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Von Sandro Fischli hergerichtet im Fotostudio von Pitsch im Hinterhof der Niederdorfstrasse 2 im Frühjahr 1974 |
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The past is never dead. It's not even past (William Faulkner, Requiem for a
Nun)
Im Kopf meines Vaters hatte sich irgendwann die
Überzeugung festgesetzt, ich sei ein Linker. Ende der 60er Jahre lebte er mit
seiner Partnerin Beatrice in Athen und beschimpfte vom Balkon seiner kleinen
Wohnung herab protestierende Studenten unten auf der Strasse, die sich
einerseits gegen die griechische Militärdiktatur und andrerseits gegen
Präsident Nixon und seinen Vietnam-Krieg auflehnten. Mein Vater hingegen besass
Aktien südafrikanischer Goldminen und sah diese angesichts der studentischen
Unruhen für einsturzgefährdet. Von dieser Warte aus war es wohl leicht, mich als Linken
zu identifizieren, auch wenn ich Marx, Engels und Marcuse ungelesen im
Büchergestell verstauben liess. Wenn Vater nur gewusst hätte, wie ich mich
fühlte damals im Sommer 1968 während der Globus-Krawalle auf Zürichs Quai-Brücke. Dort stand ich
sprachlos und staunend, weil ich nicht verstehen wollte, wie Jugendliche in
meinem Alter verdatterte Feuerwehrmänner attackieren können, die sich mit in
der Strafanstalt Regensdorf geflochtenen Schutzschilden aus Weidenruten und schlaffen
Wasserschläuchen zu erwehren versuchten, bis ihr Kommandant den Rückzug befahl,
weil sie mit Steinen beworfen und beschimpft wurden, als ob sie ihre Töchter
der Prostitution ausgesetzt und ihren Söhnen die Finger abgehackt hätten. Ich
glaube, in der Folge fasste der Stadtrat damals den Beschluss, anstelle der
Feuerwehr von nun an nur noch besser gerüstete Polizisten einzusetzen und einen
gepanzerten Wasserwerfer mehr anzuschaffen.
Besser gerüstet? Beim Hauptbahnhof unten
versuchten zur selben Zeit Polizisten in blossen Hemden und ohne Helm, also völlig ungeschützt, sich den
Randalierern entgegenzustellen. Sie wurden angeleitet vom damaligen
Polizeikommandanten Rudolf Bertschi, der sich vom Balkon des Hotel Du Nord aus mit
einem Megafon Gehör zu verschaffen versuchte. Meine moderat linke Position kam
ziemlich ins Schwanken. Mit solchen Radaubrüdern wollte ich nichts zu tun haben. Die
verwirrten Polizisten taten mir leid, das Globusprovisorium als Jugendzentrum
interessierte mich nicht und war für meine damalige Gesinnung eine Schuhnummer
zu klein. Gleichwohl schämte ich mich gegenüber meinen Schulkameraden, kein
Tränengas und keine Wasserdusche abbekommen zu haben. Das tat meinem Prestige
in diesen Kreisen nicht gut. Ich wurde weder festgenommen noch verhört. Nie.
Ich machte mich jeweils rechtzeitig aus dem Staub. Dieses Fluchtverhalten hatte
schon das Jahr zuvor seine Wirkung gezeitigt, als ich mein damaliges Date, ein
finnisches Au-pair-Mädchen namens Saima, eine lächelnde Sonne mit strohblondem
Haar und dicken Fesseln, zum Rolling Stones-Konzert ins Hallenstadion einlud,
bis unten im Parkett Radau ausbrach und sämtliche Stühle in einer wütenden
Schlacht in Kleinholz verwandelt wurden. Wir verliessen den Ort ohne Blick
zurück, von den Stones kriegten wir wegen des schlechten Sounds eh nichts mit.
Ich kam mir ritterlich vor, eine junge Frau, die in der Schweiz zu Gast war,
vor Ungemach bewahrt zu haben.
Studentenführer Rudi Dutschke machte mir zu lange Sätze. Als er angeschossen wurde, tat es mir leid, so schlecht über ihn gedacht zu haben. Studentenführer Daniel
Cohn-Bendit hingegen bewunderte ich wegen seiner Zweisprachigkeit. Doch Paris
war weit weg. Ich fragte mich damals bloss, wo sich denn Präsident Charles de
Gaulles aufhalten könnte, denn er war in den heissesten Phasen der Pariser Proteste
abgetaucht, ungewöhnlich für einen kriegsgeübten General.
Mein Lateinamerika-Aufenthalt von 1970 bis 1972
gab meiner linken Gesinnung allerdings Schub. Ich wurde Zeuge von so viel
Elend, von so viel Ignoranz der Politik gegenüber den Bedürfnissen der breiten
Bevölkerung, von so viel Ungerechtigkeit, von so viel partikulärem
Besitzdenken, von so viel Grausamkeit, dieses mit allen Mitteln zu verteidigen…
– Ich glaube, ich schrieb meinem Vater damals einige geharnischte Briefe, in
welchen ich kundtat, was ich von seinen südafrikanischen Goldaktien, was ich
vom Schah von Persien und vom Vietnamkrieg hielt, und wieso nur eine
gesellschaftliche Umwälzung, eine Revolution, die Situation verbessern könnte. Mit
einiger Sympathie verfolgte ich damals die Aktivitäten der Guerilleros in
Kolumbien, las alles über Camilo Torres, dem katholischen Priester, der sich der ELN-Guerilla
angeschlossen hatte und 1967 in einem Gefecht im Departament Santander
heldenhaft starb. Ich liess auch einen NZZ-Redaktor abblitzen, der mich dafür vorsah, ab und zu
aus Lateinamerika zu berichten. An den freien Sonntagen stieg ich zusammen mit
Gesinnungsgenossen ins Armenviertel Pardio Rubio hinauf und half mit, das Loch
für eine Zisterne zu graben.
Unter Hinterlassung eines Che Guevara-Posters kehrte
ich 1972 jedoch ziemlich geknickt, desillusioniert und kleinmütig in die
Schweiz zurück. Von Depressionen gepeinigt, überzeugt, für diese Welt nicht
lebenstüchtig genug zu sein. Bereit, einen Psychologen aufzusuchen. Froh, in einer Bar arbeiten zu können, wo klare Verhältnisse herrschten:
ich stelle dir ein Bier auf den Tresen, und du bezahlst mir, was es kostet. – In
dieser Verfassung traf ich einmal meinen Vater im Restaurant des Hotels
Gotthard an Zürichs Bahnhofstrasse. Gleich zu Beginn überreichte ich ihm als kostbares
Mitbringsel eine kleine Indio-Skulptur aus Sandstein, die ich mir in Kolumbien
für ihn erstanden hatte. Er aber, der meinte, immer noch den Revoluzzer mit den
bösen Briefen aus Lateinamerika vor sich zu haben, wies das Geschenk wutentbrannt
von sich, worauf ich ihn am Tisch sitzen liess und in meiner eigenen Bedrängnis das Lokal ohne Abschied verliess.
Die
Zeit, in welcher politische Bekenntnisse wieder in den Hintergrund traten,
hatte gleich nach meiner Rückkehr nach Europa begonnen. Mich beschäftigten
vielmehr meine Sexualität, meine Einsamkeit, meine Ziellosigkeit, mich
beschäftigte meine einvernehmliche Art, die ich offenbar ausstrahlte, die aber
überhaupt nichts mit meinem inneren Chaos gemein hatte. Nicht gerade hilfreich
war auch mein Job als Co-Therapeut in einer kinderpsychologischen Praxis in
Hausen am Albis, denn dort geschahen Prozesse, denen ich nicht traute, und die
ich schon gar nicht verstand. Wieso sollte beim ausgiebigen Sandkastenspiel mit einem
Bettnässer dieser plötzlich aufhören, ins Bett zu pinkeln? Und beim Ballspiel
mit zwei Stotterern hielt ich nicht zurück. Wir hüpften herum und wurden dabei
recht lärmig, so dass meine Chefin mir zurief: «Be tender». Doch ich verstand
ihre Worte nicht und tobte weiter mit den beiden. Ein paar Wochen später aber wurden
diese Kinder als geheilt entlassen. Zusammen mit dem trocken gewordenen
Bettnässer. Das Leben war mir ein Rätsel, und ich mir selbst noch mehr.
Mit grossem Befremden lese ich meine
Tagebuch-Eintragungen aus jener Zeit. Sie sind eine Aneinanderreihung von
unerfüllten Sehnsüchten und Klagen. Ich verliebte mich stets in junge,
heterosexuelle Männer, die sich im Gegenzug darin üben konnten, mir gegenüber
tolerant zu sein, ohne sich dabei etwas vergeben zu müssen. Ich glaube, einige
wären gerne wirklich gute Freunde von mir geworden, sahen aber in einer
körperlichen Annäherung keinen Mehrwert. Das machte mich unglücklich, und in
meiner Ohnmacht und Frustration verstiess ich sie alle.
Ich erinnere mich zum Beispiel gut an den
bildhübschen Sandro, den ich bei einer Party im schmalen Fotostudio von Pitsch
an der Niederdorfstrasse 2 kennenlernte. Er spielte mit seiner Androgynität und
anerbot sich, mich zu schminken. Dieses Setting erlaubte es, einander ganz nah
und auf eine spezifische Art intim zu sein, allerdings nicht mit dem Ziel, sich
zu vereinen, sondern eine Verwandlung zu vollziehen. Er schminkte mich zu
einem Vamp (siehe Bild), der Sandro vielleicht erlaubt hätte, mich attraktiv zu
finden. Stattdessen bekam ich zum Schluss eine Katze in den Arm gedrückt, mit
der ich mich dann vom schwarz gekleideten Pitsch, dessen Spezialität es war,
Porträts von Prostituierten zu erstellen, abgelichtet wurde. Sandro war es
zufrieden und ich ein weiteres Mal frustriert.
Etwas anders verhielt es sich mit dem hübschen
Kenny und seinen unwiderstehlichen Augen. Wir lernten uns beim Tanzen im Castel
Pub, dem vormaligen, geschichtsträchtigen Cabaret Voltaire, kennen. Wir
amüsierten uns köstlich, wenn die Schallplattennadel bei harten Rhythmen immer
wieder einmal aus den Rillen sprang, weil wir es auf dem Dance Floor allzu wild
trieben. Der Discjockey mit seinem Equipment befand sich nämlich über uns auf
einer Art Balkon, der sich aber auf der nicht ganz erschütterungsfreien Tanzfläche
abstützte und das Gestampfe und Gehüpfe von uns 30 bis 50 Tänzerinnen und
Tänzern ungedämpft auf den Plattenspieler übertrug.
Von da weg kreuzten sich für eine geraume Zeit Kennys
und meine Wege, und ich machte dafür auch Umwege in der Hoffnung, ihn irgendwo
im Bermuda-Dreieck zwischen der Brasserie an der Rämistrasse, im Oberdörfli,
oder dann in der Fantasio-Bar anzutreffen. Seine Eloquenz begeisterte mich,
seine gesellschaftlichen Analysen waren faszinierend. Er interessierte sich für
Wissenschaftstheorie, hatte allerdings eine Freundin, die ihm Sorgen bereitete.
Sie nahm sich für sein Dafürhalten zu viel heraus, was ihn eifersüchtig machte.
Dieses Gefühl stand aber im Widerspruch zu seiner linken Gesinnung, die doch
für Toleranz und Befreiung stand. In diese Lücke passte ich als
verständnisvoller Zuhörer gut hinein. Ihm gefiel wohl auch, dass ich ihn, im
Gegensatz offenbar zu seiner Freundin, vorbehaltlos anhimmelte. So entstand
eine Art Freundschaft, die zwar wiederum das, worum ich buhlte, ausliess, doch
immerhin eine Art beidseitiger Nutzen abwarf bis zu dem Punkt, wo ich
seiner Eloquenz nicht mehr ganz traute. Ich wollte Kenny mehr als einmal klar
machen, dass die Welt nicht so ist, wie er sie zu sehen meint. Meiner Ansicht
nach sieht sie bei jedem etwas anders aus, je nachdem, wie sie sich jemandem gerade
erschliesst und wo sich dieser Jemand darin gerade befindet. Ich sah die Welt, die
Gesellschaft, alles, was darauf kreucht und fleucht, als sich stets wandelnde,
vorantreibende und immer wieder von neuen Einsichten, Hoffnungen oder
Verzweiflung getränkte Kugel. Kennys Theorie und Rechthaberei hingegen
beschworen ein starres Gefüge, das aufgebrochen und revolutioniert werden musste. Meine Bedenken
und Zweifel etikettierte er als Revisionismus und Trotzkismus. Fürchterliche
Schimpfworte in seinen Kreisen. Nach der Absolvierung der Rekrutenschule
radikalisierte er sich in einem Masse, die ich unerträglich fand. Was meinem
Vater die randalierenden Studenten auf den Strassen Athens, waren für Kenny
bürgerliche Politiker, Offiziere und Kapitalisten, wie mein Vater einer war.
Ich wieder dazwischen, einer, der mit seinen Vorbehalten und der Bevorzugung
eines dritten Weges die revolutionäre Bewegung zu schwächen drohte…
Dann zog ich vom Stadtzentrum an die Peripherie von
Schwamendingen, zu weit weg für regelmässige nächtliche Touren durchs
Bermuda-Dreieck. In Schwamendingen war ich mehr auf mich selbst gestellt.
Spürte Einsamkeit und Sehnsucht noch stärker und kam zu Einsichten, die ich so
beschrieb:
«Ich lebe lauter Ahnungen. Und auch das ahne
ich nur.» - Inspiriert vom leidensfähigen, selbstlosen Philosophen Ludwig Hohl, der die auf Zetteln festgehaltenen
Gedanken in seiner Genfer Kellerbleibe an einer Wäscheleine aufzuhängen pflegte,
kritzelte ich meine Tagebüchlein voll mit Halbausgegorenem. Ich wusste, dass meine
Einsichten kein intellektuelles, schriftstellerisches oder philosophisches Niveau erreichten,
doch ich war gleichzeitig besessen von der Idee, das einzige Mittel gegen mein
Versagen bestünde im Festhalten meines Unvermögens.
„Und wieder einmal darf ich fragen, wer ich bin und was ich mache. Das
mache ich stets in Momenten, wo ich etwas tun sollte. Die Frage nach der
Sinnlosigkeit des Ganzen wächst mit den Anforderungen, die an mich gestellt
werden. Das ist so etwas wie Hammer und Ambos, wo ich mich dazwischen bewege.
Am Bild ist falsch, dass ich nicht weiss, was passiert, wenn der Hammer
zuschlägt. Bis jetzt verhinderte ich
diese Situation durch geschicktes Lavieren zwischen den Fronten.“ – Mit anderen
Worten: ich floh vor dem Schlag des niedersausenden Hammers, indem ich lustlos
versuchte, mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Ich kombinierte
mein Volkskunde-Recherchen an der Universität mit Journalistischem. Da war zum
Beispiel das Thema „Die Behandlung einer Leiche vom Moment ihrer Wahrnehmung
als solche bis zur Beerdigung.“ Ich pilgerte dafür ins Triemlispital und sprach
dort mit dem Personal aus der Pathologie. Ich machte auch Interviews mit
Angestellten des Bestattungsamtes, und nach Abgabe der Arbeit bei meinem
Professor, Arnold Niederer, verfasste ich daraus einen Text, der im Magazin des
Tages-Anzeigers oder in einem anderen gehobenen Blatt publiziert wurde.
Und als Gegenmassnahme zu meiner Schlaflosigkeit verfasste ich einen
Restaurantführer über Wirtschaften, die bereits um fünf Uhr in der Früh
öffneten. Das fand ich spannend, denn dort vermischten sich Partygänger und
Überhöckler mit Arbeitern, die nach einem kräftigen Frühstück in den Stollen
fuhren. In der „Neugasse“ zum Beispiel gab es anstelle von Kaffee und Croissants frühmorgens ein Kotelett nature für Fr. 6.-,
Geschnetzeltes für Fr. 4.50, Läberli zu Fr. 3.60, Speckrösti und Käserösti zu
je Fr. 4.-, Schinken mit Ei für Fr. 4.50, und Rührei Tessiner Art zu Fr. 4.50.
Zutaten wie Rösti, Teigwaren und Salat kosteten zusätzlich je Fr. 2.-. „Verziert mit 2
Kirschen“ steht da noch in meinem Notizbuch, aber ich weiss nicht mehr, worauf
sich diese Beobachtung bezog. Auf den Salat? Auf die Teigwaren? Oder auf die
Rösti?
Bref: Ich dümpelte herum,
wurde aber von anderen gar nicht so wahrgenommen, wie ich mich selbst fühlte –
was mich in weitere Identitätskrisen stürzen liess. Ich lebte meine elende
Verfassung, wirkte gegen aussen aber freundlich und unternahm selbst
erstaunlich wenig dagegen, diesem Zwiespalt zu entrinnen. Ich biss mich an der
Vorstellung fest, dass Warten auf bessere Zeiten das wohl heilsamste Mittel sei, dem
schlechten Selbstgefühl zu entkommen. Besser jedenfalls als sich krampfhaft dagegenzustemmen.
So wartete ich und machte eine ganze Philosophie darum herum. Warten als aktive
Form von Passivität. Beim Warten schwingen immerhin Zuversicht und Hoffnung
mit, dass es einmal anders, besser, klarer, bestimmter und eindeutiger werden wird. Auch der
bevorstehende Tod. Auch der kann zuweilen erlösend sein.
Entgegen kam mir damals ein
Satz, der verschiedenen Autoren zugeschrieben wird, und der mich seinerzeit
ungemein zu trösten vermochte: „Happiness is not the goal.“ Mit dieser Aussage gewannen meine unerfüllten
Gefühle und meine Sehnsucht nach einem Partner langsam eine andere Färbung. Geldverdienen,
Alleinsein und Studium musste ich nicht mehr zwingend als unüberwindbare
Barrieren vor dem erstrebten Glücklichsein ansehen. Sie bargen vielmehr den
Glücksschatz bereits in sich, ohne dass man danach graben musste, sofern man
die Wertung dessen, in welcher Situation man sich gerade befand, als wahrhaftig
und sinnvoll akzeptierte und nicht als Unglück.
Ich glaube heute, dieser Verzicht auf Glückssuche war der Schlüssel zu
meinen Aktivitäten in Schwamendingen. Ich fragte mich damals, wie man in diesem
in jeder Beziehung alltäglichen, sensationslosen und zuweilen sogar randständigen
Quartier der Stadt Zürich überhaupt überleben oder gar glücklich werden konnte? – Je mehr mich diese
Frage unter Zuhilfenahme meines ethnologisch geschulten Auges beschäftigte,
umso weniger beherrschte mich mein Unglücklichsein. Endlich hatte ich mein
Thema. Es hiess Alltag und meine Beobachtungen gestatteten mir, mich in unterschiedlichster Art dazu
zu äussern. Ich heimste sogar den Respekt meines Professors ein, ich wurde
medial bekannt mit meinen Führungen durchs Quartier, und unsere Zeitschrift „Der
Alltag – Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ tat das ihrige dazu, plötzlich ein unverkennbares
Profil zu besitzen. Die Klagen in meinem Tagebüchlein veränderten sich. Nicht
dass ich deswegen glücklicher geworden wäre. Aber ich war weniger unglücklich.
Ich war beschäftigt. Ich hatte gar keine Zeit, mich mit meinen Defiziten und Träumen
zu beschäftigen. Denn was ich mir mit Schwamendingen eingebrockt hatte, verlangte
nach Nachschub, nach neuen Ideen, nach weiteren Aktivitäten. So entstand ein
Buch übers Quartier, herausgegeben vom Quartierverein Schwamendingen. Meine Führungen durch Schwamendingen schärften nicht zuletzt meinen eigenen
Blick aufs Alltägliche, auf die damit verbundenen Qualitäten und Nachteile.
Ich gründete an der Winterthurerstrasse 495 eine Genossenschaftsbuchhandlung
und wurde deren erster Präsident. Ich drehte einen Film über eine
Arbeitersiedlung im Hirzenbachquartier, und schliesslich wurde ich dort
draussen auch noch Theaterproduzent und bekam den Titel eines Botschafters von
Schwamendingen verliehen.
Die Frage, wo ich denn war, wurde so mit der Zeit hinfällig. Jedermann
konnte jetzt sehen, auf welchem Weg ich mich befand. Die Frage jedoch bleibt, wieso zuweilen so
viele Umwege gemacht werden müssen, um festzustellen, wo man war und ist… Gelebtes
Leben dazu ist offenbar unvermeidlich…
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© Nikolaus Wyss
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