Donnerstag, 12. März 2020

DIE VERGANGENHEIT LÄSST GRÜSSEN - Aus der Serie "Bevor mir die Zähne ausfallen"

 
Alles ganz einfach zu erklären: der junge kolumbianische Video-Journalist Jordan Montañezhatte bei mir Schulden, und wir überlegten uns, wie er mir dieses Geld zurückzahlen könnte. Da kamen wir auf die Idee, ein paar Videos zu drehen mit dem Thema: Alter Mann aus der Schweiz lebt Alltag in Bogotá... Den Titel der Serie hatte ich auch rasch: Bevor mir die Zähne ausfallen.Entstanden sind ein paar unkonventionelle Folgen, die in den kommenden Wochen veröffentlicht werden wollen. Hier die erste Folge unter dem Titel Die Vergangenheit lässt grüssen. Viel Vergnügen.
 
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[Weitere Videos von mir sind auf meinem Youtube-Kanal kasimir4ever zu sehen] 
 

Dienstag, 14. Januar 2020

In vielfältiger Weise dankbar: Zum 80. Geburtstag von Rudolf Schilling

Mit Rudolf Schilling (links) im Jahre 2001 anlässlich der Verleihung der Heinrich-Wölfflin-Medaille an die Zeitschrift Hochparterre, wo er eine brilliante Festrede hielt. Damals war ich Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Luzern, sozusagen sein kleinerer Kollege.  

 

In den ersten Jahren hörte und las ich von Ruedi Schilling nur. Ich war zu jener Zeit Buchhändler in Bogotá, und meine Mutter schickte mir mit gebührender Verspätung aus der Heimat ab und zu ein Bündel Tages-Anzeiger-Magazine zu, die ich mit Interesse zu lesen pflegte. Schilling gehörte dort zu den Autoren und Jung-Redakteuren, und meine Mutter hielt grosse Stücke auf ihn. Seine Texte waren gescheit und manchmal auch etwas zu lang. Doch das war Programm. Es gehörte damals zu den Qualitäten dieser renommierten Wochenend-Beilage, Sachen auf den Grund zu gehen. Schillings Spezialitäten waren dabei Städteplanung und Wohnungsbau. Er beobachtete Siedlungen, die in Zürcher Agglomerationen aus dem Boden schossen, und fand dafür die passenden, kritischen Worte.  Als ich Mitte der 80er Jahre, schon längst zurück aus Lateinamerika und bereits ein Ethnologie-Studium hinter mir, meine Führungen durchs alltägliche Niemandsland Schwamendingen anzubieten begann, interessierte sich Schilling für meine touristische Aktion und offerierte mir, zu meinem Vorhaben einen Text zu veröffentlichen. Ich fühlte mich von ihm sofort verstanden, mass er doch meiner Tätigkeit das Gewicht bei, das ich mir selbst nicht zu verleihen vermochte. So begann eine Freundschaft, die zwar wenig Privates teilte, die mich aber immer wieder in seine Nähe führte. Ich glaube, er hielt sich ein Stück weit für mein Wohlergehen verantwortlich, wofür ich ihm bis heute meine uneingeschränkte Dankbarkeit schulde.

    Da waren zum Beispiel die Feierlichkeiten zum 700-Jahr-Jubiläum der schweizerischen Eidgenossenschaft, CH91 genannt. Ich arbeitete damals als Kultur-Redaktor beim Schweizer Fernsehen, war dort aber wegen den personellen Konstellationen zutiefst unglücklich. Schilling, einer der Programm-Zampanos dieser CH91, warb mich ab und machte mich in Zug, wo sich das Headquarter des Vorbereitungskomitees befand, zum Leiter landesweiter Aktivitäten. Doch das Vorhaben scheiterte desaströs. Die Innerschweizer Kantone, welche bei dieser Landesausstellung 1991 Gastgeber hätten spielen sollen, verweigerten sich in verschiedenen Volksabstimmungen dieser Rolle. In der Folge wurden die ganzen Vorbereitungen, mit Ausnahme des Wegs der Schweiz rund um den südlichen Teil des Vierwaldstättersees, dem Urnersee, liquidiert. Wie sehr das Scheitern der CH91-Idee auch mit dem nicht unwesentlichen Beitrag Schillings, nämlich ein gescheites aber doch nur schwer vermittelbares Konzept erarbeitet zu haben, erklärbar ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls fand er bei der Redaktion des Tages-Anzeiger-Magazins erneut Zuflucht und bot mir dort in der Folge auch Asyl, indem ich eine Kulturseite namens Affiche redigieren durfte.

 

    Ich bewunderte in dieser Zeit Schilling, weil er als Teilzeit-Freischaffender es immer wieder verstand, attraktive und wohl auch gut dotierte Aufträge an Land zu ziehen: Gutachten für aufstrebende Gemeinden, Mitgliedschaften bei Jurierungen, Publikationen und vieles mehr. Er erklärte es mir einmal so: „Du darfst nicht warten, bis sie auf dich zukommen. Du musst dir die Aufträge holen.“

 

    Und plötzlich, aus heiterem Himmel, traf uns Ende der 80er Jahre die Mitteilung, Ruedi Schilling sei zum neuen Rektor der Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst gewählt worden. Ich weiss noch, wie mich damals widersprüchliche Gefühle umtrieben. Zum einen war ich stolz, plötzlich einen Hochschul-Rektor zu meinem Freundeskreis zählen zu dürfen, zum anderen stellte ich mir etwas verwirrt die Frage, wie Ruedi das nur schaffen konnte, und ob er das überhaupt kann? – Ich hatte ihn schliesslich vordem noch nie in einer wirklich leitenden Stellung gesehen, und diese Schule bestand, das war stadtbekannt, aus einem Dutzend Königreichen mit entsprechend selbstherrlichen, eingebildeten Fachbereichsleitern. – Ironischerweise sollten es dieselben Fragen sein, die von kritischen Geistern später zu meiner Wahl auch gestellt wurden, als ich 1997 selbst zum Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern ernannt worden bin.

 

    So trafen wir uns also, Ruedi und ich, Jahre später, an der Rektorenkonferenz der Schweizer Kunsthochschulen wieder, zu welcher ich einzig in Begleitung meines Prorektors erschien, während er mit seinem ganzen Zürcher Hofstaat von Prorektoren, Abteilungsleitern, Koordinationsbeauftragten, Vorkursleitern und Sekretärinnen aufkreuzte. Er konnte sich das leisten. Schliesslich war er zu jener Zeit der Präsident dieser chaotischen Gruppierung von Leitungsfunktionären aus der ganzen Schweiz, welche sich den Tentakeln der zugreifenden Fachhochschul-Gesetzgebung entziehen wollten. Es waren niederschmetternde Begegnungen, die von Argwohn zwischen den einzelnen Schulen, von Auseinandersetzungen mit sturen Berner Beamten und von unfähigen Fachhochschulräten und Unternehmensberatern, welche im Sauhaufen zu schlichten trachteten, geprägt waren. Ruedi schien zwar die Schwierigkeiten zu erkennen, welchen er gegenüberstand, mir kam es aber manchmal vor, als ob er durch seine starken Brillengläser das Geschehen aus übergebührlicher Rollendistanz betrachtete und sogar noch imstande war, darüber einen Witz zu reissen. Das war dem konstruktiven Output dieser Konferenz vielleicht nicht gerade zuträglich, denn je schwächer und zerstrittener wir uns gegenüber der reguliersüchtigen Eidgenossenschaft zeigten, umso mehr konnte diese auf unseren Nasen herumtanzen. Studiengänge wurden unter dem magischen Vorwand der kritischen Masse, dass Studiengänge nämlich zu wachsen haben, um der Gefahr des nicht mehr finanzierbaren Orchideenfaches zu entgehen, von Zürich nach Basel und Luzern verschoben, während Zürich als Zückerchen und Trostpflästerchen das Fach Design-Theorie erhielt. Doch kurze Zeit später führte Zürich die zuvor abgezügelten Studiengänge wieder ein, diesmal einfach mit einem englischen Namen versehen. 

 

    Ruedis Pensionierung bewirkte nicht unbedingt mehr Frieden in dieser Rektorenkonferenz. Jetzt führte der stark zur Intrige neigende, spitzzüngige Pierre Keller von der Lausanner Ecal das Szepter. Aber als auch ich später als Präsident dieser Rektoren antreten musste, trat nicht grössere Ruhe ein, was mich mit Ruedis nicht vorhandenem Führungsstil ziemlich versöhnte.

 

    Ich bin dir in den letzten Jahren, lieber Ruedi, nur noch wenige Male begegnet, wenn du zum Beispiel in Begleitung deiner Frau Björg irgendeine Vernissage aufsuchtest. Es tut mir heute leid, lieber Ruedi, dass aus unserer Absicht, uns wieder einmal zu treffen, nie etwas wurde, und es tut mir leid, dass du nach eigenem Bekunden mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hast. Umso schöner war es, als du vor anderthalb Jahren an die Veranstaltung des Theaters am Neumarkt kamst, wo Charles Linsmayer im Rahmen seiner Hottinger Gespräche in meiner Anwesenheit das Wirken meiner Mutter als Schriftstellerin und Journalistin würdigte. Du hattest dich gegen Schluss des Abends zu Wort gemeldet und gesagt, dass meine Mutter in ihrer Zeit als Redaktorin nicht nur eine Fördererin, sondern auch eine grosse Team-Playerin gewesen sei. Das hat mich sehr gerührt, und aus Anlass deines 80. Geburtstags möchte ich jetzt erwidern, dass du dich mir gegenüber ausserordentlich fair, fürsorglich und förderlich verhalten hast, wofür ich dir, ich sagte es schon, meine uneingeschränkte Dankbarkeit schulde.

 

    Ich gratuliere dir herzlich zum Geburtstag.

 

    Dein Nikolaus 

Dienstag, 6. August 2019

Ciao Mäni


Niklaus Wyss 1936-2019 
(Foto: Walter H. Scott, Boston Symphony Orchestra Archives)
Ich war für Niklaus Wyss der Andere, und er war für mich der Mäni. So rief ihn nicht nur seine Mutter, die meine Gotte war, er war auch für alle anderen, seine Geschwister, die ganze Familie und seine Freunde einfach der Mäni. Den Ursprung dieses Namens kenne ich nicht. Bei diesen Wyssens war es einfach üblich, Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn Übernamen zu verleihen. Für meine Gotte und ihre Familie zum Beispiel war ich mein Leben lang der Göiss oder Göissi, weil ich vermutlich als kleiner Bub meinen Namen nicht korrekt aussprechen konnte: statt Chläusi Göissi. Auch Mäni nannte mich zunächst Göiss, bevor er zum Anderen wechselte, obwohl mich dies irgendwie störte, schliesslich unterscheidet sich mein Vorname von dem seinen durch einen wesentlichen Vokal. Ich heisse Nikolaus. Ich bin nicht einfach der andere Niklaus. Ein O Eitelkeit darf ich mir wohl erlauben ...
Mäni war der zweitälteste von vier Söhnen. Sie sind für mich Cousins dritten Grades, wenn wir überhaupt noch von Verwandtschaft sprechen können. Als Jüngster war ich bei ihnen wohlgelitten. Ich erinnere mich gut und gerne an gemeinsame Wintertage in ihrem Ferienhaus in Valbella. Die vier Brüder hatten alle etwas mit Musik am Hut. Der älteste spielte in seiner Jugend die Posaune, der zweitjüngste die Trompete, und der Jüngste hatte das Zeug zum Sänger. Nur bei Mäni erinnere ich mich nicht mehr, was er spielte. Die Geige? Das Klavier? – Während aber die anderen drei schliesslich bürgerliche Berufe ergriffen, entschied sich Mäni für ein Musikstudium und wurde Dirigent.
Anlässlich einer Reise anfangs der 1960er-Jahre besuchten meine Mutter, mein Cousin Tobias und ich Mäni in Rom, wo er bei der Dirigentenlegende Franco Ferrara Kurse belegte. Das Resultat seines Studiums zeigte sich wenig später in der Philharmonic Hall des Lincoln Centers in New York City, wo er am 13. Dezember 1964 aus der Hand von Leonard Bernstein einen Award des Dimitri-Mitropoulos-Wettbewerbs entgegennehmen durfte und eine Assistenzstelle bei Seiji Ozawa bekam, der zu jener Zeit das Toronto Symphony Orchestra leitete.
Für mich hatte es Mäni damit geschafft. Ich bereitete mich auf Fragen vor, ob ich denn mit dem weltberühmten Dirigenten Niklaus Wyss verwandt sei. Den Verwandtschaftsgrad upgradete ich schon mal von drei auf zwei. – Merkwürdig fand ich nur, dass er nach drei vereinbarten Jahren Assistenz in Toronto dem Meisterdirigenten Ozawa nach San Francisco folgte und unter dessen Fittichen Assistent blieb, statt mit der eigenen Karriere durchzustarten. Offensichtlich konnten es die beiden so gut miteinander, dass sie aneinander kleben blieben, auch wenn für Mäni eher die unbeliebten modernen Abende und die Jugendkonzerte abfielen, während sich Ozawa für Mahler, Bruckner und die anderen Giganten symphonischer Kompositionen zuständig erklärte.
Von Kolumbien herkommend, besuchte ich anfangs der 1970er-Jahre Mäni einmal in San Francisco. Er wohnte damals an der Buchanan Street in einer Einliegerwohnung und hatte eine sehr hübsche, rassige Freundin, die mich Jahre später einmal in Zürich besuchte und mich wohl ähnlich verwöhnte, wie sie dies mit dem Anderen zu tun pflegte. Verwandtschaft bindet scheints, und ich liess es gerne mit mir geschehen. Doch von Mäni war in den folgenden Jahren nicht mehr so viel die Rede. Ich gewann den Eindruck, dass er, nach weiteren Jahren in San Francisco, um Engagements kämpfen musste und deshalb sein Tätigkeitsgebiet auch auf Provinzen in China ausweitete, wo er, so die Familiensaga, ein gern gesehener Gastdirigent war. Kam er in die Schweiz und gab selbst ein Konzert, so trommelte meine Gotte jeweils ihr ganzes Umfeld zusammen, um gemeinsam die Tonhalle aufzusuchen. Billette gab es immer genug.
Mit der Zeit aber verlor ich Mäni aus den Augen. Erst viele Jahre später erhielt ich einen Brief von ihm, worin er um ein klärendes Gespräch bat. Es war die Zeit, als ich mit dem Schwamendinger Opernchor Sommertheateraufführungen in der Ziegelhütte produzierte. Mäni sah plötzlich seinen Namen in Gefahr, weil dieser mit meinem eigenen, in seinen Augen unseriösen Tun hätte in Verbindung gebracht werden können. In meiner Antwort schlug ich vor, doch gemeinsam einmal etwas Lustiges auf die Beine zu stellen. Eine Reaktion darauf blieb aus. Was ich machte, war offensichtlich nicht sein Stil. Bei dieser Gelegenheit aber erfuhr ich, dass er seinen Wohnsitz zurück ins Zürcher Elternhaus verlegt hatte, wo seine Mutter allmählich in ein biblisches Alter vorrückte und Handreichungen ihres unverheiratet gebliebenen Sohnes wohl gerne annahm.
Und dann kam das Zittern. Unter vorgehaltener Hand flüsterte man sich in der Verwandtschaft zu, Mäni leide unter Parkinson. Mir war sofort klar, dass dies das endgültige Aus seines musikalischen Wirkens bedeuten würde, wobei ich den Verdacht nicht loswurde, dass dieses Ende eigentlich schon früher eingetroffen war, als er Jahre zuvor an den mütterlichen Herd zurückkehrte.
Ich sah mich aber nicht veranlasst, Trost zu spenden oder sonst wie behilflich zu sein. Dazu befand ich mich von ihm zu weit entfernt, und ich sah in seiner Bedürftigkeit auch die Pflicht seiner Brüder, für ihn einzustehen. Als ich aber einmal meine 100-jährige Gotte, die mittlerweile in ein Alters- und Pflegeheim gewechselt hatte, besuchen ging, sass im selben Raum vornübergebeugt ein alter Mann, und ich musste zweimal hinschauen, um in ihm Mäni zu erkennen. Später an diesem Tag begleitete ich ihn noch zur Tramstation, was eine ganze Weile in Anspruch nahm. Er wohnte jetzt nicht mehr in der elterlichen Wohnung, sondern in einer kleinen Bleibe in Zürich-Schwamendingen. Trotz seiner Hinfälligkeit schien er mir aber voller Hoffnung, schon bald wieder aufrecht gehen zu können. Er wollte mich im Glauben wissen, dass ich seine Zuversicht teile, was mir allerdings schwerfiel.
Als ich nach Schlieren zog und meine Gotte schon eine Weile tot war, fing ich an, Mäni regelmässig zu besuchen. Ich brachte ihm jeweils vom Thai oder vom Chinesen ein paar Speisen und Singha-Bier, und von der nahen Migros Crèmeschnitten und Ofechüechli, und wir verspeisten gemeinsam das Mitgebrachte und versorgten die Resten zum Aufwärmen im Kühlschrank. Den von ihm im ganzen Zimmer verstreuten Reis pflegte ich feinsäuberlich aufzuputzen. Doch unsere Unterhaltung kam nie so richtig in die Gänge und verblieb auf der Ebene der freundlichen, unverbindlichen Konversation. Nie hörte ich ihn klagen über sein Schicksal, und dies schien mir zunehmend das Problem zu sein, das uns trennte.
Ich glaube, die Begegnungen zwischen uns wären um einiges lockerer ausgefallen, wenn ich Mäni hätte fluchen hören, sein Schicksal beklagen, Verzweiflung markierend. Ich hätte so gerne zustimmen mögen, um ihn zu trösten und ihm beizupflichten, wie ungerecht diese Welt doch sei. Doch er hatte Contenance und amerikanische Zuversicht so verinnerlicht, dass sie ihm zum undurchdringbaren Verlies wurden. Seine Absicht, dem Gegenüber trotz sichtbarer, schwerwiegender Einschränkungen keine Sorgen zu bereiten, provozierte nach und nach eine unüberbrückbare Distanz. Wir starben einander weg noch vor der Zeit. Am 27. Juli 2019 war es dann aber doch so weit.
Ciao Mäni.


© Nikolaus Wyss

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Samstag, 3. August 2019

Unerfüllte Begierden

Blick vom Wachturm aus über Forio, Ischia


Neapel ist nicht meine Stadt. Das habe ich neulich herausgefunden. Mein Unbehagen gründete aber nicht auf dem Umstand, dass der Vesuv jederzeit ausbrechen oder die Phlegräischen Felder plötzlich explodieren könnten. Auch nicht auf den Pizzen, die anderswo durchaus besser schmecken als in der Stadt des Originals. Auch über den öffentlichen Verkehr liesse sich klagen, über die laute und ruppige U-Bahn zum Beispiel, aber nein. Es war vielmehr diese den Italienern oft zugesprochene dramatische Überheblichkeit, die so tut, als ob das Erbe dieser Stadt ihr eigenes Verdienst wäre. Ich machte ein ziemlich steiles Gefälle aus zwischen dem Wichtigtun der Bewohnerinnen und Bewohner und dem in meiner Einschätzung dafür nicht gerechtfertigten Zustand der Stadt. Die Neapolitaner ignorieren sowohl die stinkenden Abfallberge als auch die Baufälligkeit ihrer Häuser, und diejenigen, die sie nicht ignorieren, machen ein allzu grosses Aufhebens darum, ohne aber aufs Wegwerfen weiterer Bierbüchsen oder Plastikflaschen zu verzichten oder an den Häusern auch nur die kleinsten Renovationsarbeiten durchzuführen. Rücksichtslos und mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen fahren sie auf ihren Rollern durch die engen Gassen und haben Spass daran, Touristen zu erschrecken. Sie geben uns zu verstehen, dass sie ihr Territorium zwar mit der Mafia teilen müssen, aber nicht mit uns, den Besucherinnen und Besuchern. Sie reklamieren für sich Eigenbedarf, was ich an sich gut fände, wenn sie denn damit auch etwas anzufangen wüssten, indem sie ihre Stadt so herausputzten, wie es dem zur Schau gestellten, überheblichen Stolz angemessen wäre. Doch am Schluss des Tages sind es dann doch wieder wir Touristen, und nur wir, welche die Kassen klingeln lassen und dafür sorgen, dass diese Könige der bröckelnden Fassaden ungeniert weiter ihr lautes und inadäquates Theaterstück namens Napoli aufführen können.
Grund genug, dieser Stirnrunzeln verursachenden Stadt für einen Tag den Rücken zu kehren mit einem Ausflug in die eigene Vergangenheit, zur Insel Ischia nämlich, wo ich im zarten Alter von etwa zehn oder elf Jahren mit meiner Mutter ein paar schöne und herzerwärmende Ferientage verbringen durfte. Auf der Fahrt im Schnellboot nach Forio kam mir in den Sinn, dass es auf dieser Insel wohl das erste Mal passiert war, dass meine Mutter sich und ich mich in denselben jungen Kerl verguckten. Er war Hilfskellner in einem dieser Restaurants entlang der Via Matteo Verde, wo wir am ersten Abend Einkehr hielten. Von diesem Moment an war uns klar, wo wir uns in den folgenden Tagen verköstigen würden. Wir beide hatten nichts anderes mehr im Sinn als zu Giuseppe, Carlo oder Eros, oder wie auch immer der Junge mit seinen wimpernumflorten blauen Augen, seiner feinporigen Haut und seiner anmutigen Gestalt auch heissen mochte, essen zu gehen. Sein einnehmendes Wesen würzte am Mittag die Pizza und am Abend die Antipasta und das gebratene Hühnchen an neapolitanischer Sauce und sättigte uns aufs Beste. Ich erinnere mich gerne an die komplizenhaften Gefühle zwischen meiner Mutter und mir, wenn wir unsere Anwesenheit mit einer Nachspeise und einem Espresso noch etwas zu verlängern wussten und uns schon aufs Wiedersehen einige Stunden später freuten. Plötzlich spielte das Ersparte keine grosse Rolle mehr. Dieser Engel raubte uns den Verstand und die dazugehörigen Liren, auch wenn er selbst davon wohl gar nichts mitbekam. Das Schöne an diesen täglichen, kulinarisch genügend begründeten Begegnungen war das Unausgesprochene. Wir gaben uns mit der Verfeinerung des Augenblicks zufrieden und waren glücklich dabei.
In Erinnerung an jene Zeit bleibt mir auch noch die plötzliche Knallerei am Tag der Dorfheiligen. Zur Mittagsstunde explodierten unzählige Böller über der Basilica di Santa Maria di Loreto, und mich überkam ein fou rire, weil mir ein Feuerwerk, das man am Tag nicht sehen und nur hören kann, so sinnlos vorkam.
Die Hitze bei meinem Besuch, 60 Jahre später, temperierte meine Entdeckerlust. Kaum im Hafen von Forio angekommen, mangelte es mir an Motivation herauszufinden, wo wir damals logierten, und ich war mir auf meinem gemächlichen Spaziergang durch die engen Gassen auch gar nicht mehr so sicher, ob sich ein Augenschein überhaupt lohnen würde. Meine Erinnerungen klammerten sich eh nur an dieses Restaurant im Zentrum mit diesem wundersamen Überirdischen, der jetzt, wenn er überhaupt noch lebt, steinalt wäre und ein oder zwei Dutzend Enkel und Urenkel um sich scharen dürfte.
Stattdessen nahm ich einen alten Wachturm am Rande des Städtchens als Zielpunkt ins Visier in der Hoffnung, von dort aus wenigstens einen Rundblick über Forio zu gewinnen. Beim Anstieg wurde ich aber von einer attraktiven Frau reiferen Alters gestoppt. Sie sass ganz alleine vor diesem Festungsturm, ass ihren gebratenen Fisch und trank dazu ein Glas Weisswein. Sie beschied mir auf gut Italienisch, dass es sich hier um ein Privatgrundstück handle, das von Unbefugten zu betreten verboten sei, worauf ich mich in meinem schlechtesten Italienisch geflissentlich entschuldigte, was die Dame wiederum auf die Idee brachte, es mit mir auf Deutsch zu versuchen. Erfolgreich. Es stellte sich heraus, dass sie aus Karlsruhe stammte, wo ihr verstorbener Mann Bundesrichter gewesen war. Seit seinem Tod übersommerte sie regelmässig auf Ischia in diesem für Feriengäste umgebauten Turm. Nach ein paar Anstandsinformationen meinerseits durfte ich ihre Sommerresidenz dann doch betreten. Keck liess sie mir beim Treppensteigen in den oberen Stock den Vortritt mit der Bemerkung, Herren dürften den Damen doch nicht unter den Rock blicken, was ich als untrügliches Zeichen einer rasanten Erwärmung des Kommunikationsklimas deutete. Irgendwann fragte sie mich, ob es sich lohne, Kolumbien zu besuchen und meinte dabei wohl mich. Ich hatte es also in der Hand, sie dazu zu ermutigen oder ihr davon abzuraten. Im Wissen darum, dass sie schon die ganze Welt bereist hatte, von Bali bis Südafrika, von Norwegen bis Australien, von Rostock bis Neukaledonien, riet ich ihr von einem solchen Vorhaben ab. Ich meinte, in ihren Augen zwar eine gewisse Enttäuschung auszumachen, doch sie betonte gleichzeitig, wie sehr sie doch meinen ehrlichen Rat zu schätzen wisse.
Vor der Rückreise nach Neapel blieb mir dann noch eine Stunde Zeit, die ich am Hafen unten im Schatten einer belanglosen Gelateria mit WLAN verbrachte. Auf einer Dating-App klickte mich Antonio an. Den Fotos nach zu schliessen ein hinreissend gutaussehendes Fotomodell mit Waschbrettbauch und kantigem Gesicht. So etwa könnte dieser Kellner damals auch ausgesehen haben. Der perfekte Schwiegersohn aller Mütter, im Falle Antonios allerdings mit der gut versteckt gehaltenen Eigenschaft, heimlich auf alte Männer zu stehen. Antonio schlug mir ohne Umschweife vor, die Nacht mit ihm zu verbringen, da seine Freundin glücklicherweise gerade auf dem Festland weile. Er verstand nicht, wie ich ein solches Angebot ausschlagen konnte, als ich ihm zu erklären versuchte, dass ich am selben Abend eine Eintrittskarte für die Oper in Neapel hätte. Was für eine Enttäuschung für den erfolgsverwöhnten Träger von Calvin-Klein-Unterwäsche, Gaultier-Hosen und Sakkos von Versace, nachzuschlagen in den einschlägigen Modejournalen.
Immerhin inspirierte mich Antonio zum Gedanken, dass es vielleicht doch die unerfüllten Sehnsüchte und Begierden sind, die den Reiz des Lebens ausmachen. Ich jedenfalls war sehr zufrieden mit diesem Tag. Die Idee versöhnte mich auf der Rückfahrt nach Neapel sogar ein bisschen mit den Neapolitanerinnen und Neapolitanern, deren lächerliches Gehabe als Essenz unerfüllter Sehnsüchte interpretiert werden kann. Die Stadt ist zwar nicht so, wie sie zu sein hätte, aber wir tun wenigstens so, als ob sie es wäre.




Freitag, 26. Juli 2019

Ein strahlender Tag

In der Klinik hatten sie vergessen, diese Kleber zu entfernen. Ich entdeckte sie abends beim Zähneputzen. Souvenirs eines strahlenden Tages.
Gestern strahlte ich. Ich erhellte damit den nächtlichen Himmel Bogotás und brachte Johan zum Weinen. Und das kam so.
In der kleinen Geschichte dieses heiteren Tages spielen zwei Kliniken eine entscheidende Rolle. In der ersten musste ich mir vor kurzem die Nieren untersuchen lassen. Auf nüchternem Magen, mit Kontrastmitteln und Luftanhalten in der Röhre. Gestern dann machte ich mich auf, die Resultate der Untersuchung abzuholen. Auf dem Weg dorthin rief mich M. an. M. , muss man wissen, ist ein Durch-und-durch-Literat, schreibt auf Französisch Gedichte und weiss über jeden Autor, über jede Autorin irgendeinen amüsanten Klatsch. Mit seinem Anruf wollte er seiner Begeisterung über die Lektüre meiner Blogs Ausdruck verleihen. Er erzählte mir auf meinem Gang zur Klinik, was er alles von mir entdeckt und gelesen habe und wie gut ihm meine Geschichten gefallen würden. Wieso ich die Texte nicht in Buchform veröffentliche? - Mit dieser ermunternden Plauderei gereichte mein Spaziergang zum Triumphmarsch, und die Leute um mich herum wunderten sich wohl, wie ich allmählich auf Zweimeterfünfzig heranschwoll, als ob ich gerade den Nobelpreis für was auch immer gewonnen hätte. Oder sonst eine Million Franken. 
Nach M. kamen die Nieren-Resultate. Soweit ich es dem Mediziner-Kauderwelsch entnehmen konnte, lag zu meiner grossen Erleichterung nichts Beunruhigendes vor, worauf ich auf dem Rückweg keinen Anlass sah, von meinen Zweimeterfünfzig herabzusteigen. Zu Hause dann verkündete ich Johan mein Glück, worauf er in Jubel ausbrach und mich herzte wie noch nie zuvor. Auch er veranlasste mich offensichtlich nicht, wieder auf Normalgrösse zu schrumpfen.
Es ging aber gleich weiter. Gleichentags erwartete mich eine andere Klinik, welche auf Herz- und Kreislaufkrankheiten spezialisiert ist. Schon 24 Stunden vorher musste ich mich mit dem Verzicht auf Kaffee, Tee und Coca-Cola darauf vorbereiten. Wieder wurde ich mit einer Nummer versehen und mit einem Kleber am Revers, und ich staunte aufs Neue, wie perfekt hier die Abläufe und die professionelle Handhabung der Patientenanliegen geregelt sind. Klar, ich geniesse in Kolumbien Privilegien, die einem Durchschnitts-Kolumbianer verschlossen bleiben, und ich erlebe in den alltäglichsten Dinge, wie angenehm es ist, das nötige Kleingeld zur Hand zu haben, und dies erst noch zu einem günstigeren Preis als bei einer allgemeinen Krankenkasse in der Schweiz, und günstig im Verhältnis zu meiner doch sehr bescheidenen Pension sowieso. 
Nach der Anmeldung durchlief ich fensterlose Flure, wo an jeder Seitentüre Radioaktivitätswarnzeichen angebracht waren. Dann bat man mich, ein Papier zu unterschreiben, das besagte, dass ich jetzt mit strahlenden Substanzen abgefüllt werde, und dass dabei die Sterberate kleiner als 1:10000 sei. Mir wären eine oder zwei Nullen im Überlebensfall noch lieber gewesen. Die Substanzen in meinen Adern erhitzten meinen Körper, und ich bekam eine Ahnung davon, wie ein Kernkraftwerk funktioniert. Und dann ging es ab in die Röhre. Auch hier: stillhalten. Atmen durfte ich. Immerhin.
Anschliessend beschied man mir, die Bilder seien unbrauchbar, zu grosse Interferenzen seien im Spiel, was in meinem Verständnis nichts anderes hiess, als dass ich eine allzu grosse radioaktive Dosis verabreicht bekommen habe. Man empfahl mir einen Spaziergang und das Trinken von Wasser. Worauf dasselbe Procedere in der Röhre noch einmal vollzogen wurde, diesmal zur Zufriedenheit der Assistentin. Um fünf Uhr kam ich gerade noch rechtzeitig nach Hause, um Vanessa, unsere Putzfrau, und ihre bildhübsche Tochter Vanery zu verabschieden.
Ein voller, strahlender Tag, zu dessen Feier ich Johan ins Rio einlud, unser bevorzugtes Speiselokal um die Ecke. Dort erfuhren wir zwar, dass der peruanische Koch mittlerweile sein eigenes Restaurant einige Strassen weiter oben eröffnet habe, dass aber sein Lehrbub genausogut koche, ganz nach den Rezepturen des weitergezogenen Chefs. So war es denn auch, und ich gestand Johan beim Salmon-Tartar und dem zweiten Gin tonic, wie sehr mich seine Freude über meine guten Nierenresultate gefreut hätten. Da brach er in Tränen aus und sagte, er hätte sich grosse Sorgen um mich gemacht, was wiederum mir die Tränen in die Augen schoss. Als wir vom Rio ins Freie traten, schien mir, als ob es um mich herum heller sei als sonst. Für einen Augenblick wenigstens.
* * * 
P.S. Wie sich heute herausstellt, fielen die Resultate der Herz-Untersuchung ebenfalls zufriedenstellend aus. Bestimmt haben die heftige radioaktive Strahlung, das gestrige Nierenglück und die Zweimeterfünfzig zum guten Resultat beigetragen... 
© Nikolaus Wyss

 

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Dienstag, 23. Juli 2019

Ein Freund aus Kolumbien


Mir widerfuhr neulich in Deutschland, was mir in Kolumbien häufig passiert: Meine Herkunft interessiert, und die Kenntnisnahme wird stets mit anerkennenden, staunenden Worten und von Interesse zeugenden Fragen begleitet.
Ich hielt mich also für ein paar Wochen in Deutschland auf. Im Zentrum standen Wiederbegegnungen mit alten Freunden. Wir unternahmen Ausflüge, gingen gemeinsam essen, machten Besuche und nahmen an Veranstaltungen teil. Bei solchen Aktivitäten begegnete ich immer wieder deren Freunde, denen ich regelmässig als Freund aus Kolumbien vorgestellt wurde. Das war so überhaupt nicht abgesprochen. Doch meine Freunde schienen Spass daran zu haben, ihren Freunden einen Überseefreund vorstellen zu können, und sie rechneten sich wahrscheinlich aus, damit mehr Aufmerksamkeit zu erzielen, als wenn ich als Schweizer Pensionär dahergekommen wäre. Die Kenntnisnahme meiner „Herkunft“ provozierte jedenfalls anerkennendes Staunen. Die einen entschuldigten sich für ihr mangelhaftes Spanisch, worauf ich sofort zu verstehen gab, dass ich der deutschen Sprache mächtig sei. Andere erkundigten sich freundlich, ob das Land besser sei als der Ruf, der ihm vorauseilt, und fanden es mutig, dorthin auszuwandern.
Mein Kolumbien-Ruf verdichtete sich an einem Abend bei den Berliner Philharmonikern zu einem vielseitigen, und gleichzeitig verstörenden Erlebnis. Wir hörten eine Haydn-Symphonie, das 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven und die 5. Symphonie von Robert Schumann. Am Pult: Daniel Barenboim, am Klavier: Maria João Pires, die kurzfristig für den erkrankten Radu Lupu einsprang. Da meine Berliner Freundin früher bei der Philharmonie in leitender Stellung arbeitete, hat sie auf Lebenszeit für alle Konzerte Anrecht auf zwei Gratiskarten, und in ihrem Schlepptau durfte ich von ihren Privilegien profitieren. In der Pause und nach dem Konzert begleitete ich sie in die Künstlergarderoben und konnte auch die zarte Hand von Frau João Pires drücken und ihr gratulieren zum gelungenen Auftritt. Als Freund aus Kolumbien liess sie mich sofort wissen, dass sie im Oktober in Bogotá zugegen sei, was ich mir natürlich sofort vormerkte. Dann arbeiteten wir uns auch zum in Argentinien geborenen Maestro Barenboim vor, und als Freund Kolumbiens liess ich verlauten, wie gut mir der Abend gefallen habe. Er aber verstand, dass mir Kolumbien so gut gefalle und antwortete mit leerem, glasigem Blick, ja, schönes Land. Dann kamen Geiger und Hornisten dran, und irgendwann stiessen wir auch auf den Bassisten Edicson Ruiz aus Venezuela, von welchem meine Begleiterin erzählte, dieser sei in seiner Jugend in einem Slum von Caracas vor der Wahl gestanden, sich entweder einer kriminellen Gang anzuschliessen oder im Rahmen des einmaligen Sozial-Musik-Projektes El Sistema von José Antonio Abreu, das Cello zu erlernen. Später wechselte er zum Bass und gelangte mit einem Stipedium nach Europa. Jetzt spielt er seit vielen Jahren in der Philharmonie. Dem Freund aus Kolumbien gegenüber fühlte er sich natürlich verpflichtet, sofort auf Spanisch zu wechseln. Nun muss man wissen, dass Venezolaner beim Sprechen kaum ihre Lippen bewegen und in einer Geschwindigkeit daherreden, dass einem Hören und Sehen vergeht. So geschah, was geschehen musste. Ich verstand nichts, antwortete – welche Schmach – auf Deutsch, und kam mir in diesem Moment so unheimlich nackt und überführt vor.

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 16. Juli 2019

Dein Platz, liebe Mutter

Die Esplanade Laure Wyss umgittert: der Rasen braucht noch seine Zeit. Aufnahme Juni 2019

Liebe Mutter
Es ist ja schon eine Zeit lang her, seit ich dir das letzte Mal geschrieben habe. Vor 20 Jahren vielleicht? Damals hast du im fortgeschrittenen Alter noch e-mailen gelernt. Rund um deinen nigelnagelneuen Mac lagen Zettelchen, auf denen du dir die einzelnen Handgriffe notiert hast. Affenschwanz: G/@, links alt/option; Internet: Safari aktivieren, www-Adresse in oberste Leiste und so weiter. Manchmal wusstest du aber nicht mehr, wofür dieser Affenschwanz überhaupt nötig war, und so wollten deine Sendschreiben einfach nicht losgehen. Da war dir der Fax vertrauter. Dort konntest du ohne viel Federlesens Handschriftliches versenden. Einige dieser Fernschreiben habe ich noch aufbewahrt. Allerdings sind sie bis zur Unleserlichkeit verblichen.
Mit meinem heutigen Schreiben möchte ich dich über die Eröffnungsfeier der Esplanade Laure Wyss orientieren, die deine Heimatstadt Biel/Bienne am 17. August 2019 veranstalten will. Vielleicht hast du ja Lust, ein bisschen über der Veranstaltung zu schweben und zu beobachten, wie dein Platz von der Bevölkerung aufgenommen wird.
Ja, du hast es geschafft – auch wenn es wohl nicht unbedingt dein Ehrgeiz war, in Biel deinen Platz zu bekommen. Dein Sinn stand wohl eher nach Zürich ... Es war aber der Wille einiger politisch engagierter Frauen, die sich seit Jahren dafür einsetzen, in Biel die Rolle der Frau in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft sichtbar und erlebbar zu machen. Sie gründeten den Frauenplatz Biel und organisierten im Vorfeld des Frauenstreiks Führungen durch die Stadt und weisen nun mit der bevorstehenden Eröffnung deines Platzes einen erheblichen Erfolg auf.
Da ich selbst am Eröffnungstag nicht zugegen sein werde, hatte Gemeinderätin Barbara Schwickert die Liebenswürdigkeit, mich zusammen mit deiner Nichte Elisabeth und deinem Neffen Tobias mit seiner Frau Annemarie zu einer Vorbesichtigung einzuladen. Sie kam in Begleitung des Leiters Hoch- und Neubau, Werner Zahnd. Treffpunkt war unter dem Vordach des Kongresshauses, und wir hatten uns dafür wohl den heissesten Tag des Jahres ausgesucht.
Diese langgezogene Esplanade ist ein Dreiteiler. Der erste Teil der Flucht bildet das Flachdach eines unterirdischen Parkhauses: eine Betonfläche mit neckischen Vertiefungen, wo sich Pfützen bilden dürfen. Dann kommt, einem Riegel gleich, die Coupole. Dieser Gaskessel ist das älteste autonome Jugendzentrum der Schweiz, wo seit über 50 Jahren Konzerte, Versammlungen und Veranstaltungen stattfinden. Als Journalist musste ich einmal eine Reportage machen über diesen Chessu. Das ist aber lange her. In Erinnerung bleibt mir nur noch das Gefühl der Klaustrophobie.
Und dahinter fängt dann dein Teil an, liebe Mutter: eine Rasenfläche mit ein paar bepflanzten Hügelchen, zum Zeitpunkt der Besichtigung eine noch recht fragile Fläche, an deren linkem Rand eine Häuserfassade dominiert mit spitzen Balkonen. Ich befürchte, sie würde dir nicht gefallen. Auf meinen Führungen durch Schwamendingen, wo wir auch immer wieder scheusslichen Fassaden begegnet sind, pflegte ich jeweils zu sagen, dass diejenigen, die darin wohnen, diese ja nicht sehen müssen. Sie haben im Falle von Biel Aussicht auf deinen Platz, können beobachten, wie die Bevölkerung die Fläche langsam in Beschlag nimmt, sie mit eigenen Aktivitäten ausfüllt. Und es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die Polizei an milden, langen Samstagabenden wegen Lärmbelästigung herbeigerufen wird, um etwas Ordnung zu schaffen. Dies hingegen dürfte dir gefallen, die gemütliche Störung bürgerlicher Wohlbestalltheit.
Das wärs auch schon. Ich hoffe doch sehr, du lässt es dir im Jenseits gut ergehen. Ich spüre auch schon einen Sog in jene Richtung. Wir sehen uns.
Dein Filius