Samstag, 19. Mai 2018

Wer kennt noch André Ratti?


Alles hatte mit Reinhard Glättli angefangen, einem grossgewachsenen, neugierigen, schlaksigen Schulabgänger, der noch nicht genau wusste, in welche Richtung sein Leben gehen solle. Nach jedem Lacher – und er lachte viel – warf er den Kopf nach hinten und strich sich dabei die langen Haare aus seinem Gesicht. Ich lernte ihn Ende der 1970er-Jahre kennen, wahrscheinlich in der Fantasio Bar am Rüdenplatz. Das ist nicht mehr genau auszumachen. Von da weg kreuzten sich unsere Wege zufällig, aber regelmässig irgendwo im Niederdorf und endeten jeweils bei einem Glas Bier. Er hatte eine Freundin, schwärmte aber unverhältnismässig oft von André Ratti, mit dem er anscheinend befreundet war. Reinhard wollte uns beide bekannt machen und konnte nicht verstehen, weshalb sich in mir alles gegen eine solche Begegnung sträubte: Eifersucht, Vorbehalte einem lauten Schwulen gegenüber, prinzipielle Abneigung gegen Fernsehgrössen, Aversion gegen füllige Bartträger – und so fort. Ich kannte André Ratti von wissenschaftlichen Sendungen her. Ich hielt ihn für oberflächlich und inkompetent, das genügte mir vollauf.
Eine Zeit lang hörte ich dann nichts mehr von Reinhard. Er hatte vor, seine Krampfadern wegoperieren zu lassen. Doch eines Morgens überraschte mich ein Anruf. Laut und deutlich sagte eine Stimme: Ratti.
Wieso der?, schoss es mir durch den Kopf. Hatte hier etwa Reinhard die Hand im Spiel? – Ratti jedoch teilte mir sachlich, aber bestimmt mit, Reinhard sei an den Folgen des chirurgischen Eingriffs verschieden: Herzversagen!
In Schockstarre fiel ich aufs Bett. Ratti fuhr fort, er gehe nicht an die Beerdigung, er gehe nie an Beerdigungen, und meinte: Ich weiss, dass Reinhard viel von dir gehalten hat. Deshalb rufe ich dich an, damit du es nicht aus der Todesanzeige erfahren musst.
Die Nachricht brachte mich völlig durcheinander. Wie kann so etwas nur möglich sein? So ein junger, hoffnungsfroher Mensch! Und wieso muss ich diese schlimme Nachricht von einem André Ratti erfahren, dem ich doch stets geflissentlich aus dem Weg gegangen bin? Hatte er mit Reinhard womöglich noch ein intimes Verhältnis gehabt?
Ich war erschüttert und brachte keinen richtigen Satz zustande. Zum Schluss seines Anrufes schlug Ratti vor, wir könnten uns doch in Gedenken an Reinhard einmal zu einer Tasse Kaffee treffen. In meinem Zustand vermochte ich mich seines Ansinnens nicht zu erwehren. – Wir machten ab.
Daraus entstand, zum Erstaunen beider, eine ritualisierte Freundschaft. Über Jahre hinweg. Bald war Reinhard kein Thema mehr, es waren Musik, insbesondere Opern, viel Klatsch und Tratsch, Reisen und Bücher. Ratti war früher schliesslich Verlagsbuchhändler beim Walter Verlag gewesen. Mindestens einmal pro Woche quatschten wir ausführlich am Telefon, und an den Samstagen schwammen wir jeweils im Hallenbad Uitikon-Waldegg einige Runden und besuchten dortselbst die Sauna. Von da weg war ich auch Gast bei seinen legendären Suppen-Einladungen. In der kleinen Zweizimmerwohnung beim Triemli kamen Krethi und Plethi zusammen und schufen prekäre Platzverhältnisse. Als er im selben Haus in eine Dreizimmerwohnung umziehen konnte, tat dies den beengten Platzverhältnissen keinen Abbruch. Jetzt kamen einfach noch mehr Gäste vorbei, darunter allerlei Fernsehgrössen aus jener Zeit. Sie sassen bei lauter Opernmusik am Boden, auf dem Badewannenrand, versunken im Sofa oder aufgereiht entlang des Balkongeländers und schlürften seine Suppe.
Ferienbegleitungen nach Comano im Tessin, wo ihm das Haus der Familie des Filmemachers Tobias Wyss zur Verfügung stand, oder oberhalb der Gestade des Lago Maggiore, wo seine Fernsehfreundin Ilse Heim auf der italienischen Seite ein Haus besass, ergänzten unseren freundschaftlichen Kontakt. Ich war kaum je allein mit ihm. Ich gehörte jetzt vielmehr zu seinem Hofstaat. Er liess sich immer von vielen Freunden umgeben und genoss die Bühne, die wir ihm damit gewährten.
Ich fragte mich oft, auf welchen Pfeilern unsere Freundschaft ruhte. Reinhard kann es nicht gewesen sein, auch wenn uns sein Tod zusammengeführt hatte. André Ratti repräsentierte etwas für mich, das mir eigentlich fern lag. Er lebte stellvertretend für mich meinen Schattenteil. Sein Anspruch auf Freiheiten und Übertretungen der herrschenden Normen, seine schamlosen und oft abstrusen Behauptungen schienen vom Saft seiner russischen und bündnerischen Wurzeln genährt zu werden und übten auf mich eine Faszination aus. Er war der laute, aufbrausende, ungerecht urteilende, leidenschaftliche Egomane, der sich regelmässig in Jungs verguckte, die lieber sein Geld entgegennahmen, als seine Zuneigung spüren wollten. In meiner Erinnerung geriet er des Öfteren in Liquiditätsengpässe.
Und dann überraschte er mich plötzlich mit der Idee, an einer Gesprächsrunde des Schweizer Fernsehens über die Nachfolgegeneration der 68er teilzunehmen. Als Stargast hatte er die umstrittene Psychoanalytikerin Alice Miller geladen, die es mit ihrem Buch Das Drama des begabten Kindes auf die Bestsellerliste gebracht hatte. Um sie herum gruppierte Ratti ein paar weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, an die ich mich nicht mehr erinnere. Mich wollte er als Vertreter der jungen Generation dabeihaben.
Die Aufzeichnung ging vollständig in die Hosen. Das Gespräch wurde einseitig von Alice Miller dominiert, die allerdings auch unzufrieden war über dessen Verlauf, weil sie angeblich ihre Thesen nicht genügend verbreiten konnte. Am darauffolgenden Tag herrschte hektische Telefoniererei, die darin gipfelte, die Absetzung der verunglückten Sendung zu verlangen. Dass ich auch zu denen zählte, welche die Absetzung einforderten, verletzte André zutiefst. Er hielt mich für einen Verräter und Schisshasen.
Abends darauf wurde die Aufzeichnung trotzdem gesendet und kassierte unbarmherzige Kritik. Ratti aber blieb böse auf mich. Die regelmässigen Anrufe und die Ausflüge in die Sauna blieben von da an aus. Irgendwann hörte ich, dass er sich vom Schweizer Fernsehen verabschiedet und ins Tessin abgesetzt habe. Und dann vernahm ich plötzlich, dass er jetzt in Basel lebe.
Anlässlich der nächsten Kunstmesse, die mich, wie jedes Jahr, ans Rheinknie fahren liess, hielt ich es für angebracht, ihn wieder einmal anzurufen. Nach so langer Zeit. Ich beschaffte mir seine Nummer und rief ihn aus einer Telefonkabine am Barfüsserplatz an. Er war überrascht. Nach einer längeren Pause teilte er mir in seiner direkten Art mit: Nikolaus, ich sage es dir grad klipp und klar: Ich habe Aids.
Ich weiss noch, wie ich entlang der Kabinenscheibe nach unten glitt und mit weichen Knien auf dem uringetränkten Boden landete. Und wie seinerzeit bei Reinhard blieben mir wieder die Worte im Halse stecken. Ratti jedoch fuhr weiter und beantwortete vorweg, was wohl als nächste Frage von mir gekommen wäre. Er wünsche momentan keine Besuche, er werde von seiner betagten Mutter gut umsorgt. Seine Sorge sei einzig, dass sie vor ihm ableben könnte. Punkt.
Ein paar Monate später traf ich ihn zufällig am Hauptbahnhof Zürich. Es war kurz nach seinem Einstand als erster Präsident der Aidshilfe Schweiz. Wir begrüssten uns verhalten herzlich. Er hatte Gewicht verloren und meinte dazu sarkastisch, endlich habe er seine Idealfigur erreicht. Ich hielt es bei dieser Gelegenheit für angebracht, ihn zu motivieren, ein paar Erinnerungen aus seinem Leben zusammenzutragen. Ich würde ihn dabei gerne unterstützen. Er habe doch so viel erlebt und sei mit so vielen spannenden Menschen zusammengekommen, dass eine Verschriftlichung seiner Erlebnisse angemessen und interessant wäre. Er stimmte dem Vorhaben zu, und schon ein paar Tage später fuhr ich mit einem Kassettenrekorder und vielen leeren Magnetbändern nach Basel, um ihn aus seinem Leben erzählen zu lassen.
Meine Aktion war ein Debakel. Statt Begegnungen zu schildern oder Geschichten von Freund- und Feindschaften zu erzählen, vermochte er nur zu sagen, dass diese Person besonders interessant und jene Operninszenierung besonders eindrücklich gewesen sei. Seine Beiträge bestanden eigentlich nur aus Bewertungen von Tatbeständen oder Personen. Alles oder jeder war entweder grossartig, fantastisch, herrlich, unglaublich und spannend, oder dann deprimierend, dumm, schlimm. Doch was dies oder jenes zu dem gemacht hatte, das ihn zu diesem Urteil bewog, vermochte er nicht zu sagen. Er entsagte sich jeder Begründung seiner Einschätzungen. Kein Nachhaken fruchtete, und nach drei Besuchen dieser Art gab ich das Vorhaben auf. Statt Geschichten zu verfassen hätte ich eine Ratingliste zusammenstellen können. Glücklicherweise – das Wort ist hier völlig fehl am Platz, ich weiss, aber in Bezug auf unser gemeinsames Vorhaben gleichwohl angebracht – verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Meine gescheiterte Initiative musste nicht mehr thematisiert werden.
Von Weitem konnte ich beobachten, dass sich jetzt ein eingeschworener Kreis von Freunden um ihn bildete, die fest entschlossen waren, ihn bis zu seinem Ableben zu begleiten. Ich gehörte nicht dazu. Später liess ich mir sagen, bei seinem friedlichen Einschlafen hätten die Anwesenden russische Volksweisen intoniert.


André Ratti und ich auf dem Balkon des Hauses in Comano

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 8. Mai 2018

Ich vermisse Oscar

Oscar

Hier in Bogotá bin ich oftmals versucht, unter dem Arbeitstitel Dem Teufel vom Karren gefallen über Menschen zu schreiben, die ein leidvolles Schicksal mit sich herumtragen. Sie leben bei Kälte, Wind und Regen auf der Strasse und suchen nachts unter Brücken oder in Hauseingängen Schutz. Sie bedecken sich mit Lumpen oder aufgeweichten Kartons. Ihre Notdurft verrichten sie hinter einem Baum. Zur Körperpflege haben sie kaum Gelegenheit, und das Essen schnorren sie sich, so gut es geht, zusammen. Oftmals machen Drogen ihr Leben noch komplizierter.
In dieser angedachten Serie hätte auch Oscar seinen Platz bekommen. An unserer Strasse machte er es sich zur Aufgabe, parkende Autos einzuweisen und auf diese aufzupassen, um am Schluss ein bescheidenes Trinkgeld zu kassieren. Als wir einzogen, begrüsste er uns überschwänglich und half uns beim Hereintragen einiger Möbelstücke. Seither sind wir beste Freunde. Ich fühlte mich in seiner Obhut gut beschützt.
Kochten wir zu viel oder blieb der angekündigte Besuch aus, hatten wir mit ihm einen dankbaren Abnehmer der Resten. Er zog uns auch immer ins Vertrauen, wenn aus der Nachbarschaft wieder eine schlimme oder lustige Geschichte zu vermelden war. Selbstverständlich waren uns seine Informationen immer ein paar Pesos wert. Ganz besonders interessierte er sich für Fussball. Er war Fan von Santa Fé, und wenn im estadio El Campín wieder einmal ein Derby mit dem Stadtrivalen Millionarios am Laufen war, so stellte er den scheppernden Transistorradio, den er sich aus irgendeinem Müllhaufen gefischt hatte, auf Strassenlautstärke ein und liess alle, die an ihm vorübergingen, am Verlauf des Spieles teilhaben. Bei einem Goal war er jeweils aus dem Häuschen. Entweder vor Freude bei Santa Fé oder vor Entsetzen bei den Millionarios.
Einmal empfing er uns in Tränen aufgelöst. Seine Tochter lag im Sterben. Erst so erfuhr ich, dass er Kinder hatte. Tags darauf war sie tot. Ich tröstete und umarmte ihn.

Ich hatte also vor, über ihn zu schreiben und mehr über ihn zu erfahren. Doch plötzlich war er verschwunden. Niemand konnte sagen, wohin er gegangen sei. Sein herbes Lachen fehlte mir, seine positive Einstellung dem Leben gegenüber, das es nicht sonderlich gut mit ihm meinte, auch. Seine humorvolle Präsenz hatte mich jeweils in meinem Unvermögen, eine gerechte Welt zu schaffen, getröstet.
Und dann, Wochen später, begegnete ich ihm überraschend wieder. Diesmal war er frisch gewaschen und frisch rasiert. Er trug saubere Kleider. Ich traute meinen Augen kaum.
Was ist passiert, Oscar?, rief ich ihm entgegen. Du hast dich ja total gewandelt!
Sichtlich stolz berichtete er mir darauf, kürzlich einem Wiedereingliederungsprogramm beigetreten zu sein, wo er in einem Mehrbettzimmer hausen darf. Er bekommt jetzt Essen, Kleider, kann sich täglich duschen und hat vor, seiner früheren Beschäftigung, nämlich Schlagzeuger in einer Band zu sein, wieder nachzugehen. Er ist jetzt 69 und gibt sich noch einmal eine Chance.
Wie ich mich freue für ihn. Und gleichzeitig beschleichen mich Fragen. Wer wird denn jetzt unsere Nachbarschaft sicher halten? Was machen wir künftig mit unseren Essensresten?
Ich schäme mich, dass mir angesichts seines Glücks solche Gedanken kommen. Ich muss sie vertreiben, sie sind deplatziert. Oscar zu gratulieren und ihm alles erdenklich Gute zu wünschen, ist alles, was mich bewegen sollte.
Jetzt warte ich auf seine E-Mail-Adresse, die er sich einrichten will, damit ich das Bild, das ihn in seiner neuen Aufmachung zeigt, zuschicken kann.

© Nikolaus Wyss

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Montag, 7. Mai 2018

Im Wolfbächli

V.l.n.r. Wolfbachstrasse 9, 11, 15, 19

Dies ist keine Geschichte. Hier folgen bloss ein paar persönliche Notizen entlang einer Zürcher Quartierstrasse. Die Wolfbachstrasse ist eine Art Blinddarm, Nebenarm der verkehrsreichen Hottingerstrasse: Langweilig, dafür ruhig, vernachlässigbar, wenn man dort im Leben nicht einmal etwas Einprägendes erlebt hat. Trifft aber auf mich nicht zu. Die Wolfbachstrasse wäre mir deshalb spontan nie ins Bewusstsein gerückt, hätte mich ein potenzieller Verleger meiner Blogs bei meinem letzten Besuch in Zürich nicht sprechen wollen und vorgeschlagen, sich zum Lunch im Wolfbächli am Steinwiesplatz zu treffen. Als er zur Erklärung ansetzte, wie ich dorthin gelange, konnte ich kennerhaft abwinken und frischte vor unserem Treffen mit einem kleinen Spaziergang alte Erinnerungen auf.

Erste Station: Stepptanz bei Nina Macciacchini. Diese Koryphäe des künstlerischen Tanzes betrieb in den 1960er-Jahren im weissen Häuschen an der Wolfbachstrasse 11 eines ihrer Tanzstudios. Sie war eine vornehme und zu jener Zeit wohl auch hochangesehene Künstlerin mit gnädigem Lächeln. Meine Mutter, darauf bedacht, mir die beste aller Ausbildungen angedeihen zu lassen, gelangte meiner langen Beine wegen zur Überzeugung, ich sei zum Tänzer bestimmt. Also schleppte sie mich eines Tages ins Studio Macciacchini und schlug mir zum Schluss der Akquisitionspräsentation vor, es doch einmal mit Stepptanz zu versuchen. Da ich nicht grad spontan ablehnte – Zweifel galten als Zustimmung –, bekam ich Klapperschuhe und Strumpfhosen ausgeliehen und wurde schon in der nächstfolgenden Woche unter Anleitung von Madame de Vigier, einer von Nina Macciacchini angestellten Hilfskraft, in Fred Astaire unterrichtet, zusammen mit zehn anderen Halbwüchsigen.
Nach einem Jahr galt es, das Eingeübte einem grösseren Publikum zu präsentieren. Die Aufführung fand in einem der Nebensäle des Kongresshauses Zürich statt. Das Publikum bestand, wie meistens in solchen Fällen, aus erwartungsfrohen und stolzen Müttern. Ich liess das Geschehen mit einigen Stolperschritten über mich ergehen, im Bewusstsein, dass es sich damit ausgesteppt hatte. Dieses lärmende Geklapper auf hartem Untergrund war nichts für mich. Ich beschied meiner Mutter, damit aufhören zu wollen. Darauf folgten die kurzen Perioden der Orientierungsläufe im Wald und des Muskeltrainings beim früheren Wrestler Gottfried Grüneisen im Seefeld, der dort zusammen mit seiner rührigen Frau ein Hantelzentrum für schwache Jungs wie mich betrieb, bis meine erschlaffenden Schulleistungen mich dazu zwangen, einen Unterbruch derartiger Freizeitbetätigungen einzulegen. Doch in den Erzählungen meiner Mutter blieb mein Ausflug in die Welt des Showtanzes ein fester Bestandteil, den sie stolz mit dem Satz abzuschliessen pflegte, dass ich sogar im Kongresshaus aufgetreten sei!

Ein Haus weiter ostwärts befindet sich das Gesellenhaus Wolfbach, während 100 Jahren Herberge mit Festsaal des katholischen Gesellenvereins. Ich kenne seine Innenräume allerdings aus anderem Grund. Dort nistete sich nämlich zu jener Zeit das Schweizer Schwarz-Weiss-Fernsehen mit einem zweiten provisorischen TV-Studio ein, aus welchem auch meine Mutter ein paar ihrer Sendungen moderierte. Ich durfte dabei auf leisen Sohlen diesen Produktionen hinter der Kamera beiwohnen Was meinen neidischen Schulkameraden als Privileg vorkam, war aus der Sicht einer besorgten Mutter als Vorkehrung zu verstehen, mich nicht alleine zu Hause oder auf der Strasse herumlungern zu lassen. Ich fühlte mich allerdings in diesem backsteinernen Gesellenhaus nie besonders heimisch und meinte aus dessen Ritzen noch abgestandenen Biergeruch, vermischt mit heiligem Weihrauch, herauszuriechen. Damals war es eben noch von Bedeutung, ob etwas katholischen Ursprungs war oder nicht ...

Wohl hingegen fühlte ich mich in der Schallplattenabteilung des Musikhauses Jecklin, dessen Eingang sich auf der Höhe der Rämistrasse 42 befand. Im Erdgeschoss gab es U-Musik, einen Stock tiefer Klassik. Die Theken, wo ich mir die Vinylplatten anhören konnte, befanden sich auf der rückwärtigen Seite mit Blick auf einen Hof, der von der Wolfbachstrasse her erschlossen wurde. Dort herrschte immer Betrieb mit Ab- und Aufladen von Sperrgut. Oft dachte ich, wenn diese Arbeiter hörten, was ich jetzt höre, sie würden mit Arbeiten sofort aufhören. Die Musik tröstete mich in meiner pubertären Einsamkeit und in meinem Kummer über die vielen abverreckten Latein- und Mathematikprüfungen am Gymnasium, das weiter oben am Hügel lag. Johann Sebastian Bach und Miles Davis waren meine Favoriten, schnell gefolgt von Schuberts, Schumanns und Brahms’ Kammermusik, gleichzeitig aber auch von den Rolling Stones und Lou Reed mit seinen Velvet Underground.
Dass ich meinte, einiges von Musik zu verstehen, und durchaus zu unterscheiden wusste zwischen Beethoven und Mozart, verdanke ich dem Komponisten Armin Schibler, der uns am Gymnasium unterrichtete. Mich störten zwar seine spindeldürren Beine, die jeweils von eng anliegenden Hosen noch betont wurden, und ich konnte mit seinen Kompositionen herzlich wenig anfangen, aber seine Musikstunden bleiben mir in guter Erinnerung.
Er wohnte – und deshalb erwähne ich Schibler hier – mit seiner Familie am anderen Ende der Wolfbachstrasse, beim Steinwiesplatz. Seine Frau Tatjana spielte im Tonhalle-Orchester die Bratsche, und mit Sohn Thomas drückte ich eine Zeit lang die Schulbank. Nicht nur das. Thomas spielte im Schülerorchester das Fagott, und ich hatte damals die fatale Eingebung, dort auch dieses Instrument zu blasen. Was für mich aber eher ein soziales Engagement war, nämlich mit Gleichgesinnten in der Freizeit etwas Sinnvolles anzufangen, entpuppte sich bei Thomas als Berufung. Noch heute, so entnehme ich dem Internet, ist er dem Fagott treu geblieben und lehrt in der Nähe von München. Im Schülerorchester hängte er mich, wen wunderts, in kürzester Zeit ab, und ich war froh, mich, so gut es ging, hinter seinen virtuosen Tönen zu verstecken.

Mit dem Steinwiesplatz verbindet mich auch eine der ersten Ausstellungen des neugegründeten Vereins Kunsthalle Zürich. Wir waren damals, anfangs der 1990er-Jahre, noch ein ambulantes Unternehmen und schlugen an unterschiedlichsten Schauplätzen unsere Zelte auf, unter anderem eben in einem Neubau am Steinwiesplatz, wo später Kieser Training einzog. Ich glaube, es handelte sich um eine Einzelausstellung von Adrian Schiess. Wir Vorstandsmitglieder des Vereins, dem damals noch kaum flüssige Mittel zur Verfügung standen, kommandierten uns selbst zum Hütedienst ab, und ich erinnere mich gut an nicht enden wollende Sonntage in den frisch gemalten Räumen, während denen kein einziger Kunstfreund auftauchte. Da sass ich dann in meditativer Position gegenüber diesen unsäglich genauen, ebenförmigen und sorgfältig platzierten Farbquadern des Künstlers und wusste sie mir eigentlich nicht so recht zu erklären. Kurz, ich langweilte mich. Um meine Präsenz dann doch noch etwas produktiv erscheinen zu lassen, markierte ich für die Statistik mit drei Strichen fiktive Besuche. Das entsprechende Eintrittsgeld legte ich aus eigener Tasche abends in die Kasse.

So weit mein Wiederauffrisch-Spaziergang. Im Restaurant Wolfbach gab es bei erlesenem Wein leckere Kalbsleberli mit Risotto und eine herrliche Crema Catalana. Das Gespräch mit dem Verleger war von Wohlwollen geprägt, Entscheide wurden keine getroffen. So schreibe ich weiterhin meine Blogs und freue mich auf die stets wachsende Leserschaft. Am Anfang waren es im Schnitt 200 pro Beitrag, jetzt stosse ich damit schon bald an die Tausendergrenze. Vielleicht interessieren diese ermutigenden Zahlen den Verleger. Klar, eine Null mehr hintendran wäre schon noch erfreulicher, aber eine Wolfbachstrasse bringt das einfach nicht hin. Doch deswegen zum Broadway wechseln, zu Fred Astaire? – Nein, da mache ich nicht mit!

Links Kieser-Training, hinter dem Baum Schiblers Haus, rechts Rest. Wolfbach


 

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 3. Mai 2018

Die Trillerpfeife


Endlich kann ich hier einmal ein griechischstämmiges Eigenschaftswort verwenden, das ich während meines Volkskundestudiums lernen musste. Es veredelte damals den akademischen Anspruch dieser Studienrichtung ungemein. Es heisst apotropäisch. Das Wort bezeichnet die Eignung von Objekten oder Handlungen, Unheil abzuwehren. Es meint somit das, was man gerne Amuletten, Talismanen, Maskottchen und Glücksbringern zuschreibt.
Meine Geschichte ist simpel: Als ich mich in den 1970er-Jahren zum ersten Mal anschickte, nach New York City zu reisen, ging dieser Stadt der Ruf einer gefährlichen Räuberhöhle voraus. In der U-Bahn würde geschossen, so konnte man es der Presse regelmässig entnehmen, Überfälle am helllichten Tag waren gang und gäbe, knallharte Strassengangs tyrannisierten ganze Stadtteile ... Item, meine Mutter hatte Angst, mich allein dorthin ziehen zu lassen, auch wenn es sich nur um ein paar wenige Tage handelte, und sie liess sich von einer Freundin beraten, womit mir in dieser Stadt wohl am besten geholfen wäre.
Die Lösung ihrer Sorge war sowohl verblüffend als auch logisch. Eine Trillerpfeife sollte es richten. Bei Gefahr schlug man damit einfach Alarm, indem man die Räuber, die einen umzingelten, schrill verpfiff und so die Umgebung auf die eigene Notlage aufmerksam machte.
Seither bewaffne ich mich bei fast allen meinen Ausflügen in gefährliche Gegenden mit so einem Instrument. Die Trillerpfeifen wechselten, der Schutz ist geblieben. Es ist sogar so, dass ich hier in Bogotá schleunigst nach Hause zurückkehre, wenn ich bemerke, dass ich sie vergessen habe. Habe ich mich schon zu weit von meinem Zuhause entfernt, suche ich in der Stadt als erstes einen Chinesen-Laden auf, der solche Dinger feilbietet, um mich mit einem Ersatzschutz abzusichern.
Tatsächlich geschahen die paar Überfälle, die mir in meinem Leben widerfuhren, immer dann, wenn ich die Pfeife nicht auf mir trug. Das Apotropäische meiner Trillerpfeifen scheint mir damit genügend ausgewiesen.


© Nikolaus Wyss

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Freitag, 27. April 2018

Was ist noch hängig?

Chlöiseli in Tante Trudis Bergli im Neckertal


Hier ein paar Fragen zu Unerledigtem. Gibt es Dinge, die noch bereinigt werden müssten, bevor du gehst?
Ich laufe nicht mit dem Gewicht eines schweren Pakets von Unerledigtem herum, das noch abgetragen werden müsste, bevor ich sterbe. Mein Paket ist ein Päckli – relativ leicht. Die Einsicht, dass ich doch nichts ungeschehen machen kann, hilft mir, es zu tragen. Dieses Gepäck begleitet mich lediglich wie die Furchen im Gesicht und die erschlafften Muskeln: Wenn ich mich nicht gerade im Spiegel betrachte, so sind sie mir wurst. Mir kommen zwar jeden Tag Dinge in den Sinn, die in meinem Leben nicht so gelaufen sind, wie sie hätten verlaufen sollen: Missverständnisse, Verletzungen, Ungeklärtes, Übergriffe, Sachen, die ich seinerzeit einer besseren Lösung hätte zuführen müssen, Umstände auch, wo mir andere etwas schuldig geblieben sind oder mich betrogen haben. Das Wunderbare ist jedoch, dass sich diese Erinnerungen und Gedanken meistens nach kurzer Zeit wieder verflüchtigen, sei es, weil ich mich von Schönerem ablenken lasse oder weil sie von anderen Dingen, die auch noch unerledigt oder ungelöst geblieben sind, abgelöst werden.
Keine Vorwürfe, die dich dein Leben lang begleiten und dir deine Lebensbilanz versauen, wie es bei deinem Vater selig der Fall war?
Es gibt ein paar wenige, wiederkehrende Erinnerungen, die über die Jahre hinweg in meinem Gefühlshaushalt einen Sonderstatus gewonnen haben. Sie sind wie alte Bekannte, die mich manchmal aufsuchen und mir Gelegenheit geben, meine Scham oder meine Wut zu pflegen, damit ich mich nicht allzu fest in meinem Seelenfrieden suhle. Eine Portion schlechtes Gewissen oder das leidenschaftliche Kultivieren von gewissen Feindbildern hält einen lebendig. Deshalb denke ich nicht im Traum daran, mich dieser Erinnerungen zu entledigen durch irgendwelche Sühne- und Bussenrituale. Sie weisen vielmehr auf die engen Grenzen meiner eigenen Vollkommenheit hin. Das ist ganz vernünftig.
Beispiel?
Zum Beispiel Tante Trudi. Hier geht es um Scham. Immer wenn meine Mutter für längere Zeit geschäftlich verreisen musste, steckte sie mich ins Bergli im Neckertal, Toggenburg. Das war ein Kinderheim für Fälle wie mich. Es war das Lebenswerk von Tante Trudi, die eigentlich gelernte Färberin war und viel von Chemie verstand. Zum Frühstück gab es Porridge und anschliessend zum Calciumaufbau der Kinderknochen sandigen Säntis-Kalk auf Butterbrot, und abends formten wir ums Spinett einen Kreis und sangen fromme Lieder. Ich war zwischen meinem dritten und meinem 14. Geburtstag vielleicht 35 Male dort für jeweils zehn bis 20 Tage. Im Bergli entwickelte ich mein ausserordentliches Talent zur Überanpassung. Heimweh verkniff ich mir und stieg damit bereits in jungen Jahren zur braven rechten Hand von Tante Trudi auf. Während sie zum Rechten sah, mit ungezogenen Kindern schimpfte und sie für ein verlängertes Mittagsschläfchen einsperrte, ging ich mit den anderen Kindern zur Post mit gut in der Tasche verstecktem Portemonnaie, wo uns Herr Lendenmann Briefmarken ausgab und Briefe und Pakete entgegennahm, die er dann behänd abstempelte. In unmittelbarer Nähe befand sich das Tiefkühlhaus, wo Tante Trudi in einem grossen Fach Beeren, Fleisch und Gemüse eingelagert hatte. Es gehörte zum besonderen Vergnügen für mich, zuerst den dicken Pelzmantel, der mir bis zum Boden reichte, anzuziehen, um mit ebenso dicken Handschuhen im eisigen Raum aus dem Bergli-Fach das Benötigte herauszuholen. Auch der Gang zu Bauer Naef unten im Talboden zählte zu meinen Pflichten. Bei ihm holte ich auf Monatsrechnung Butter und Milch. Zu meinen ungelisteten Aufgaben gehörte auch das Trösten der Kleinen. Ich putzte ihnen die Schnudernase, versah Hütedienste, überwachte den Sandhaufen und genoss als Bravster das Privileg, die Lieder für den abendlichen Gesang auswählen zu dürfen. Zum Lohn konnte ich abends länger aufbleiben oder musste nur die Hälfte dieses sandigen Kalkbrotes essen.
Der Kontakt zu Tante Trudi blieb auch bestehen, als ich im Bergli nicht mehr regelmässiger Gast war, weil ich mir, grossgewachsen, wie ich war, unter dem Türsturz den Kopf anzuschlagen begann. Sie schrieb mir ab und zu Briefe und jammerte ein bisschen, es sei nicht mehr so wie früher. Sie zog mich auch bei ihren Überlegungen zu Rate, ob sie nach ihrer Pensionierung an den Genfersee ziehen solle. Wohlerzogen, wie ich war, antwortete ich ihr, wenn auch immer eher etwas knapp und zeitlich verzögert. Die Überwindung meiner Widerstände kostete mich viel Kraft, befand ich mich doch jetzt in einem Alter, wo anderes angesagt war, die Entdeckung der Welt nämlich, die ersten Küsse, das Aufbleiben über Nacht, der erste Joint, der erste Rausch, die Jugendunruhen von 1968 ...
Als sie dann in Chexbres am Genfersee wohnte, beklagte sie sich in ihren Briefen, dass ich sie dort nie besuche komme.
Als ich 23 war und schon weit gereist, bat sie mich plötzlich um den Gefallen, ihren kleinen Neffen, der den Sommer bei seinen Verwandten in der Schweiz verbracht hatte, zurück nach Kanada zu begleiten. Seine Eltern mussten schon früher aufbrechen, und Tante Trudi wollte nicht, dass der Bub – er mochte damals etwa sieben Jahre alt gewesen sein – allein die grosse Reise unternahm. Also stellte ich mich nach kurzer Bedenkzeit für diese Unternehmung zur Verfügung, der Gratisflugschein lockte allzu sehr. Nachdem ich den Kleinen pflichtschuldigst in Montreal abgeliefert hatte, verbrachte ich vor meinem Rückflug in die Schweiz noch ein paar Tage in New York City. Ich erinnere mich gut an die Septemberhitze in dieser Stadt. Die Schuhe blieben auf dem Asphalt kleben, und das Deodorant versagte kläglich.
Nach meiner Rückkehr hätte ich Tante Trudi wohl den Vollzug meiner Mission vermelden müssen, doch ich konnte mich die ganze Zeit nicht darauf festlegen, ob ich mich jetzt bei ihr für die Reise bedanken sollte oder ob es ihre Aufgabe wäre, sich bei mir für den Begleitdienst zu bedanken. Irgendwie blieb ich in diesen lächerlichen Überlegungen stecken und liess ungebührlich viel Zeit verstreichen, ohne etwas von mir hören zu lassen. Stattdessen reiste ich ins Engadin zu Not Vital und seiner Familie und vergass mit der Zeit, was noch zu tun gewesen wäre. Und dann, Monate später im Hauptbahnhof Zürich, begegnete ich ihr zufällig – und ich grüsste sie nicht. Ich lief erhobenen Hauptes einfach an ihr vorbei, als ob ich sie nicht erkannt hätte. Das wars.
Krass.
Als sie Jahre später starb, vernahm ich, dass sie testamentarisch ihren liebsten Heimkindern etwas Geld vermacht hatte. Ich war nicht darunter. Klar. Recht hatte sie. Noch heute quält mich zuweilen mein Versäumnis, für das es keine Entschuldigung gibt.
Hast du heute wenigstens eine Erklärung für dein Verhalten damals?
Manchmal denke ich, es sei die spontane Konsequenz meiner andauernden Überangepasstheit im Kindesalter gewesen. Als überbraves Kind fühlte ich mich von Tante Trudi doch sehr vereinnahmt und meinte vielleicht, die Zeit für die Befreiung sei gekommen. Das interpretiere ich jetzt hinein. Damals war ich mir dessen nicht bewusst.
Mit deiner «Befreiung» hast du allerdings Schuld auf dich geladen.
Ich weiss, deshalb erzähle ich es hier ja. Und ich pflege diese Geschichte auch wie ein zartes Pflänzchen, aus obgenannten Gründen. Ich machte da wirklich eine ganz schlechte Figur. Sie bewahrt mich vor Übermut. Mein Selbstbild wird bis an mein Lebensende durch so ein Vorkommnis beschädigt bleiben und mahnt mich bei ähnlichen Gelegenheiten, im eigenen Handeln die Wirkungen gründlicher mit zu bedenken.
Moralisch, moralisch.
Naja, wenigstens hilfts ...
Hast du noch ein weiteres Beispiel mit Sonderstatus in deinem Gefühlshaushalt?
Etwas mit Wut vielleicht?
Bitte. Wir hören.
Also. Gegen Ende meiner Amtszeit als Rektor der Luzerner Kunsthochschule drang der Begriff Interdisziplinarität so langsam ins Bewusstsein unserer Führungsorgane. Er löste den bereits etwas angestaubten Begriff Nachhaltigkeit ab. Wir Hochschulleiterinnen und -leiter wurden aufgefordert, zuhanden des strategischen Steuerorgans der Fachhochschule Zentralschweiz FHZ Vorschläge einzureichen, womit Lehre und Forschung über die eigene Institution hinweg mit interdisziplinären Angeboten hätten bereichert werden können. Mir gelang es als Vertreter der Künstlerinnen und Designer die Idee eines Kreativitätslabors einzubringen in der Überzeugung, dass die Kreativität nicht das Privileg unserer eigenen Hochschule ist, sondern auch in allen anderen Disziplinen ihre Wirkung entfaltet. Ich nannte es Crealab. Nebst der Schärfung des Begriffs Kreativität wäre es in diesem Labor um die Erforschung von Rahmenbedingungen gegangen, unter welchen Kreativität zu sprudeln beginnt und unter welchen sie versiegt.
Es wurden Kredite für die Vertiefung des Vorhabens gesprochen, und ich machte mich, zusammen mit einer Vertreterin der Wirtschaftshochschule, die wegen ihrer Krebstherapie eine Perücke trug, ans Werk. Wir verstanden uns gut und reichten Monate später das verlangte Dossier ein, das wiederum zu gefallen schien. Da wurde mir klar: Wenn ich als Rektor zurücktrete, möchte ich mich gerne um die Leitung dieses zu gründenden Labors bewerben.
Ich trat zurück, wartete auf die Ausschreibung der ins Auge gefassten 50-Prozent-Stelle und reichte fristgerecht mein Bewerbungsdossier ein.
Nichts geschah. Weder wurde der Eingang meiner Unterlagen bestätigt, noch bat man mich je zu einem Bewerbungsgespräch. Später liessen mich meine eigenen Geschäftsleitungskolleginnen und -kollegen wissen, dass sie bereits einen Entscheid zu meinen Ungunsten getroffen hätten.
Das entspricht nicht gerade einer sauberen Corporate Governance. So geht man nicht mit einem langjährigen Kollegen um, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen ...
Würde ich auch sagen. Immerhin war ich zu dieser Zeit ja noch Mitglied dieses Gremiums, das die entsprechenden Entscheidungen zu fällen hatte, wenn auch in gekündigtem Zustand. Hinter meinem Rücken also vereitelten sie mir die Möglichkeit, mich um diese Stelle zu bewerben, die ich selbst geschaffen hatte.
Hatten sie wenigstens eine Begründung für ihr unfeines Tun?
Witzig! Sie wollten angeblich dem Eindruck entgegenwirken, dass man einem Geschäftsleitungsmitglied nach dessen Abgang einen Fallschirm verschaffen würde. Dazu muss man allerdings wissen, dass jeder, der als Rektor zurücktritt und noch ein bisschen arbeiten will, mit irgendwelchen Aufträgen bedacht wird. Noch heute. Ohne Bewerbung. Ganz unter der Hand, mit viel Rücksicht und Mauschelei. Ich war wohl der erste und einzige gewesen, der auf Mauschelei verzichtet hatte und mich ganz offiziell und mit dem Risiko, die Stelle nicht zu bekommen, beworben hatte. So weit wollten es aber meine feinen Kolleginnen und Kollegen von damals gar nicht kommen lassen, es hätte ja sein können, dass mein Beispiel einer ordentlichen Jobbewerbung Schule machen könnte.
Da schwingt bei dir eine schöne Portion Zorn mit, nach Jahren noch.
Ja, das war ein unschönes Schlussbouquet nach elf Jahren nicht unerfolgreicher Amtszeit. Ich kam mir vor wie der letzte Trottel. Ich gewann den Eindruck, alle seien froh, dass ich gehe. Und selbst hatte ich das Gefühl, eine solche Behandlung nicht verdient zu haben.
Im Gegensatz zu Tante Trudi leben hier alle Beteiligten noch, einige von ihnen haben ihren Abgang, wir wissen es, nach bewährter Manier und etwas raffinierter eingefädelt als du, mit grossen Fallschirmen jedenfalls. Möchtest du sie nicht zur Rede stellen?
Um Gottes Willen.
Wieso nicht?
Habe ich eingangs nicht erklärt, dass Ungeklärtes und schuldhaftes Verhalten anderer viel Energie und viele Vorteile für einen selbst in sich bergen, solange man nicht bei den alten Geschichten kleben bleibt, sondern die Energie nutzt für das Öffnen neuer Türen? Wäre ich zum Schluss korrekt und in allen Ehren behandelt worden, müsste ich mich jetzt auf den Lorbeeren ausruhen und hätte nichts zu berichten. Ich müsste dankbar sein. Die masslose Geringschätzung meiner Person durch meine Kolleginnen und Kollegen hingegen, die peinliche, unkorrekte Handhabung eines an sich simplen Bewerbungsprozesses versetzt mich heute in die Lage, Luzern nicht nostalgisch nachzutrauern oder gar zu verklären. Es gibt nur einen Weg vorwärts. Nie mehr möchte ich den Verursachern meiner misslichen Situation von damals begegnen.
Das nennt man Verdrängen. Ist in der Psychologie eigentlich verpönt.
Ich verdränge doch gar nicht. Ich berichte davon. Ich will es einzig so belassen. Der Friede ist mir in diesem Fall nicht wichtig. Im Gegenteil. Die Tatsachen beleben mich. Hätte doch sonst nichts zu schreiben in diesem Blog.
Ein weiteres Müsterchen?
Nein. Ich müsste schon zu überlegen beginnen. Das ist doch ein gutes Zeichen, dass nichts Weiteres ansteht.
Und wie war das, als der Fachhochschulrat dir die Verleihung des Professorenstatus verweigern wollte?
Ach wo. Das spare ich mir für eine andere Geschichte auf.
Und wie war das mit der Geschichte in der Textilabteilung?
Das ist Kategorie Tante Trudi. Es dürfte klar sein, dass es von dieser Art einige Geschichten gäbe, wo ich Schuld auf mich geladen habe, genug, um den Beichtstuhl für Stunden besetzt zu halten. Gott stehe mir bei ...
Und gibt es nicht noch die schöne Geschichte, als du mit deiner damaligen Partnerin ein Kind zeugen wolltest?
Stopp! Das gehört nicht hierher!
Und war da nicht noch etwas beim Schweizer Fernsehen? Und deine Unterrichtstätigkeit in Beijing?
All diese Geschichten haben zwischenzeitlich ihren Sonderstatus in meinem Gefühlshaushalt eingebüsst. Deshalb sind sie hier nicht von Belang.
Fertig?
Fertig. Ja.

PS: Wer bekam schliesslich den Auftrag, das Crealab aufzubauen und zu leiten?
Die Perücken-Frau, mit welcher ich seinerzeit das Vorhaben entwickelt hatte. Sie konnte es damals nicht gut mit ihren Vorgesetzten an der Wirtschaftshochschule. So wurde ihr zynisch-elegant dieser Job zugeschanzt, sozusagen als ihr Gnadenbrot. Ein halbes Jahr später starb sie dann.

© Nikolaus Wyss

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Sonntag, 8. April 2018

Keine Elefanten

Mit Kenzo in Kapstadt

Der Addo-Elefanten-Nationalpark liegt 70 Kilometer nordöstlich von Port Elizabeth. Wir waren zu dritt im Auto. Ich am Steuer. Mein unverhoffter Liebhaber jener Tage und sein Township-Freund Mike hörten sich auf der Fahrt Songs von Rihanna an. Als We Found Love ertönte, verliebte ich mich sofort in die Musik. Diese vorantreibenden, rhythmischen, aufpeitschenden Orgelakkorde, diese kräftige, klare und gleichzeitig aufreizende Stimme der Sängerin, sie passten so wunderbar zur Elefantenfahrt, vorbei an kargen Hügeln und mit einem Herzen aufgewühlter Gefühle. Was will ein alter Mann noch mehr? Neben mir sass meine amour fou, 45 Jahre jünger als ich, mit aufregender, rasselnder Bassstimme, immer zu einem schallenden Lachen aufgelegt, Geniesser fast jeder Situation, dankbar für meine Zuneigung – wie ich für die seine. Er nannte mich Bae, ich ihn Kenzo. Er scherzte mit Mike, der die Turtelfahrt vom Rücksitz aus mit dieser lauten und dem Augenblick angemessenen Musik von Rihanna aus dem Handy begleitete.
Kenzo hatte ich in Kapstadt kennengelernt. Mir gefiel seine Klugheit, mir gefielen seine Ambitionen, seine akademischen Studien an der Uni zugunsten eines Beauty Parlours zu schmeissen, auch wenn eine solche Idee meilenweit weg war von meinen eigenen Vorstellungen einer verheissungsvollen Zukunft. Wir machten ein Budget, gingen auf Einkaufstour und erstanden Reinigungscremen, Grundierungspasten, Pinselchen, Make-up-Döschen in allen Farben, Wimperntusche, Nagellack, Reinigungslotionen, Feilen, Farbstifte für die Augenbrauen und Perücken unterschiedlichster Qualität. Meiner offensichtlich noch nicht gezähmten Abenteuerlust gefiel es, meinem Portefeuille unsinniger Beteiligungen, wie zum Beispiel an einer Hühnerfarm ausserhalb Nairobis, an einem Nightclub an den Gestaden des Nigers und an einer brasilianischen Tanzgruppe mit Federboas und sehr beweglichen Hintern in der Schweiz, noch eine an einer Schönheitsfarm in Südafrika hinzuzufügen. So freundeten Kenzo und ich uns leidenschaftlich an, wir stritten uns auch, hatten aber Gefallen an der gemeinsamen Sache.
Die Fahrt durch den Tierpark erfüllte leider dann unsere Erwartungen nicht. Wir klapperten Piste um Piste ab, machten Spitzkehren und wagten uns auch auf ziemlich holprige Wege vor, wo es hiess, wir sollten uns vor frei herumlaufenden Löwen in Acht nehmen. Wir fragten entgegenkommende Parkbesucher, ob sie denn eine Herde oder doch wenigstens ein einzelnes Tier gesichtet hätten. Doch ausser auf frischen Elefantendung stiessen wir auf keine Erfolg versprechenden Spuren.
Es müssen Stunden vergangen sein, bis wir beschlossen, die Rückkehr nach Port Elizabeth anzutreten. Leicht frustriert und durch Hunger und Durst auch leicht gereizt, fuhren wir durch die zuvor so belebende Landschaft zurück. Kenzo begann zu mosern, reklamierte, dass ich an einem der wenigen Restaurants am Strassenrand vorbeigefahren sei, statt anzuhalten und zum Dinner zu laden. Ich gab zurück und bemerkte etwas unvorsichtig, die Gaststätte hätte nicht gerade appetitlich ausgesehen, worauf Kenzo ein weiteres Brikett ins Feuer legte und meinte, ich hätte eben Vorbehalte gegenüber seiner einheimischen Küche. Ein Wunder, dass er mich nicht noch einen Rassisten schalt. Ich versuchte ihm zu erklären, dass es auch in der Schweiz Restaurants gebe, die ich freiwillig nie betreten würde, was Kenzo nicht zu beruhigen vermochte, im Gegenteil. So brachen wir einen handfesten Streit vom Zaun, und dem armen Mike auf dem Rücksitz kam nichts besseres in den Sinn, als erneut Rihannas Song abzuspielen in der schwindenden Hoffnung, wir Streithähne würden ob der Musik von der lächerlichen Auseinandersetzung ablassen. Nun fiel mir aber auf, dass im Gegensatz zum Titel, der die Liebe als gefunden beschrieb, das Lied doch sehr nervös tönte, überstürmisch, kokaindurchmischt, crackig, silver-crystalline, rastlos, und dass es eigentlich schlimm endete. Die Orgelstösse stachelten jetzt unsere bereits eskalierte Gemütslage an, sodass sich im entscheidenden Moment das Ventil verstopfte, das unseren Überdruck hätte ablassen können, um wieder aufs Niveau wohlwollender Vernunft zurückzukehren. Wir wurden laut und warfen uns gemeine, wohlfeile Schlötterlinge zu.
Als wir in Port Elizabeth ankamen, war die Stimmung so am Arsch, dass ich an einer Strassenecke das Auto abrupt zum Stehen brachte und mit scharfen Worten die beiden Freunde rauswarf. Ohne Adieu zu sagen.
Damals stand die Idee eines vollständigen Bruchs nicht im Raum. Nur allein wollte ich sein, jetzt, diesem Kindskopf entflohen. Ich checkte selbstmitleidig ins noble Radisson Blu vorne am Meer ein und liess mir ein opulentes Mahl aufs Zimmer bringen. Der Blick aufs weite Wasser und ein wunderbarer Sonnenuntergang beruhigten mein Gemüt. Die Aussicht, diesem jugendlichen Tyrannen entkommen zu sein, stimmte mich fröhlich und mild.
Ein paar Monate später meldete sich Kenzo per E-Mail mit der Frage, ob ich mich in der Zwischenzeit wieder beruhigt hätte. Er brauche Geld, die Geschäfte mit dem Salon würden schlecht laufen. Er betreibe jetzt daneben noch eine Hühnerfarm. Futtermittel sei aber teuer. Auch die Auflagen der Gesundheitsbehörden kosteten Geld.
Ich weiss bis heute nicht, was wohl die adäquateste Reaktion auf seine Forderung gewesen wäre. Ich jedenfalls schickte ihm den geforderten Betrag, teilte ihm aber gleichzeitig mit, dass dies das letzte Mal gewesen sei. Ich würde hiermit den Kontakt zu ihm abbrechen.
So kam es dann auch. – Doch etwas neugierig bin ich ja schon, was aus dem Salon und all den Hühnern noch geworden ist.

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 5. April 2018

Ein Tag in London

Blick in einen Saal des Victoria&Albert-Museums
Museen wie das British Museum oder das Victoria and Albert Museum, kurz V&A, sind zu grossen Teilen Schaulager. Sie zeigen, was sie haben. Das ist viel, sehr viel, zu viel. Es obliegt dann dem geneigten Besucher auszuwählen, was ihn davon wirklich interessiert. Was interessiert mich denn wirklich? Allein die Frage ermüdet mich ziellosen, ungeführten Touristen, der doch nur schon darauf stolz ist, überhaupt den Weg ins Museum gefunden zu haben. Nochmals eine römische Statue, hier noch eine etruskische Halskette, dort ein weiteres reich verziertes Ornament auf einem chinesischen Türsturz, hier drüben der hundertste mit arabischen Gravuren veredelte Säbel. Dann ein 500-jähriger Teppich aus dem Iran im Dunkel, der nur alle halbe Stunde für fünf Minuten dem Licht ausgesetzt werden darf, dann eine letzte Ausgrabung. Von wo war diese nur schon? Mesopotamien? Kurdistan? Südostanatolien? Mir versagt angesichts der Fülle das Urteilsvermögen. Ist dieser Gegenstand schön oder einfach nur interessant und deshalb bestaunenswert? Meine Neugierde erstarrt.

Gleichwohl: Solche Monstermuseen nach altem Schrot und Korn sind für interessierte, rüstige Einheimische und für Schulklassen attraktiv, da der Eintritt in die Sammlungen gratis ist. Man kann so oft vorbeischauen, wie es einem beliebt, und sich ohne Hetze mit dem einen oder anderen Ausstellungsgegenstand vertraut machen, bis man geneigt ist, ihn zum eigenen Sammelgut zu zählen. Ich beobachte zum Beispiel ein begeistertes Paar, das einem anderen Paar fein ziselierten Goldschmuck aus dem Jugendstil zeigt, als ob sich die beiden denselben täglich selbst um den Hals hängen oder über die Hand streifen würden.

Wer sich die Ausstellungsgegenstände emotional aneignet und für seine Lieblingsexponate eine virtuelle Vitrine anlegt, schafft die Übergänge von den Ägyptern zu den Kelten, von den Wikingern zu den Kopten spielend und wird eines Tages, beim 37. Besuch vielleicht, bei den Masken der Yoruba landen, bei einem goldenen Ohrringpaar der Mayas oder bei einem griechischen Tempelfries, und diese zu den anderen Sammelstücken seines persönlichen Schaukastens legen.

Erinnerung: Habe ich nicht als einsamer Jugendlicher beim 15. Zoobesuch und nach Liebäugeln mit den Affen, Elefanten und Seeottern gemeint festzustellen, dass mich das eine Zebra wiedererkannt hat? Ich erklärte es hierauf zu meinem Lieblingstier und Freund, bis ich es, beim 19. Zoobesuch vielleicht, aus der Herde heraus nicht mehr wiederzuerkennen vermochte. Mein neuer Freund kam nicht zum Zaun, um mich zu begrüssen. War ihm etwas zugestossen? Oder waren mein Auge und mein Herz doch nicht so untrügerisch?

Zu meinen Museumsbesuchen gehört auch, dass ich in der Regel den Ausgang nicht mehr finde und auf Hilfe des freundlichen Personals angewiesen bin. Dieses führt mich dann durchs museale Labyrinth zu einer Pforte, durch die ich zweieinhalb Stunden zuvor ganz bestimmt nicht hereingekommen bin. Also umkreise ich jetzt im Nieselregen von aussen den riesigen Komplex, bis ich dort anlange, wo ich das Gebäude auch betreten habe, um im Untergeschoss den Rucksack wieder in Empfang zu nehmen.

Nach dem Verlassen des V&A befinde ich mich an der Exhibition Road. Auf der anderen Strassenseite lädt das Natural History Museum zum Besuch ein. Dort geht es in einer Spezialausstellung um Vulkane und Erdbeben. Auf einer beweglichen Plattform und unter Sicherheitsvorkehrungen kann ich nachvollziehen, was Erdstösse mit einem zu machen imstande sind. Ich denke an mein neu erworbenes Haus in Bogotá und bete insgeheim, es möge vor solchen Erschütterungen verschont bleiben.

Der Geräuschpegel im Gebäude ist nicht nur wegen der simulierten Erdbeben und Vulkanausbrüche um ein Vielfaches höher als im gegenüberliegenden V&A. Ohrenbetäubend ist das Kreischen der Kinder, die sich um die unzähligen Knöpfe balgen, die zum Drücken einladen. Vorteilhaft fällt mir deshalb mitten in diesem Lärm eine wohlerzogene Kinderschar in blauen Schuluniformen auf, weil sie so ruhig und konzentriert den Ausführungen einer Museumspädagogin lauscht. Ich schiesse ein Foto, worauf gleich zwei Aufseherinnen auf mich zustürzen und die sofortige Vernichtung der Aufnahme fordern. Und schon bin ich in diesem Hallen als hinterhältiger Päderast identifiziert.

Für mich ist klar: Hier kann ich nicht älter werden und muss den Tatort sofort verlassen. Ich wechsle zum Science Museum hinüber, stelle dort allerdings fest, dass ich für die vielen Dampfloks und Flugzeuge zu müde bin. Einzig der Geschichte der deutschen V2-Rakete vermag ich noch etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ich erfahre, dass im Zweiten Weltkrieg die englische Presse die zerstörerischen Einschläge der Raketen im Norden Londons konsequent totschwieg. Die Briten wollten damit die Deutschen im Ungewissen lassen, ob deren Raketen überhaupt die erhoffte Wirkung gezeitigt haben. War dies nun obrigkeitlich verordnete Zensur oder schlicht eine nationale Pressesolidarität als Beitrag zur Verteidigung des Vaterlandes?

Dann Spaziergang durch die Kensington Gardens in Richtung Hotel. Welch königlich-städtebauliche Leistung, solche Grünräume mitten in dieser Millionenstadt ins 21. Jahrhundert herübergerettet zu haben. Ich erweise der in marmorweiss gehaltenen Statue Königin Victorias meine Referenz und verspreche ihr, noch gleichentags ihrem allzu früh verstorbenen Gatten Albert auf meinem Weg zum Konzert einen Besuch abzustatten.

Der späte Lunch beim Chinesen am Queensway verläuft zwar unter extrem unhöflicher Bedienung – eigentlich möchte ich aufstehen und unverrichteter Dinge das Lokal wieder verlassen –, doch die knusprige Ente ist dafür zu lecker. Anschliessend Mittags- und Verdauungsschlaf im Hotel.

Good evening, sage ich dann später beim Einnachten zu König Albert, dessen Memorial ich vor dem Betreten der Royal Albert Hall passiere, ich soll dir von deiner Gattin Victoria Grüsse ausrichten. Dein früher Tod schmerzt sie noch heute. Ich sagte zu ihr, ich würde heute Abend in ein Konzert gehen, das in deiner Halle stattfinde, deren Einweihung du aber wegen deines allzu frühen Todes nicht mehr erleben durftest. Der König bleibt stumm. Nun gut. Mein Englisch ist auch nicht das Beste.

Die Briten bespielen ihr Konzerthaus noch heute regelmässig in einer Weise, als ob es sich um die feierliche Einweihung von 1871 handeln würde. Mit Pomp und Trara, Kanonendonner, Verstärkeranlagen, 150-köpfigem Chor, mit dem Royal Philharmonic Orchestra, mit Balletteinlagen, Laserlichtshow und Theaternebel finden sommers die Proms statt, und jetzt im Winter die nicht weniger spektakulären Classical Spectaculars. Da werden bekannte Stücke von Tschaikowski bis Verdi, von Rossini über Orff bis Puccini in bombastischer Weise zurechtgebogen, dass einem Hören und Sehen vergehen. Und als Krönung kommt zum Schluss noch die inoffizielle Nationalhymne der Briten, der erste Marsch aus Edward Elgars Pomp and Circumstance, und alle stehen dazu auf, schwingen die Fähnchen Grossbritanniens und singen den Refrain: Land of Hope and Glory, Mother of the Free, / How shall we extol thee, who are born of thee? / Wider still and wider shall thy bounds be set; / God, who made thee mighty, make thee mightier yet ... Ausgerechnet jetzt, auf dem Kulminationspunkt des Schrumpfungsprozesses des Vereinigten Königreiches, jetzt, wo sich Grossbritannien auch noch von Europa abkoppelt. Ich komme mir schon als Verräter vor, dass ich hier nicht mitmache. Nicht einmal Ergriffenheit packt mich, keine Tränen der Rührung kullern. Am ehesten ist ein mitleidiges Schmunzeln zu erkennen, das mein Gesicht durchzieht. So hoch wie jetzt scheint mir die Fallhöhe zwischen britisch-romantischem Grossmachtstreben und Realität noch nie gewesen zu sein.
Heimfahrt im Taxi: Beim Bezahlen kommt mir der Spruch wieder in die Hände, der im fortune cookie des unfreundlichen Chinesen gesteckt hatte: You will be called in to fulfill a position of high honor and responsibility. Ausgerechnet ich, der noch kaum je so glücklich bin wie jetzt in Pension, without any high honor and responsibility.