Das erste
Kinderlied, das ich als Bub auswendig konnte, war auf Schwedisch, hiess „Mors
lilla Olle“ und handelte vom kleinen Buben Olle, der in den Wald ging, um
Beeren zu pflücken. Er fühlte sich aber einsam. Doch plötzlich knackte es im
Gebüsch. „Brummelibrum, vem lufsar där?“ heisst es dann im
Lied.
Brummelibrum, wer kommt denn da? Olle meinte, einem grossen Hund zu begegnen,
und freute sich über das Zusammentreffen. Jetzt hatte er einen Spielkameraden. Olle
liess ihn von seinen Beeren kosten und streichelte das struppige Fell. Als die
Mutter dazustiess, schrie sie laut auf und verscheuchte das Tier. Es war ein
Bär. Olle war enttäuscht und bat die Mutter vergeblich, den Spielkameraden
zurückzuholen.
Meine Mutter hat
das Lied in Schweden vorsorglich auswendig gelernt, damit sie dann gut gerüstet ist, um dem eigenen Kind etwas vorsingen zu können. Trotz etlicher
Ehejahre gab es jedoch keinen Nachwuchs. So nahm sie das Lied mit auf ihren Rückweg
in die Schweiz und bewahrte es für mich auf, Jahre später gezeugt von einem
früheren IKRK-Delegierten und damaligen
Bezirksammann von Flawil mit weiterreichenden politischen Ambitionen, die ihn später als Nationalrat immerhin bis
ins Bundeshaus trugen.
Schweden war also
von kleinauf präsent in unserem Haushalt. Mindestens zweimal im Jahr zum
Beispiel kamen Kerstin und Kecke mit ihrem schnittigen GM-Roadster vorbei.
Kerstin betrieb damals in Stockholm ein Geigengeschäft und ging regelmässig nach
Italien auf Einkaufstour. Kecke begleitete sie als Chauffeur, Geiger und
(vermutlich) Geliebter. Er spielte im Kungliga Filharmoniska Orkestern, in der
Königlichen Philharmonie Stockholm also. Er probierte die ins Auge gefassten
Instrumente aus und überprüfte sie auf ihre Qualität. Ich frage mich noch
heute, wie die vielen Geigen in diesem engen Sportwagen von Italien nach
Stockholm Platz gefunden haben. Kecke sprach nur Schwedisch und erzählte einen Witz
nach dem andern, was für mich etwas anstrengend war, weil ich nichts verstand. Mutter
übersetzte mir zuweilen eine von Keckes Geschichten. In der Philharmonie zum
Beispiel soll einmal ein vom Orchester vielgehasster Dirigent auf dem Podium
gestanden haben. Einer, der die Musiker anschrie. Da soll das Orchester auf ein
geheimes Zeichen hin das Konzert begonnen haben noch bevor der Dirigent den
Taktstock hob. Das gefiel mir als Zeichen adäquaten Protests.
Es kam oft vor,
dass Mutter mit schwedischen Freundinnen telefonierte. Am meisten mit Anita.
Sie war in Stockholm mit einem Staatsanwalt verheiratet und verfügte über
hellseherische Fähigkeiten. Sie konnte zum Beispiel bei der Suche nach einem
Parkplatz mit Sicherheit voraussagen, dass im 5. Stock eines Parkhauses auf
Feld 523 noch ein Parkplatz freistand. Ihr Mann fuhr ohne zu zögern zum
vorausgesagten Platz hoch, der, siehe da, frei war. Anita als Vertrauensperson
blieb meiner Mutter ein Leben lang verbunden und erwies sich besonders in jenen
Zeiten als hilfreich, als ich, schon lange weggezogen, meiner Mutter nicht mehr
über alles und jedes Detail aus meinem eigenen Leben berichterstatten wollte.
So befriedigte Mutter ihre Neugier, indem sie ab und zu Anita anrief, um sich
nach meinem Befinden zu erkundigen. Triumphierend erstattete Mutter mir danach
jeweils Bericht. Am Telefon teilte sie mir mit, sie sei so froh, dass es mir
gut gehe. Anita hätte es ihr versichert.
Im Sommer 1966
kam es zu einer Schwedenreise. In einem blauen Morris 1800, den meine Mutter bald darauf schon wieder
verkaufte, weil sie entdeckt hatte, dass ihr Vorgesetzter beim Tages-Anzeiger,
Chefredaktor Walter Stutzer, dasselbe Modell fuhr, was sie als untergebene
Redaktorin nicht statthaft fand, in einem blauen Morris also fuhren damals
Mutter, mein Vetter Tobias und ich durch Deutschland und Dänemark, um ihre
Freunde in Schweden zu besuchen. Allzu viel ist mir von dieser Reise leider
nicht in Erinnerung geblieben. Die vielen Mücken und der penetrante Regen auf Öland
schon, und das wundersame Barocktheater mit seinen fein gemalten Laubsägekulissen
auf Schloss Trottningholm auch. Tobias vermag sich heute noch an Besuche bei
verschiedenen Familien erinnern, bei den Täslers zum Beispiel in Örebro,
deutschen Kommunisten, welche vor Hitler nach Moskau fliehen mussten und später
vor Stalin nach Schweden. Werner Taesler war Architekt und konnte sich mit
Aquarellmalereien und Bauaufträgen leidlich über Wasser halten. Seine Frau
Irene, so erzählte es mir meine Mutter, nahm sich im schwedischen Exil vieler
Flüchtlinge an, was sie aber zuweilen auch überforderte. Von ihr soll der
Spruch stammen: „Der Kamm liegt bei der Butter“, was jeweils als untrügliches
Zeichen einer masslosen Erschöpfung gedeutet werden durfte.
Am hellsten in
Erinnerung geblieben ist mir der Besuch bei Chefkoch Werner Vögeli im Stockholms Operakällaren, damals eines der angesagtesten
Feinschmeckerlokale der Stadt, ausgestattet mit Michelin-Sternen, von Tradition
und Reputation her vielleicht am ehesten vergleichbar mit der Zürcher
Kronenhalle. Zur Finanzierung unserer Reise nach Schweden musste Mutter ein
paar Reportagen heimbringen. Da erwies es sich als Glücksfall, dass der
Schweizer Vögeli im Opernkeller für Könige, Opernstars und Nobelpreisträger den
Kochlöffel schwang. Das vermochte eine Schweizer Leserschaft zu interessieren. Dort
erfuhr ich auch, dass der Chefkoch zum Ausprobieren neuer Rezepte neben seinem
Büro über eine Probeküche verfügte. Das machte mir Eindruck. Ich glaube, wir
konnten nach dem Interview Dank preislichem Entgegenkommen von Herrn Vögeli und
auf Spesen des Tages-Anzeigers auch ein mehrgängiges Menü kosten. Was auf den
Tisch kam, ist mir jedoch entfallen. Fische und Meerfrüchte vermutlich. Bemerkenswert
aber ist, dass ich seither diesen Opernkeller von Stockholm als ultimativen
kulinarischen und kulturellen Höhepunkt gespeichert habe, der mir jedes Mal in
den Sinn kommt, wenn ich an Stockholm denke. Später wollte ich noch zweimal dort
einkehren, beide Male war er aber entweder wegen Renovationsarbeiten oder wegen
eines Wirtesonntags geschlossen.
Mutter wurde auf dieser
Reise von einer gewissen Melancholie begleitet. Erinnerungen an ihr eigenes,
gescheitertes Eheleben kamen ihr wohl hoch, eine gewisse Trauer auch. Sie
wollte uns Buben damit zwar nicht belasten, doch ganz verstecken konnte sie
ihre Gefühle nicht. Waren es Reue und Versagen? Oder war es eher eine
verhalten-stolze Nachdenklichkeit, verbunden mit dem Wunsch, ihren alten
Freunden zu zeigen, dass sie es trotz allem beruflich zu etwas gebracht und einen unehelich geborenen Sohn hochgezogen hat, der zwar unerträglich
tief noch in der Pupertät steckte, aber ansehnlich und grossgewachsen war? –
Ich weiss es nicht.
Wir statteten
auch dem kurz vorher aus dem Meer gehobenen Kriegsschiff Vasa einen Besuch ab,
das im 17. Jahrhundert auf seiner Jungfernfahrt vor Schwedens Küste gesunken war.
Es wurde täglich abgespritzt, damit das brüchige Holz nicht austrocknete. Und in
Stockholm sah ich zum ersten Mal eine überlebensgrosse Skulpur von Nicki de SaintPhalle: eine liegende Nana, die man durch eine torweit geöffnete Vagina betreten konnte. – Schweden blieb mir als modernes, zukunftsgerichtetes und
menschenrespektierendes Land in Erinnerung, wo noch Linksverkehr herrschte, wo rund
um Stockholm Satellitenstädte hochgezogen wurden, die ich damals für
interessant hielt, und wo alle Menschen farbige, holzige Wochenendhäuschen
besassen, die entweder in den mückengeplagten Wäldern oder an kalten Gewässern
standen oder dann auf kahlgewaschenen Schären klebten und fröhlich-munteres
Leben evozierten. Eine echte Alternative zur Schweiz.
Wieder zuhause,
wechselte Mutter bald schon vom Morris zu einem Saab 99, schwedisch, wie Volvo auch, von Chefredaktor Stutzer noch nicht
vereinnahmt, mit allen modernen charakteristischen Sicherheitsmerkmalen
ausgestattet (Knautschzonen zum Beispiel oder geknickte Lenkstangen), die in
englischen Automobilen von damals nicht durchgängig vorhanden waren oder nur
gegen Aufpreis zur Verfügung standen. Mit dem Saab chauffierte ich Mutter in
späteren Jahren nach Italien und nach Frankreich, manchmal lieh sie ihn mir für
eigene Fahrten aus. Man fühlte sich im Auto unangefochten sicher, ja
unsterblich. Schwedische Qualitätsarbeit halt, aber auch das wenige, was mich
im täglichen Leben, neben der Musik der ABBA natürlich, noch an Schweden erinnerte, und ausser IKEA in Spreitenbach natürlich, die Möbelfirma, die in der Schweiz als erste ihre Kundschaft geduzt, als Appetizer für den ewiglangen Rundgang durch die Verkaufsebenen Köttbullar (Fleischklösschen) angeboten und geniale Büchergestelle verkauft hat, und ausser dann, wenn im 1. Stock des Zürcher Bahnhofbuffets einmal im Jahr mit einem Smörgåsbord schwedische Wochen gefeiert wurden. Dazu
lud ich jeweils meine Mutter auf eigene Rechnung ein.
Was nicht so passte in mein sanftes Schwedenbild, war die lange Zeit nicht aufgeklärte Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme vom 28. Februar 1986. Wie kommt es, fragte ich mich damals, dass in einem sozialdemokratischen Land, das so viel für seine Bürger tut, dafür aber auch krass Steuern einzieht, dass dort ein konservativer Ministerpräsident, der sich für Abrüstung und Frieden und für die Dritte Welt einsetzt, so stark die Wut eines Bürgers auf sich zu ziehen vermochte, um mit seinem Leben büssen zu müssen?
Ach ja, und jetzt taucht vor meinem geistigen Auge noch der alte Schwede Carl-Axel Englund auf, genannt Charlie, ein unbekümmerter Wikinger, ein journalistisches Schlachtross, das immer nur Lösungen sah und nie Probleme, was zuweilen auch anstrengend war. Wieso hat er überhaupt in der Schweiz angeheuert? - Ich weiss es nicht. Es gibt jedenfalls wohl kaum einen Journalisten, der im Laufe seiner Karriere derart steile Auf- und Abstiege verzeichnen kann wie er. In seinem Palmarès figurieren Blick und NZZ ebenso wie Lokalblätter, zum Beispiel die Zuger Presse oder die Oerliker Vorstadt. Jetzt sei er, 65jährig, beim Tages-Anzeiger zuständig fürs Sihltal, heisst es im Gewerbe. Ich war einmal ein Kollege von ihm beim Züri Leu, einer Gratiszeitung, die damals von Jürg Ramspeck geleitet wurde. Mittags spielten wir immer irgendwelche Strategiebrettspiele.
Wieso diese
Schwedensplitter? – Anlässlich eines Telefonats mit meinem Freund Hans-Martin
in der Schweiz vernahm ich, dass er beabsichtige, in diesem Jahr Schweden zu
besuchen. Ich unterstützte sein Vorhaben und kam ins Erzählen, was ich
alles von Schweden noch weiss. Mehr beschäftigte ihn aber der Umstand, dass
eine Reise in den Norden auf dem Landweg dreimal teurer ist und sieben Mal
länger dauert als mit dem Flugzeug. Dabei hatte er sich doch geschworen, nie
mehr zu fliegen. Dieser Schwur ist auch der Grund, weshalb er mich in
Kolumbien nie besuchen kam, was ich respektiere. Jetzt stellt ihn
Schweden aber auf eine harte Probe.
1995 begleitete
ich Mutter noch einmal nach Schweden. Sie wollte mich nach dem Tod meines Partners Chai mit dieser kleinen Reise aufmuntern.
Natürlich machten wir auch Halt bei Anita. Sie kannte selbstverständlich meine
Geschichte mit Chai. Während des Essens schreckte sie plötzlich auf. Sie meinte
dort oben in der Ecke des Esszimmers Chai zu erkennen (als Fliege?) und zu
wissen, dass es ihm jetzt gut gehe. Dann wendeten wir uns wieder dem
Schwedenbraten zu. Ich bedankte mich für ihren Blick über die Todesgrenze hinaus. Später am selben Tag
begleitete ich Mutter zu einem Treffen mit Madeleine Gustafsson, der in Scheidung
begriffenen Ehefrau des Schriftstellers Lars Gustafsson, selbst Autorin und Übersetzerin.
Wir trafen sie in einer grossen, gut beheizten Markthalle. Die beiden Frauen sprachen miteinander Schwedisch,
und ich hatte genug Zeit zu beobachten, wie sich die beiden auf Anhieb gut verstanden,
ohne sich vorher persönlich gekannt zu haben. Es herrschte eine
frauensolidarische Atmosphäre, beide erfolgreich mit Literatur vertraut und diese praktizierend, beide
mit dem Schicksal untreuer Ehemänner behaftet. Das schaffte eine Stimmung, die
mich total aussen vor hielt und mich gleichzeitig stolz machte auf die beiden
Frauen, die unbeirrt und selbstbewusst ihre eigenen Wege gegangen sind.
Die letzten
Schwedensplitter sind schnell erzählt. In Göteborg organisierte ich als
Board-Member und Delegierter im Auftrag der European League of Institutes oft the Arts
ELIA und in Zusammenarbeit mit der Universität Göteborg 2008 einen grossen
Kongress für Verantwortliche von Europäischen Kunsthochschulen. Dieser Auftrag führte
mich mehrere Male an die Westküste Schwedens. Die Vorbereitungen des Events
waren interessant, auch wenn niemand von meinem Vorschlag begeistert war, am
Eröffnungsabend „Mors lilla Olle“ zu singen. Stattdessen musste ich im Rahmen
einer PechaKucha-Veranstaltung
in 6 Minuten und 20 Sekunden unsere Luzerner Kunsthochschule präsentieren, was
mir bei der Vorbereitung einiges Kopfzerbrechen bereitete (man hätte doch so viel mehr zu erzählen gehabt). Weder der Keynote-Speech
einer brillanten Persönlichkeit noch alle sonstigen Veranstaltungen sind mir
in Erinnerung geblieben. Noch schlimmer, dieses Göteborg kam mir etwas langweilig
vor. In den freien Minuten wusste ich jeweils nicht so recht, was ich jetzt
dort unternehmen könnte. Auf dem Uni-Campus hingegen hielt ich die Lehrformen,
Methoden und Curricula in den künstlerischen Departementen für wesentlich
interessanter und fortschrittlicher, als was wir damals in Luzern praktizierten,
doch ich fühlte mich nicht eingeladen, diese in Anbetracht unseres eigenen
Personalbestands und unserer kunstbildungsfeindlichen Innerschweizer Politik
(siehe „Nur
schwache Erinnerungen an Luzern“) in
einen Schweizer Kontext zu implementieren. In Göteborg war wesentlich mehr Geld, künstlerisches Selbstverständnis
und Internationalität vorhanden. Alle, sowohl das Lehrpersonal wie auch die Studierenden, beherrschten Englisch, und das Schliesssystem
in den Gebäulichkeiten war schon komplett elektronisiert, während wir in Luzern
immer noch mit klobigen, uneinheitlichen Schlüsseln für jedes einzelne Zimmer zu kämpfen hatten.
Letzter Splitter.
Im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen für Führungskräfte an Fachhochschulen
führte uns einmal eine Reise nach Schweden und Finnland, wo wir
Forschungsstätten, industrielle Betriebe und Universitäten besuchten. Doch am
meisten beeindruckte mich die Überquerung des Bottnischen Meerbusens. Der Steuermann
musste sein Schiff an Tausenden von putzigen Inselchen vorbeischlängeln, und ich hätte mich
nicht gewundert, wenn er irgendwo aufgelaufen wäre. Helsinki übrigens
beeindruckte mich atmosphärisch wesentlich mehr als Stockholm, so dass es mich schon fast
reute, Finnland nicht schon früher meine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben: es kam mir zwar nüchterner vor, doch gleichzeitig weniger sorgenfaltig als das verwöhnte Schweden. Als Mitbringsel überreichte der Leiter unserer Bildungsgruppe, Hans-Kaspar von
Matt, den Gastgebern jeweils eine grosse Toblerone-Schokolade, wie man sie auch dort in jedem
Supermarkt erstehen konnte. Ich machte ihn einmal darauf aufmerksam, doch er
meinte, der Zuckergehalt sei in jedem Land anders. Die Schweizer Schoggi-Version
sei im Vergleich dazu gesünder und weniger süss...
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©Nikolaus Wyss