sie kannte selbstverständlich meine Geschichte mit Chai. Während des Essens schreckte sie plötzlich auf. Sie meinte dort oben in der Ecke des Esszimmers Chai zu erkennen (als Fliege?) und zu wissen, dass es ihm jetzt gut gehe. Dann wendeten wir uns wieder dem Schwedenbraten zu. Ich bedankte mich für ihren Blick über die Todesgrenze hinaus. Später am selben Tag begleitete ich Mutter zu einem Treffen mit Madeleine Gustafsson, der in Scheidung begriffenen Ehefrau des Schriftstellers Lars Gustafsson, selbst Autorin und Übersetzerin. Wir trafen sie in einer grossen, gut beheizten Markthalle. Die beiden Frauen sprachen miteinander Schwedisch, und ich hatte genug Zeit zu beobachten, wie sich die beiden auf Anhieb gut verstanden, ohne sich vorher persönlich gekannt zu haben. Es herrschte eine frauensolidarische Atmosphäre, beide erfolgreich mit Literatur vertraut und diese praktizierend, beide mit dem Schicksal untreuer Ehemänner behaftet. Das schaffte eine Stimmung, die mich total aussen vor hielt und mich gleichzeitig stolz machte auf die beiden Frauen, die unbeirrt und selbstbewusst ihre eigenen Wege gegangen sind.  

    Die letzten Schwedensplitter sind schnell erzählt. In Göteborg organisierte ich als Board-Member und Delegierter im Auftrag der European League of Institutes oft the Arts ELIA und in Zusammenarbeit mit der Universität Göteborg 2008 einen grossen Kongress für Verantwortliche von Europäischen Kunsthochschulen. Dieser Auftrag führte mich mehrere Male an die Westküste Schwedens. Die Vorbereitungen des Events waren interessant, auch wenn niemand von meinem Vorschlag begeistert war, am Eröffnungsabend „Mors lilla Olle“ zu singen. Stattdessen musste ich im Rahmen einer PechaKucha-Veranstaltung in 6 Minuten und 20 Sekunden unsere Luzerner Kunsthochschule präsentieren, was mir bei der Vorbereitung einiges Kopfzerbrechen bereitete (man hätte doch so viel mehr zu erzählen gehabt). Weder der Keynote-Speech einer brillanten Persönlichkeit noch alle sonstigen Veranstaltungen sind mir in Erinnerung geblieben. Noch schlimmer, dieses Göteborg kam mir etwas langweilig vor. In den freien Minuten wusste ich jeweils nicht so recht, was ich jetzt dort unternehmen könnte. Auf dem Uni-Campus hingegen hielt ich die Lehrformen, Methoden und Curricula in den künstlerischen Departementen für wesentlich interessanter und fortschrittlicher, als was wir damals in Luzern praktizierten, doch ich fühlte mich nicht eingeladen, diese in Anbetracht unseres eigenen Personalbestands und unserer kunstbildungsfeindlichen Innerschweizer Politik (siehe „Nur schwache Erinnerungen an Luzern“)  in einen Schweizer Kontext zu implementieren. In Göteborg war wesentlich mehr Geld, künstlerisches Selbstverständnis und Internationalität vorhanden. Alle, sowohl das Lehrpersonal wie auch die Studierenden, beherrschten Englisch, und das Schliesssystem in den Gebäulichkeiten war schon komplett elektronisiert, während wir in Luzern immer noch mit klobigen, uneinheitlichen Schlüsseln für jedes einzelne Zimmer zu kämpfen hatten.

    Letzter Splitter. Im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen für Führungskräfte an Fachhochschulen führte uns einmal eine Reise nach Schweden und Finnland, wo wir Forschungsstätten, industrielle Betriebe und Universitäten besuchten. Doch am meisten beeindruckte mich die Überquerung des Bottnischen Meerbusens. Der Steuermann musste sein Schiff an Tausenden von putzigen Inselchen vorbeischlängeln, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn er irgendwo aufgelaufen wäre. Helsinki übrigens beeindruckte mich atmosphärisch wesentlich mehr als Stockholm, so dass es mich schon fast reute, Finnland nicht schon früher meine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben: es kam mir zwar nüchterner vor, doch gleichzeitig weniger sorgenfaltig als das verwöhnte Schweden. Als Mitbringsel überreichte der Leiter unserer Bildungsgruppe, Hans-Kaspar von Matt, den Gastgebern jeweils eine grosse Toblerone-Schokolade, wie man sie auch dort in jedem Supermarkt erstehen konnte. Ich machte ihn einmal darauf aufmerksam, doch er meinte, der Zuckergehalt sei in jedem Land anders. Die Schweizer Schoggi-Version sei im Vergleich dazu gesünder und weniger süss... 

 

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©Nikolaus Wyss
 

 

     


Donnerstag, 13. Februar 2025

Krieng - sawadee krap

Kriengsak 'Victor' Silakong

Es ist ein merkwürdiges Gefühl von Verlorenheit, plötzlich einem Menschen nachtrauern zu müssen, der schon vor bald drei Jahren gestorben ist. Doch ich habe erst gestern davon erfahren und zwar, als wir über Suppen sprachen. Wir erinnerten uns an eine Begegnung mit ihm in Bangkok vor vielleicht sieben Jahren. Er führte uns damals in ein Restaurant, wo in der Mitte des Tisches ein Gasbrenner Wasser in einem grossen Topf zum Sieden brachte. Dann bestellte er Zutaten wie Shrimps, Rindfleisch, Pilze und Gemüse unterschiedlichster Art, die jeder nach und nach mit Stäbchen in sein eigenes Körbchen packte und dieses anschliessend zum Garen ins kochende Wasser tauchte. Mit interessanten Sösschen angereichert verspeisten wir das so Zubereitete. Seine Anweisungen und Kommentare waren kenntnisreich und dergestalt, dass wir uns in der Stadt wohl grad im besten Suppenrestaurant befinden mussten. Darunter ging nichts. Das war seine Einschätzung, die er uns mit Nachdruck zur Kenntnis brachte. Er bewertete und kommentierte alles in dieser Art von Ratings. Zum Schluss blieb eine kräftige Suppe übrig, ihm zufolge natürlich die allerbeste, die wir dann anstelle einer Nachspeise auch noch schlürfen durften.

Nach dieser gestrigen Erinnerung nahm es mich wunder, wie es ihm geht und was aus ihm noch geworden ist. Damals war er Direktor des Filmfestivals von Bangkok. Eine angesehene, hochrangige Person, die Zugang zum Königshaus, zu Ministerien und Ämtern hatte, der für gewöhnliche Menschen verschlossen blieb. Im Laufe der vielen Jahre, in denen wir uns schon kannten, rief er mich ab und zu an, und wir plauderten über Filme, die ich gesehen haben sollte, und über Jungs, die in seinen Augen in Kolumbien attraktiver seien als in Peru. Doch dafür sei in Peru das Essen um Welten besser. "The best". Er kannte Cartagena an der Karibikküste gut. Er besuchte dort einige Male das Filmfestival, sagte aber immer wieder, wie müde er sei, und dass er aufs Alter hin im Süden Thailands gerne ein Gästehaus eröffnen möchte, dort, wo seine Eltern eine Kautschuk-Farm betrieben. Es interessierte ihn, wie ich hier in Bogotá unser kleines bed&breakfast führe. Er wollte einmal vorbeischauen kommen.   

Ich suchte also gestern im Internet nach Kriengsak Silakong, so hiess er, auch Victor genannt, und stiess zu meinem Schrecken auf einige Nachrufe,verfasst im März 2022: Unwohlsein mit Schmerzen in der Brust, Überführung ins Spital, kurz darauf Eintritt des Todes. Die Kommentare hielten fest, dass sein Tod ein grosser Verlust des thailändischen Kulturlebens sei. Mir verschlug es die Sprache.

Doch heute lasse ich betroffen, traurig, aber dankbar auch für unsere Freundschaft, Revue passieren, was alles uns verbunden hatte: 1989 war ich auf Reportage in Thailand. Zusammen mit dem Fotografen Emanuel Ammon. Es ging um die Erstaufführung von Friedrich Dürrenmatts Stück „Der Besuch der alten Dame“ auf Thai. Darüber wollte ich berichten. Bei unserer Ankunft wurde mir ein Begleiter zugeteilt, der Übersetzerdienste und auch sonstige Hilfestellungen leisten sollte. Er stellte sich mit Kriengsak vor und sprach ausgezeichnet Englisch. Was ich nicht erwartete: für ihn repräsentierte ich den gebildeten Westeuropäer, und er wollte die Gelegenheit beim Schopf packen, von meinem Wissen so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. So verwickelte mich der junge Mann gleichentags in ein Gespräch über Thornton Wilder („Die Brücke von San Luis Rey“, „Unsere kleine Stadt“), über Samuel Beckett („Warten auf Godot“), und über das Beziehungsgeflecht und die Gedichte von André Gide, Paul Valéry und Mallarmé, Rimbaud, Verlaine und Baudelaire. Ich konnte seine Neugier kaum befriedigen. Er wusste mehr als ich, auch wenn er mich dies nicht spüren liess. Ich glaube, ich steigerte bei ihm mein Prestige noch, als ich befand, dass ich die Theateraufführung der alten Dame für missraten hielt, denn das schien ihm Beweis genug gewesen zu sein, dass ich in Literatur und Kunst sachverständig war. Sein Bildungshunger beeindruckte mich, und irgendwann landeten wir im Bett, wo sich sein Hunger noch auf andere Weise zeigte. Wir bekamen Lovers, wohlwissend, dass dieser Kontakt grossen Einschränkungen unterworfen sein würde. Er studierte in Thailand, ich arbeitete in der Schweiz.   

Einmal kam er mich besuchen in der Schweiz. Ich wohnte damals in Schwamendingen. Nichts schmeckte ihm. Er ass keinen Salat, kein Gemüse, kein Grünzeugs (er pickte die Petersilie in einer Sauce fein säuberlich raus), konnte mit Fondue und Zürich-Geschnätzeltem nichts anfangen und verlor, dünn wie er war, innert einer Woche noch zusätzlich drei Kilo. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, führte ihn in ein Thai-Restaurant, das aber in seinen Augen der originalthailändischen Küche das Wasser nicht reichen konnte. Er liess das Bestellte einfach stehen. Doch eines Tages kam er glücklich nach Hause. Er sagte: „Now I am happy. I have been at MacDonald’s. It’s like at home.” – Dieses Zitat verwendete ich einige Male in öffentlichen Diskussionen, wenn es um Heimat und Globalisierung ging. Kriengsak, der als Schüler in Bangkok seine Hausaufgaben stets in den klimatisierten Räumen einer Mac-Filiale machte (zu Hause hatten sie nur einen Ventilator), fühlte sich in der so weit entfernten Schweiz plötzlich wie in seiner vertrauten Umgebung... 

Doch. Röschti mochte er auch und kaufte am Ende seines Aufenthaltes in der Migros ein paar Packungen vorgefertigter Röschtis, die man ohne weitere Zutaten in einer Bratpfanne anbraten konnte. 

Manchmal nervte mich Krieng auch, indem er keinen Unterschied gelten liess zwischen einer historisch gewachsenen, jahrhundertealten Altstadt und einem Neubau oder Disneyland. So lange ihn die Ästhetik befriedigte, konnte es gestern entstanden sein, auch ohne Reifeprozess und Patina (die man ja, befand er, auch anmalen konnte).

Meine Mutter, die wir einige Male besuchten, mochte Krieng gut und verwöhnte ihn. Sie schenkte ihm Kinoeintritte und besorgte für ihn ein Fläschchen Tabasco, das er fortan auf die Speisen schütten konnte, um so ein bisschen thailändische Schärfe zu kosten. Zum Abschied seines Aufenthalts bedankte er sich mit einem Lied. Er sang a capella vor meiner Mutter Frank Sinatras Lied „Stranger in the Night“. Auf Thai. Er hatte eine klare, kräftige Stimme, und das Lied bekam mit den unverständlichen Wörtern eine exotische Färbung. Sein Liedvortrag rührte uns sehr.

Der Zeiten Lauf brachte es mit sich, dass sich bei einer Distanz von 9000 Kilometern unsere Gefühle füreinander allmählich abschwächten. Umso erstaunlicher scheint mir, dass wir über Jahrzehnte brieflich und telefonisch in Kontakt geblieben sind. Nicht oft, aber so, dass wir immer wieder einmal voneinander wussten, was dem anderen so alles widerfahren ist.

Nach dem Studium, so mein Kenntnisstand, arbeitete er in der Filmbranche, fertigte für ein Thai-Publikum Trailers grosser Blogbusters an, amtete als Synchronsprecher und freundete sich mit dem französischen Botschafter an, der ihm mit seinen Kontakten ermöglichte, Theaterstücke zu schreiben und auch zu inszenieren. Krieng sprach seit einem späteren Schauspielstudium in Paris gern Französisch und eignete sich dabei auch gleich die französische Arroganz an, scharfe Urteile zu fällen und etwas auf die anderen hinunterzublicken, was ihm bei seinem beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg durchaus zu Hilfe kam. Er nannte sich von nun an Victor.

Er hatte eine ältere Schwester, die laut Krieng nach Singapore heiratete und eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde. Und er hatte einen jüngeren Bruder, dem er um alles in der Welt Bildung beibringen wollte. Er schenkte ihm Bücher und schleppte ihn in Kinos und Theateraufführungen, musste aber mit Befremden feststellen, dass dieser immer einschlief, sobald es dunkel wurde im Saal. Später, als Filmfestivaldirektor, stellte Kriengsak aber fest, dass dieser Bruder ein untrügliches Urteilvermögen besass für Filme, die auf einem Festival Erfolg haben könnten. So wurde er Kriengsaks Assistent, der alle in Betracht gezogenen Festival-Filme zu Hause auf einem Kassenrecorder vorvisionierte und mit seinen Empfehlungen gehörigen Einfluss aufs Festival-Programm auszuüben vermochte.  

Ich glaube, Krieng hatte nach mir zwar Dutzende von lovers, aber niemanden, mit dem er sich wirklich zusammentun wollte oder konnte. In unseren langen, gelegentlichen Telefongesprächen beklagte er sich oft, dass sein Lebensstil und die Arbeit es kaum zuliessen, eine ernsthafte Beziehung aufzubauen. Er reiste jedes Jahr in der Economy-Class rund um die Welt (auch wenn er sich ein Business-Ticket durchaus hätte leisten können). Er besuchte in allen Kontinenten Filmfestivals und ass sich durch die angesagtesten Restaurants. Viel hielt er sich auch in Indien auf, ich weiss nicht, ob privat oder geschäftlich. Zu Hause in Bangkok unterrichtete er in den Armenvierteln einmal in der Woche Jugendliche in Englisch und sonderte, so erzählte er mir, als weiteres Hobby auf Twitter Sottisen ab, spitze Bemerkungen zum Zustand seines Landes - unter Schonung des Königs, selbstverständlich. Ich besuchte ihn über die Jahre verschiedentlich in Thailand und stellte fest, dass mein kleiner Assistent und Liebhaber von damals allmählich in die höchsten Kreise Thailands aufgestiegen war. Krethi und Plethi kannten Victor, während dieser gerne klagte, dass das alles zu viel für ihn sei. Er träumte von einem ruhigen Leben. Wie ernst er es damit meinte, weiss ich nicht, ich sehe nur, dass ihm dies wohl bis zu seinem Ableben nicht vergönnt war.

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©Nikolaus Wyss
 

 

Dienstag, 17. Dezember 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 12)

 22. September 2024

Wer über die Jahre meine Bemerkungen zu meinem Wohnort Bogotá etwas verfolgt hat, durfte mit Fug feststellen, dass es hier regnerisch zu- und hergeht. Regnerisch und kalt. Deshalb war es nur natürlich, auf meinem kürzlich errichteten Balkon einen Wassertank einzuplanen, der das Regenwasser vom Dach sammeln würde für die Wässerung der Pflanzen im gedeckten Teil. Nun ist der Tank seit geraumer Zeit angeschlossen. Doch von Wasser keine Spur.
    Anfangs dieses Jahres sprach man vom Wetterphänomen "El niño", das hier alle 6-7 Jahre das Niederschlagssystem durcheinander bringt mit einer Trockenperiode (sogar zahlreiche Waldbrände sind deswegen ausgebrochen und haben Naturschutzgebiete rund um die Stadt zerstört), die dann aber normalerweise abgelöst wird von einer Phase besonders heftiger Niederschläge, "La niña" genannt. Sogar der Bürgermeister von Bogotá, Carlos Fernando Galán, bereitete die Bevölkerung darauf vor, dass es nach dem Niño heftig werden könnte. Doch seit dem Januar dieses Jahres fiel bis jetzt kaum ein Tropfen Regen. Hat es der Niño auf eine Verlängerung angelegt? Oder ist die Niña auf dem Weg hierher verkommen? Tatsache ist jedenfalls, dass das Leitungswasser aus den umliegenden Stausees hier seit geraumer Zeit rationiert ist und mein Balkon-Tank bisher keinen Tropfen Wasser sammeln konnte.
    Ich glaube langsam, das Familienspiel zwischen dem Buben (niño) und dem Mädchen (niña) ist zu Ende, und der globale Klimawandel ist endgültig auch hier in der hochgelegenen Andenstadt angekommen.
 
27. Oktober 2024

Sonntagmorgen. Das ganze Haus schläft noch. Wir waren gestern in einem Club an einer Halloween-Party, wo Danika (Lomaasbello) auftrat. Doch ich hielt den Lärm nicht lange aus und fuhr nach ihrem Auftritt mit einem Uberfahrer, der an den Strassenkreuzungen der nächtlichen Stadt prinzipiell sämtliche Rotlichter ignorierte, brav und froh nach Hause, während die anderen durchfeierten bis ich weiss nicht wann. Jetzt schlafen sie nicht nur ihren Kater sondern auch ihren Hörschaden aus. Ich jedoch setzte nach meinem Frühstück, nach der Fütterung der Katze, nach dem Giessen der Blumen, nach einer Patience und nach ausgiebiger Zeitungslektüre einen Topf auf mit Kalbsknochen (aus dem Tiefgefrierer, deshalb ragen sie hier noch etwas aus dem Wasser), Lorbeeren, Nelken, Zwiebeln, Knoblauch und mit dem, was ich an welkem Gemüse im Kühlschrank noch vorfand. Dazu einen Sprutz Limettensaft, damit die Brühe nicht allzufest aufschäumt. Salz und etwas Zucker natürlich.
    Das Haus wird später also anstelle von Kaffeeduft mit einem Hauch von Bouillon in der Nase aufwachen, nicht unbedingt der angenehmste Weckdienst. Was soll’s. Dafür gibt es dann in den folgenden Tagen feinen Risotto, oder Ravioli in brodo und andere Köstlichkeiten, wie zum Beispiel eine reichhaltige Gemüsesuppe mit in Butter und Knoblauch gerösteten Brotbröckli.
 
13. November 2024
Wer hat das nur schon gesagt:
A man said to the universe "Sir, i exist!"
"However," replied the universe, "this does not evoke in me a sense of obligation".
Auf Deutsch: "Hallo ihr Süssen, Ich bin ein Pappbecher und winke euch zu mit dem anderen Ende des Teebeutels."
Und die Süssen antworten: "Und?"
Soweit etwas zu den Grössenverhältnissen...
 
Veit Stauffer tot
Ich kannte Veit Stauffer kaum. Doch sein exotischer Vorname verlieh ihm von vorneherein eine gewisse Prominenz, die meine Wahrnehmung streifte. Ich wusste also, wer er war, woher er kam und welcher Beschäftigung er nachging, aber ich wusste zum Beispiel nicht, dass er mich gekannt hatte. Umso überraschender der herzliche Empfang, den er mir, dem Auswanderer nach Südamerika, vor ein paar Jahren bei einer kurzen Stippvisite in der alten Heimat, in seinem RecRec-Laden bereitete, als ob wir seit langem befreundet gewesen wären. Offenbar nahm er auf Facebook meine Blog-Einträge zur Kenntnis, war so gut informiert über mich, dass ihm nicht einmal entgangen war, dass ich vor langer Zeit Mitbesitzer eines Bordells in Niamey, der Hauptstadt von Niger, war, was ihm missfiel, wie mir ein Freund von mir, der mit Veit in Kontakt stand, glaubhaft versicherte. Ich selbst war in den 70er Jahren einmal Kursbesucher bei Hans-Rudolf Lutz an der Kunstschule F+F und begegnete dort ein paarmal Veits Eltern, welche diese Institution gegründet hatten. Diese Schule lebte damals nach dem Motto, sich freikünstlerisch zu äussern sei wichtiger als das daraus resultierende Kunstwerk.
Bei meinem Besuch von RecRec, Jahrzehnte später, stand die Aufgabe seines Musikalien-Geschäfts unmittelbar bevor. Veit verschleuderte seine CDs deswegen nicht, er pries sie vielmehr als besondere Preziosen an. Ich hingegen besass weder einen Plattenspieler noch einen CD-Player. Kommt hinzu, dass ich die RecRec-Auswahl für eine ziemlich anstrengende Musik hielt, kaum zum genussvollen Anhören. Ja, sie war oft eine Zumutung, die kratzbürstige Alternative zum Gefälligen. Mir schien, bei dieser Musik sei der Wunsch der Vortragenden auf der Bühne, etwas zu Gehör zu bringen, wie auch immer es tönen mochte, wichtiger, als das Bedürfnis, damit beim Publikum zu punkten. War das nicht die Fortsetzung der Kunstschule seiner Eltern? Bei meinen Konzertbesuchen früher in der Roten Fabrik jedenfalls, bei denen Veit und seine Gesinnungsgenossen als Veranstalter auftraten, erfuhr ich mich selbst als Zeuge der Befreiungsschläge der Musiker, die sich allerdings kaum je auf mich übertrugen. Vielleicht fehlten mir die entsprechenden Drogen oder zumindest das Vermögen, mich mit diesem Gedröhns in einen freieren Zustand versetzen zu können. Das Bekenntnis zu dieser Art von alternativem Kunstschaffen barg in seinen besten Zeiten Kultstatus. Entweder gehörte man als „Kenner“ dazu, oder man blieb aussen vor und kam sich dabei doof vor, das Tor zum Glückserlebnis nicht zu finden. 
Veit, und das rechne ich ihm hoch an, liess mich dies jedoch nicht spüren. Seine Herzlichkeit bei meinem Besuch an der Rotwandstrasse war ansteckend, und ich meinte nachher, einen neuen Freund gefunden zu haben. Von da an las ich seine facebook-Einträge aufmerksamer, nahm seine Bedenken, Begeisterungen und Erinnerungen mit Interesse zur Kenntnis, sein Ringen um seine Krankheit, die kurzzeitige Besserung auch, und jetzt berührt es mich sehr, von seinem Tod erfahren zu müssen. Welche Musik ist wohl bei seinem Abschiedsfest, das er sich für kommenden Sommer gewünscht hat, angebracht? Versöhnliche, harmonische Melodien, oder doch eher ein letztes, schräges und lautes Aufbäumen gegen Leichtgängiges?
 
Kurz vor Weihnachten 2024

In Kolumbien begegnet man oft Lastwagen, die mit Lichtern und Leuchtern so reichhaltig ausgestaltet sind, dass sie wie fahrende Weihnachtsbäume aussehen. Einige dieser Brummis haben sogar unter den Kotflügeln ein Lichtlein brennen, und andere leuchten, vornehmlich in Blau, unter dem Chassis hervor. Dieses Unterflurlicht verleiht den Lastern den Eindruck des Schwebens, das aber mit dem doch ziemlich ungehobelten Diesel-Lärm in gewissem Widerspruch steht.

Diese Lichtorgie kam mir spontan in den Sinn, als ich kürzlich auf einem der Klos des Seratta im Shopping Center Atlantis mein Geschäft verrichten wollte. Da leuchtet es in der WC-Schüssel tatsächlich so, dass man den liegengelassenen Haufen bei Lichte bestaunen kann. Fehlt nur noch, dass ich Leute einlade, die ausgeleuchtete Hinterlassenschaft zu bestaunen. Ich fragte mich bei dieser Gelegenheit auch, wie viele KolumbianerInnen noch ein Foto davon machen, wie sie eigentlich auch jede Speise abfotografieren und ins Netz stellen. Und so wären wir dann bald bei den Kleinkindern, die wir ausgiebig belobigen, wenn sie im Zuge der Windelentwöhnung brav in den Topf geschissen haben.

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©Nikolaus Wyss
 


 

 





Montag, 16. Dezember 2024

Brahms am Tota-See

Kolumbien zählt 16 Feiertage im Jahr. Die meisten davon werden jeweils ohne Rücksicht auf historische Daten auf einen Montag gelegt. Daraus ergeben sich verlängerte Wochenenden. Richtigen Urlaub hingegen kennt man hier kaum, höchstens um den Dreikönigstag herum, reyes genannt, oder in der semana santa, der Osterwoche. Dann kosten die Transporte und die Flüge oftmals das Dreifache.

Für ein verlängertes Wochenende im Juni 1971 entschlossen wir uns zu einem Ausflug an den Tota-See, dem grössten Binnengewässer Kolumbiens. Es liegt im Departement Boyacá auf 3015 Metern Höhe über Meer und erstreckt sich über 55 km2. Damals brauchten wir für die Fahrt von der Hauptstadt Bogotá aus etwa fünf Stunden. Seit es Autobahnen gibt, dürfte die Fahrt etwas weniger lang dauern. Doch was sind schon Autobahnen hier? Man bezahlt zwar eine Maut, die für lokale Verhältnisse recht teuer ist, doch die Fahrbahnen werden von Radfahrern ebenso genutzt wie von Fussgängern und Fuhrwerken aller Art. Also.

Wir waren zu sechst. Werner am Steuer seiner Mary, wie er den geländegängigen Toyota nannte, Marianne und ich daneben, und auf dem Rücksitz Rita, Fanny und Perucho. Wir fuhren an einem späteren Freitagnachmittag los und kamen erst in tiefer Nacht an einem unbeleuchteten Landungssteg an. Der ortskundige Perucho wies uns im Scheinwerferlicht der Mary den Weg. Dort luden wir unser Gepäck in ein Motorboot um und tuckerten so über den See. Es war stockdunkel und bitterkalt. Auf der anderen Seite suchten wir im Schein einer Taschenlampe die richtige Anlegestelle, um von dort aus zum Ferienhaus von Perucho zu gelangen. Perucho schien überall in Kolumbien zu Hause zu sein. Natürlich hatte er eine Wohnung in Bogotá, dann aber auch Kaffeefarmen und Ländereien hier und dort. Ob sie alle ihm gehörten, wussten wir nicht, doch er hatte überall Zugang dazu und plante mit uns schon die nächsten Reisen. Eine davon sollte uns in den damals weitgehend unberührten Vichada führen, einem Urwald-Departement ganz im Osten Kolumbiens. Mit der indigenen Bevölkerung ein Paradies für Ethnologen, mit der Fauna eines für Zoologen und mit der Flora eines für Biologen.   

Fünf Gehminuten von der Anlegestelle entfernt erreichten wir das komfortable Chalet, eiskalt zwar, doch mit diversen Cheminées ausgestattet, die wir gleich mit gut gelagertem, trockenem Brennholz anfachten. Das knisternde Feuer schenkte uns schon in Kürze etwas Wärme. Bei dieser aufkeimenden Wohligkeit mochten wir nicht gleich in die kalten Betten der unbeheizten Schlafzimmer steigen. Stattdessen kochten wir uns mit Brühwürfeln eine Suppe, assen dazu etwas vom mitgebrachten Käse und Brot und tranken dazu einen warmen, gezuckerten Tee, den wir mit einem kräftigen Schluck Rum anreicherten.

Die Schallplattensammlung in Peruchos Haus zeugte von erlesenem Geschmack. Sie umfasste fast die ganze Klassik. Etwas viel Mozart zwar, doch auch Bach, Beethoven, Schubert und Mendelssohn. Auch ein paar Verdi-Opern waren darunter, selbst Puccini fehlte nicht. Daneben lagen zum Abspielen auch Volksweisen bereit, Cumbias, Bambucos, Merengues, Champetas, und, damals ganz neu, Salsas. Und natürlich rauchten wir Marijuana, bis uns die Kehlen brannten und uns die Augen zuzufallen drohten.

Irgendwann stellte sich bei mir ein bemerkenswertes musikalisches Erlebnis ein, das meinen Aufenthalt am Tota-See prägen sollte. Es war der erste Satz (und alle weiteren Sätze desselben Werkes) von Johannes Brahms‘ 1. Symphonie. Deutlich fielen mir die suchenden, geheimnisvollen Paukenschläge und die sehr zögerliche Melodieentwicklung auf,  die ich vorher in dieser Intensität noch nie wahrgenommen hatte. Sie bereiteten dem weiteren musikalischen Geschehen Boden und Halt, und sie erinnerten mich an die nächtliche Überfahrt des Sees Stunden zuvor: Ungeduld und Sehnsucht, endlich anzukommen, etwas Selbstmitleid, mitgegangen zu sein und jetzt jämmerlich zu frieren, das rhythmische Plätschern der Wellen, wenige Lichter am Horizont, die kaum wahrnehmbaren Bergketten im Hintergrund, bei denen niemand so richtig weiss, was sich dahinter noch verbirgt… - Irgendwie fasste die Musik, durchmengt mit Sehnsucht und Grundtrauer, alles zusammen, was uns auf der Hinfahrt widerfuhr. Und die kontrapunktische Basslinie hielt das Widerspiel der Gefühle zusammen und deutete eine Ewigkeit an, die mich zwang, mich mit allem zu versöhnen, was mich stören wollte. Und immer, wenn man etwas high ist, verschiebt sich auch die Zeitachse. Sekunden dauern eine kleine Ewigkeit, und der Mund trocknet aus. Durst, Durst und ein Kratzen in der Kehle rundeten das elementare Erlebnis ab. – Sehr bewegt stieg ich Stunden später (oder waren es doch nur ein paar Minuten?) ins kalte Bett, und es war mir irgendwie nicht so kalt wie befürchtet. Brahms als eine Art Wärmeflasche, dachte ich.

Womit ich am darauffolgenden Morgen nicht rechnete, war eine Diskussion über die Musik-Auswahl vom Vorabend. Einige fanden sie völlig abwegig. Brahms in diesen kolumbianischen Höhen zu zelebrieren sei Kolonialismus. Sie plädierten für einheimische Volksmusik, zu welcher man auch tanzen könne. Andere hingegen schlugen passendere Komponisten oder Kompositionen der Klassik vor. Genannt wurden unter anderen Richard Wagner und Richard Strauss. Ich aber wollte in diesem Moment nur den Zauber der vergangenen Nacht wiederholen. Vielleicht mit der zweiten oder dritten oder sogar vierten Symphonie von Brahms, der reifsten von allen, fand aber für meinen Vorschlag kein Musikgehör.

Etwas, das bei anderen auf Ablehnung stösst, bleibt bei einem selbst oft besonders intensiv hängen. Ich entwickelte schon fast eine Obsession, dass Brahms und der Tota-See irgendwie zusammengehören müssten. Was ich etwas vernachlässigte, war der Kitt des Marijuanarausches vom Vorabend, der die beiden Dinge zusammenzubringen vermochte. Dessen wurde ich erst gewahr, als ich Jahre später in der Zürcher Tonhalle einer Brahmssymphonie lauschte. Die Musik versetzte mich in einen Trip - dabei war ich doch stocknüchtern. Doch wie beim Hund der Speichel zu rinnen beginnt, wenn er einen Knochen vor sich sieht, begannen sich bei mir in Anbetracht von Brahms’scher Musik meine Gehirnwindungen zu drehen, als ob ich vorher eins geraucht hätte. Ich sah mich plötzlich an den Tota-See von damals versetzt, und ich sah, als ob es gestern gewesen wäre, wie wir am nächsten Tag mit dem Motorboot zur Fischereiaufsicht fuhren, um fürs Angeln eine Tageslizenz zu lösten. Die Idee war, dass wir zum mitgebrachten Reis ein paar Forellen fangen und über dem Feuer braten würden. Der Fisch musste erdauert werden. Die Sonne wollte nicht scheinen, wir froren wie in der Nacht zuvor, bis sich endlich eine fette Forelle am Angelhaken festbiss und uns in bessere Laune versetzte. Und noch eine, und noch eine. Es sollten die besten Forellen meines Lebens werden, nur noch vergleichbar mit der Forelle im „Bären“ von Utzensdorf, der ich unter dem Titel „Der Bären im Bernbiet“ vor meiner ersten Übersiedlung nach Kolumbien in einem kulinarischen Führer im Magazin des Tages-Anzeigers gehuldigt hatte.

In diesem Herbst, 55 Jahre später, stand ich an einem Punkt, wo ich die Sache mit Brahms am Tota-See überprüfen wollte. Wie verhält sich heute der Zauber von damals? Werde ich high sein? Wird mir der Anblick des Sees in meinem inneren Ohr Brahms‘sche Klänge entlocken? Oder wird eine Entzauberung dieser Obsession für ein abruptes Ende sorgen? Soll ich mich dessen überhaupt aussetzen? Ist es nicht zauberhafter, die Erinnerung bis ans Lebensende zu pflegen? Ohne Realitätstest? Ich tat mich mit einer Entscheidung schwer.

Als ich einem unserer Gäste meine Überlegungen schilderte, fand er die Idee eines neuerlichen Ausflugs dorthin ziemlich cool. Also konkretisierten wir das Vorhaben und fuhren vor ein paar Wochen an einem verlängerten Wochenende los. Auf der Strasse stundenlange Staus, verkürzt durch Brahms-Symphonien auf Spotify. Drei Stunden später als geplant erreichten wir die Provinzstadt Sogamoso. Vielleicht nicht gerade die grösste Zier in diesem Kolumbien. Doch Alejo wohnte dort. Ich lernte ihn vor längerer Zeit einmal in Bogotá kennen. Er sollte unser local guide werden, und in der Folge erfüllte er seine Aufgabe mit grosser Hingabe und zu unserer höchsten Zufriedenheit. Er studierte Hotellerie, und wir waren für ihn so etwas wie ein Praxistest. Er zeigte uns unter anderem das Thermalbad von Iza, wo wir im offenen Bassin bei leichtem Rieselregen schwimmen gingen. Später übernachteten wir auf einer wunderbaren Finca mit grossem Garten. Der Dauerregen konnte uns nichts anhaben, wir waren allzu sehr beschäftigt, wer in welchem Zimmer mit wem schlafen geht. Am darauffolgenden Morgen begleitete uns derselbe Regen während der ganzen Fahrt zum Tota-See hinauf.

Und dann, und dann auf der Krete oben mit Blick auf den vor uns liegenden, grauen, regengetrübten Tota-See, beschienen jetzt von einem fahlen Sonnenstrahl, passierte bei mir etwas Ähnliches wie 1971, nur in umgekehrter Richtung. Statt Brahms‘scher Töne blieb es stumm in meinem inneren Ohr. Keine Musik störte den Anblick dieses überwältigenden Panoramas. Stattdessen eine glücklichmachende, tonlose Entzauberung. Meine Gefährten und ich liessen uns von dieser Landschaft einfach beeindrucken. Was brauchte es da noch Brahms?

Wir fuhren rund um den See, fotografierten uns immer wieder in heiterer Stimmung und kamen zum Schluss, dass sich der Ausflug auf jeden Fall gelohnt hat. Ich schmunzelte innerlich, wusste aber nicht genau, wie ich meine persönliche Neutralisierung von Freund Johannes zu bewerten hatte. Allerdings gibt es schlimmere Zustände als diesen. Es war schon Nacht, als wir wieder Bogotá erreichten.    

vrnl: Alejo, Mike, Esteban und ich am Tota-See

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©Nikolaus Wyss