Montag, 4. September 2023

The Lonesome Cook (Serie 1)

Die Geschichten zu diesen Gerichten erschienen zu verschiedenen Zeitpunkten zum ersten Mal auf meiner Facebook-Seite

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22. Mai 2023

 Grad heute neige ich, aus eigener Betroffenheit, zur Meinung, dass besonders einsame bzw. alleinstehende Menschen gerne Bilder von Sebstgekochtem ins Netz stellen. Heute esse ich, nach Monaten, das erste Mal wieder einmal alleine zu Mittag. Es gab aufgewärmte Tagliatelle mit Salat und einem Glesli Rotwein. Und prompt griff ich zum Handy und lasse jetzt alle wissen, was ich heute gekocht habe. Ist dies Herbeilocken von Gesellschaft? Oder alle wissen lassen, dass man auch alleine genussfähig ist? Rätsel über Rätsel…

 

25. Mai 2023

Schon wieder ein Food-Bild, d.h. ich bin immer noch allein. Joan Danika weilt zur Zeit in Amsterdam und bereitet sich auf ihre Show vom kommenden Samstag vor. (Am Samstag, 17. Juni, 16 Uhr, eröffnet sie übrigens das Festival der Zürich Pride auf der Kasernenwiese.)

Schon wieder Pasta. Diesmal in der Gestalt von Ravioli mit Spinat- und Ricottafüllung (aus dem Pasta-Laden "El Cisne" beim Parque de los Hippies) Die Sauce dazu bereitete ich aus etwas Lauch und den Resten einer Peperoni zu. Köchelte das Feingeschnetzelte in Weisswein gar und reicherte es mit den wenigen durchgekochten Rindfleischresten an, die gestern nach vierstündiger Kochzeit an den Suppenknochen hängen geblieben sind (was wiederum heisst, dass es morgen eine reichhaltige Suppe geben wird und wohl ein weiteres Bild, sollte sich bis dann keine Gesellschaft einstellen, die ein Föteli erübrigen würde). Das Sösseli ergänzte ich gegen Schluss mit ein paar Kapern, etwas Petersilie und mit einem Gutsch Vollrahm.

Schon wieder ein Glas Rotwein, immer noch aus derselben Flasche vom letzten Mal. Es regnet momentan in Strömen hier in Bogotá, und ich werde mir nach der Mahlzeit ein Nickerchen gönnen.
Neu: das andere Design der Serviette und etwas Kerzenschein...
 
27. Mai 2023
Und hier ist die angekündigte Gemüsesuppe mit der vorgestern vier Stunden lang eingekochten Fleischbrühe aus Rinderknochen. Ich briet dazu noch getrocknete Brotwürfeli in Butter mit etwas Knoblauch und Petersilie an und verteilte diese über die Suppe. Nachher gab es ein paar Hödöpfeli, unter welche ich die übriggebliebene Sauce der gestrigen Ravioli mischte. Eigentlich war dazu ein Schluck Bier vorgesehen, doch der Kühlschrank gab keines her. So gab es halt Wasser. Den Salat übrigens verschob ich aufs Abendbrot, wovon es aber keine Bilder gibt, weil ich mich da in angenehmer Gesellschaft befand. Ich mache nur Essenshelgeli, wenn ich allein zugegen bin. 
 
29. Mai 2023
Serviettli-Design gewechselt. Heute mit Bier. Salm mit gerösteten Ingwer-Stäbli. In Butter und Petersilie geschwenkte Salzkartoffeln. Gemüsemischung aus dem Supermarkt, eingeköchelt mit Weißwein und indischer Gewürzmischung. Salat mit Kürbiskernen. Meine Vinaigrette ist mittlerweile stadtbekannt. Kürzlich sprach mich ein Unbekannter in einer Bar an, wann ich ihn denn einladen würde, um meine Salatsauce zu kosten… Dazu "Echo der Zeit" gehört, Erdogans Sieg u.a.m.
 
3. Juni 2023
Heute: Wienerli in Gemüsecreme-Suppe. Erinnerungen an meine früheste Kindheit bestimmten die heutige Menüwahl:
Bei uns zu Hause gab es in den 50er Jahren kaum je Fleisch. Meine berufstätige Mutter konnte es sich schlichtweg nicht leisten. Nur samstags kochte Hedy aus Köln eine Kartoffelsuppe. Sie lebte bei uns und mahnte mich stets, alles aufzuessen, was auf den Teller kommt. Die Suppe wurde jeweils mit einem Wienerli pro Person angereichert. - Diese prägenden Erfahrungen führten dazu, dass ich seit jenen Tagen kein Wienerli mehr in meinen Mund führen mochte.
Und jetzt das: bei uns um die Ecke geschäftet seit 45 Jahren der Appenzeller Metzger Koller. Seine Schüblinge, Frankfurterli, Lioneser Redli und Weisswürste sind in ganz Bogotá Legende. Als ich mich heute früh entschloss, die Resten der Gemüsesuppe aufzuwärmen, kamen mir diese Kindheitserinnerungen hoch, und ich entschloss mich, die Suppe mit ein paar Kartoffeln und zwei Wienerli anzureichern. Bevor ich jedoch die Würstchen in der Suppe heiss machte, mixte ich das Gemüse mit den weichgekochten Kartoffeln klein.
Irgendwie schmeckte mir das Ganze noch nicht so ganz. Deshalb fügte ich noch einen Schuss Vollrahm hinzu und würzte mit einigen Kapern, die im Verlauf meines Lebens hier in Kolumbien zu einem festen Bestandteil der Speisenverfeinerung wurden.
Nun gut, wie schon Hedy einforderte, ass ich brav den ganzen Teller auf, aber ich glaube nicht, dass ich mir in meinem Restleben nochmals Wienerli antun werde. Sie sind im Geschmack zu eindimensional. Die Suppe hätte ohne dieses Fleisch wesentlich besser geschmeckt...
  
6. Juni 2023  

Dazu folgendes: Ich werde ja hier in Kolumbien des öfteren um Darlehen und Unterstützung angegangen. Doch momentan verunmöglicht es mir meine angespannte Finanzlage, darauf einzugehen, was für mich insofern erleichternd ist, als ich nicht irgendeinen Vorwand brauche, um das Begehren abzulehnen. Was ich aber im Gespräch oder über Whatsapp immer hinzufüge: du kannst bei uns vorbeikommen. Etwas zu essen gibt es bei uns immer. Zu diesem Behufe halte ich im Tiefgefrierer stets ein paar Portionen Böhnli bereit, im Dampfkochtopf an einer Tomatensauce cremig zubereitet und mit ein paar Rüeblistückli verfeinert.
Heute wollte Jaime von meinem Angebot Gebrauch machen, nachdem ich ihm den Wunsch nicht erfüllen konnte, sein nächstes Semester an der Uni finanziell zu ermöglichen. Es passte mir insofern in den Kram, als dass in der vergangenen Nacht für ein paar Stunden wieder einmal der Strom ausgefallen ist, und die im Tiefgefrierer gelagerten Speisen schon am Auftauen waren. Doch dann meldete sich Jaime ab (für ein Handy reicht meistens das Geld dann doch), und jetzt gibt es halt ein weiteres Mal ein Lonesome-Essensbild. Ich raffelte dazu eine Kartoffel fein und röstete sie in etwas Oel. Das Resultat war eine knusprige Waffel. Eigentlich bereitete ich zwei Waffeln zu, doch die erste ass ich noch vor dem Auftischen auf, so fein schmeckte sie. Dazu wie üblich etwas Salat, diesmal mit gekochten Randen angereichert. Ich würzte sie vorgestern beim Kochen mit etwas Kümmel. Der gibt ihnen eine besondere Note.
 
9. Juni 2023
Seit ich unsere Katze namens CUAL einem gewissen Abmagerungs-Regime unterziehe, streicht sie unentwegt um die Töpfe und kann nicht verstehen, wie jemand vegetarisch glücklich werden kann. Parat zum Naschen wäre sie schon...
Heute mischte ich den Saft der übrig gebliebenen Randen in die Resten von Reis und briet das Ganze etwas an. Der Kümmel, den ich den Randen zum Kochen beigegeben hatte, entfaltete plötzlich seinen zweiten Frühling und duftete herrlich über den ganze Reis hinweg. Dazu gab es grüne Bohnen, gewürzt mit wunderbarem Bohnenkraut, das mir Flurin Capaul vor schon bald zwei Jahren anlässlich einem meiner Zürich-Besuche geschenkt hat. Erst später fiel mir ein, dass ich über den Reis noch etwas Parmesan hätte streuen können. Sei's drum. Weg ist weg. Und nun leert sich langsam der Kühlschrank, während ich den bereits abgestaubten Koffer bereitstelle, um ihn allmählich für meine Reise nach Europa mit ein paar Habseligkeiten zu füllen. Nur mit wenigen, es soll ja dort Sommer sein.
 
13. Juni 2023
In Vorwegnahme des Lounge-Feelings heute Abend auf dem Flughafen El Dorado in Bogotá genehmigte ich mir heute Mittag bereits einen Gin Tonic. Dazu bereitete ich zu und ass ich, was der Kühlschrank noch hergab, denn dort aufbewahren an Verdeblichem wollte ich nichts nach der Erfahrung der vielen Stromausfälle in letzter Zeit. Also, da fand ich ein einsames Tomätli, dem ich die Rolle eines Salats zukommenliess. Dann wärmte ich den Rest der grünen Bohnen auf und bereitete zum zweiten Mal krokante Waffeln aus geraffelten Kartoffeln zu. Herzstück des Mittagsmahls war allerdings eine schlaffe Karotte und eine angeschnittene, halbe Zwiebel, die keine Lust mehr verspürte, meine Augen zu reizen. Ich röstete dieses Gemüse und legte noch ein paar Scheiben Ingwer hinzu. Des weiteren fand ich im Fach schon arg angegrauten Blattspinat, den ich wusch, kleinschnitt und unter Entfernung allzu unappetitlicher Blätter der Bratpfanne beifügte. Ein hart gekochtes Ei, in Stückchen geschnitten, wurde als Krone obenauf gesetzt. Ich muss sagen, alles schmeckte wie frisch. Als Dessert, und darauf hätte ich im Nachhinein gerne verzichtet, meinte ich, das Mandarinen-Eis noch aufbrauchen zu müssen. Es litt am meisten unter den Stromausfällen, wurde zweimal wässrig und dann wieder steinhart. Das ginge ja alles noch, aber ich wette mit jedem, der will, dass dieses Eis noch nie in Berührung mit einer Mandarine gekommen ist. Beim Verspeisen kamen mir meine Velofahrten in den Sinn, die ich vor bald 40 Jahren von Schwamendingen aus unternahm, und die mich oft genug zum Greifensee über Dübendorf führten, wo aus den Fabrikanlagen von Givaudan Tag für Tag andere Düfte entstiegen und Nase und Gaumen schmeichelten. Ich bin sicher, Mandarinen-Aroma war auch darunter... 
 
24. Juli 2023
Kaum zurück in Bogotá und bevor noch alle Koffer ausgepackt waren, habe ich rote Böhnchen in Wasser eingeweicht. Ich musste nach einigen Rotweintouren und nach ausgiebigem Rotfleischkonsum (natürlich an erster Stelle Kalbsläberli und Röschti) in der Schweiz und in Deutschland dringend etwas gegen meine schmerzhafte Gicht unternehmen. Die krummen Hände taten mir von Tag zu Tag mehr weh, zuweilen weckten sie mich sogar des Nachts und liessen mich nicht weiterschlafen.
Also kochte ich am folgenden Tag Böhnchen auf Vorrat, damit die Zufuhr von Proteinen ohne Fleisch für eine Weile gewährleistet war. Gestern mixte ich dann einen Teil davon und machte einen Aufstrich für Tacos. Doch soviel Tacos konnten wir gar nicht essen, um den Aufstrich zu bodigen. Als heute früh herauskam, dass ich die Serie THE LONESOME COOK fortsetzen muss, bereitete ich mir etwas Pasta zu und mischte den "Aufstrich", verfeinert mit Butter und Currypulver, als Sauce darunter. Darüber etwas Reibkäse Typus Parmesan, den man ja hier neuerdings nicht mehr so nennen darf, weil nur noch der Original-Parmesan aus Norditalien als Parmesan durchgeht, und meiner ist kolumbianischer P... aus der Molkerei Alpina in Sopó...
Dazu Salat. Obendrauf ein paar in Essig und Zuckerwasser eingeweichte Zwiebelringe. Und KEINEN Wein. Auch KEIN Bier. Die Fingergelenke verdanken es schon ein bisschen, weil ich bereits die Tage zuvor vegetarisch und alkoholfrei unterwegs war. Sie schmerzen jetzt nur noch bis zum Einschlafen. Dann ist Ruhe.
 
3. September 2023
Am vergangenen Sonntag stellte ich mich darauf ein, allein zu Mittag zu essen, weil mein Schätzeli ankündigte, über Nacht in einer Bar hinter der Theke noch ein paar zusätzliche Pesos zu verdienen und deshalb den Sonntag fürs Ausschlafen reservierte.
Ich kochte am Vorabend Linsen (mit den Resten einer seit Tagen vor sich hindarbenden Gemüsesuppe) und den im Kühlschrank schlaff gewordenen Mangold (zuerst bräunte ich ein paar Knoblauchzehen an, dann schüttete ich den verkleinerten und vom Waschen nur schlecht abgetropften Mangold ins heisse Olivenöl, dass es spritzte). Kochzeit für beides: ca. 45 Min. Auch Kartöffelchen kochte ich am Vorabend auf Vorrat weich, und zur Krönung von das Ganze lag eine Tranche Forelle im Kühlschrank bereit. So sollte das Fertigkochen tagsdarauf keine Mühe bereiten.
Am Sonntag dann schwenkte ich bereits die geschälten Kartoffeln in den glänzig angebratenen Zwiebeln, als mein Schätzeli überraschenderweise doch auftauchte. Bevor es mir erzählen konnte, was der Hintergrund seines frühen Erscheinens war, unterbrach ich eilfertig meine Kocherei und rannte schnell zum Supermarkt, um ein zweites Forellen-Filet zu erstehen. Und wie immer regte ich mich dann beim Warten an der Kasse über die in die Länge ziehende Behäbigkeit der Kunden vor mir auf, die nach Kleingeld in ihrem Portemonnaie kramten und dabei noch einen Schwatz mit der Kassiererin abhielten, um die Zeit etwas auszufüllen und ihr Defizit an Kommunikation etwas zu verkleinern.
Zurück vom Notkauf wärmte ich Linsen und Mangold auf und setzte das Anbraten der Kartoffeln fort. Ganz zum Schluss waren dann die beiden Fischfilets dran, gewürzt mit etwas Estragon.
Im Supermarkt entdeckte ich übrigens gelbe Zitronen, die hier sonst eher selten anzutreffen sind. In Kolumbien werden zum Kochen als auch für die Limonade normalerweise die einheimischen, kugeligen, grünen Limetten verwendet.
Für eine anständige Tischdekoration allerdings reichten weder Zeit noch Energie. Doch die Anwesenheit meines überraschenden Herzbesuchs tauchte alles in appetitliches Licht. Servietten brauchte es dazu nicht.
Dazu gab es noch Salat und für mich ein Bierchen. (Danke, die Gicht ist unter Kontrolle...)
 
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©Nikolaus Wyss
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Sonntag, 27. August 2023

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 7) - Bruchstücke ohne Jahresangabe

Mit Mutzi, ca. 1960
10. Juli
    Meine Ratlosigkeit beim Anblick eines halbtoten Vogels, welchen unsere Königin geschnappt und malträtiert hat. Jetzt liegt er zitternd am Boden und die junge Katze ist sowas von stolz. Auf den finalen Biss allerdings hat sie keine Lust. Muss ich jetzt die Tat selber vollziehen?  Wie macht man sowas?
    Feige verziehe ich mich für eine Weile und überlege, was zu tun sei und ob überhaupt etwas zu tun sei. Ich erinnere mich an meine Jugendzeit an der Winkelwiese, wo Mutzi zu wiederholten Malen halbtote Amseln heimbrachte und sie uns stolz präsentierte. Meine Mutter hielt dafür eine mit Stroh ausstaffierte Schuhschachtel bereit, um den erschöpften Tieren Unterschlupf zu bieten. Nach ein paar Stunden oder nach der ersten Nacht starben sie aber jeweils weg. So auch hier: Als ich nach einer Stunde nachschaute, war der Vogel tot, und ich schickte mich an, den Körper in eine Plastiktüte einzuwickeln und zu entsorgen. Die Federn wischte ich auf, während mich die Katze dabei ganz genau beobachtete. Ich tröstete mich beim Gedanken, dies sei halt die Natur, mich gehe es nichts an. 

 

13. September

    Was die Gründung der Kunsthalle Zürich angeht, so ist das damals wohl der Initiative des Kunstmalers Thomas Müllenbach zu verdanken. Ich war zu dieser Zeit Thomas’ Nachbar in Schwamendingen, und weil ich damals schon bei einigen Initiativen und Gründungen mitgemacht und sie z.T. auch angestossen hatte, fragte er mich, wie man sowas denn anstelle. Da habe ich ihm dabei geholfen, wobei das Glück insofern mitspielte, als Kunstsammler und Rechtsanwalt Peter Bosshard selig damals für seine einzigartige Sammlung in Rapperswil Müllenbach-Bilder kaufte und so des öfteren, zusammen mit seiner Frau Elisabeth, an der Hüttenkopfstrasse 12 auftauchte. Er zeigte in seiner besonnenen und schon fast zögerlichen Art Interesse und rutschte, weil er nicht definitiv nein sagte, eigentlich wie von selbst ins Vorhaben rein. Das einzige Problem bei ihm bestand in seiner limitierten Verfügbarkeit. Bosshard entwarf beispielsweise die Statuten, aber er liess dazu einen um den anderen Termin verstreichen und kabelte Entschuldigungen aus Übersee. Ich wunderte mich auch, wie viel er in diesem dann doch endlich vorliegenden, aber doch eher schludrig verfassten Dokument offen liess und der wilden Interpretation anheimstellte. Doch man liess sich von der Gewissheit leiten, dass auch präziser verfasste Statuten zu Streitereien führen, und man traute ihm als brillanten Juristen zu, allfällige Unklarheiten in Verhandlungen und mit spitzer Zunge im Interesse der Kunsthalle zu lösen. In diesen Statuten, eventuell auch im Gründungsprotokoll, sollte man nachlesen können, wie damals die Gründung einer Kunsthalle Zürich begründet wurde. Mir liegen hier in der Ferne diese Dokumente nicht vor.
    Inhaltlich ging es wohl darum, einen Kunstraum zu schaffen, wo sich zeitgenössische Kunst entfalten konnte, ich glaube aber, auch Lokalstolz und Prestigedenken spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn auch ohne Kunsthalle hätte es ja in Zürich eigentlich schon genügend Entfaltungsmöglichkeiten für aktuelle Kunst gegeben (von der Roten Fabrik übers Helmhaus, den Strauhof bis zu den Ausstellungen in Oerlikon). Es war wohl eher so, dass das viel kleinere Bern seit langem schon eine Kunsthalle hatte (seit 1918) und das nicht viel grössere Basel auch (seit 1872), beide verknüpft mit Ausstellungen namhafter Künstler und reputierter Kuratoren. Bern profitierte immer noch vom Ruf Franz Meyers und Harry Szeemanns, und in Basel wirkte zu jener Zeit Jean-Christophe Ammann. Da kam sich der von Bonn zugezogene Müllenbach im viel grösseren Zürich doch etwas einsam und provinziell vor, zumal er seine liebe Mühe hatte mit dem damaligen, eher konventionell orientierten Kunsthaus-Direktor Felix Baumann. Ich glaube also, Kulturpolitisches und der Städtevergleich waren durchaus auch Treiber des Vorhabens. - Denn welcher Art diese zur Ausstellung gebrachte Kunst in Zürich sein sollte, war in meiner Erinnerung kein Thema im Vereinsvorstand. Die Wahl des Kurators und dessen Definitionsmacht, was und welche Künstler in eine Kunsthalle ausgestellt gehören, genügte. War anfangs auch nicht so von grosser Bedeutung, war der Verein ja vorerst ambulant unterwegs und bespielte verschiedene Räume mit grossen Pausen dazwischen und grossen Geldsorgen auch. - Gut erinnere ich mich an meine sonntäglichen Hütedienste am Steinwiesplatz.
    Sobald sich eine Konkretisierung einer Ausstellungsstätte und die Festanstellung von Mendes Bürgi sich abzeichnete, verabschiedete ich mich von der Kunsthalle…
    Ich freute mich natürlich riesig, dass irgendwann später Daniel Baumann die Leitung der Kunsthalle Zürich übernehmen konnte. Ich durfte nämlich vor nunmehr 54 Jahren bei ihm das Amt eines Göttis übernehmen. Er sieht heute fast noch so jung aus wie damals, als wir zusammen eine Reise nach Paris unternahmen. Damals sammelte er CocaCola-Flaschen unterschiedlichster Herkunft...
 

Rätselhafte Jahre

4. Mai
    Das unvollständige Datum: Zu ihrer Zeit als Redaktorin benutzte meine Mutter fürs Briefeschreiben meistens die Schreibmaschine. Ich nehme an, sie schrieb diese im Büro. Es waren fast immer A5-Blätter. Im Pensionsalter wechselte sie dann zur Handschrift. Dadurch wurden ihre Briefe unlesbarer.
    Aus der Distanz von Jahrzehnten beschäftigt mich allerdings etwas Anderes: Ich kann ihre Briefe nur sehr ungenau einem bestimmten Jahr zuordnen. Ob einer aus dem Jahre 1975 stammt oder aus 1981 erschliesst sich erst aus dem Kontext, und auch dieser ist nicht immer eindeutig. Es scheint, als ob sie ihren Briefen keine historische Bedeutung beigemessen hätte. Wäre die Nennung des Jahres für sie mit zu viel Pathos verbunden gewesen? Sie schrieb ganz aus dem Moment und für den Moment. Die Inhalte bezogen sich auf die letzten Begegnungen und auf die Zweifel und Erfolge ihres Sohnes. Und sie beinhalteten Klatsch über Verwandte, Freunde und Bekannte jetzt, am 14. September oder am 19. Oktober. Das hatte zu genügen.
Konnte sie sich überhaupt vorstellen, dass ich ihre Briefe aufbewahrte, sei es aus Respekt oder weil sie mir tatsächlich etwas bedeuteten, oder weil ich mir vornahm, sie später wieder einmal zu lesen, dann, wenn sie vielleicht schon tot sein würde? 
    Bei mir lagen die Briefe bis zu deren Ablieferung ins Schweizerische Literaturarchiv in Bern stossweise und ungeordnet in Schachteln herum. Gedacht für später. Traf dieses Später je einmal ein? Meine Mutter ist jetzt immerhin schon seit über 20 Jahren tot. 
    Ja, ich las einige davon nochmals vor ihrem Verschwinden im Archiv. Nicht systematisch und wissenschaftlich, sondern nach dem Zufallsprinzip. Wühlen, hervorklauben, lesen, wieder weglegen, weiter wühlen, innehalten, sich erinnern, sich ein paar Gedanken dazu machen, etwas schreiben, weiter wühlen, übergehen, erschöpft liegen lassen, noch einmal lesen, fantasieren, rot werden…
    Nun werden die Briefe im Lager nur noch mit weissen Handschuhen angefasst, Vorstufe zum Heiligen. Bern liegt fern.

17. Mai
    Schweizer Nationalcircus Knie auf dem Zürcher Sechseläuteplatz Zürich. Ich ergatterte gestern noch den letzten der 1500 Sitzplätze. Sass bei der Abschrankung zum Orchester und überblickte nur die Hälfte der Manege, bekam aber mit, wie ein herumfliegender Papagei sich in den Schnüren, die vom Chapiteau herunterhingen, verhedderte und vor unseren Augen abstürzte.
    Das Orchester hatte eine Art Weichspüler vorgeschaltet. Die Bässe dröhnten zwar überlaut, doch im mittleren und oberen Klangbereich vermisste ich Brillanz und Intonationsschärfe. Lag vielleicht daran, dass da gar keine Bläser mehr im Einsatz waren. Der Sound kam aus der Konserve, ergänzt mit einem Schlagzeuger und einem Mann an der Gitarre. Das Mischpult generierte zum grössten Teil diese  Konservenmusik. Daran änderte auch der Harlekin nichts mit seinen gelegentlichen Saxophon-Einsätzen aus dem Publikum zum Heraufbeschwören alter romantischer Zeiten. Hätten sie doch zur Erinnerung ein paar Löwen, Zebras, Elefanten und Dromedars in die Manege gebracht. Doch nur noch gerade Pferde dürfen an den klassischen Zirkus erinnern. In Zürich liegt sogar eine parlamentarische Motion auf dem Tisch, in Zukunft dem Zirkus sämtliche Tiere zu verbieten... 
    Zum Schluss des Abends die Übergabe an die 159. Knie-Generation. Dieser Moment war insofern bemerkenswert, als ich meinte, einem historischen Akt beizuwohnen. Fakt aber ist, dass in jeder Aufführung diese Übergabe stattfindet, als Teil des Programms. 288mal oder so. Mit meinen Tränen der Rührung fiel ich auf die Einmaligkeit des Ereignisses total herein. 

1. Juni

    Es ist so, als ob ich mich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten dem unvermeidlichen Ende nähere. Da ist mein Körper, der mit seinen Falten und seiner unappetitlichen Schwabbeligkeit schon resigniert hat, mit seinen Schmerzen und seiner Unbeweglichkeit mir deutlich zu verstehen gibt, dass ich jetzt im letzten Abschnitt meines Lebens angekommen bin. Er nimmt das unabwendbare Schicksal hin und lebt mir vor, was jetzt noch ansteht. Er verwandelt meine Gestalt in eine lächerliche Figur, die zuweilen froh wäre, abtreten zu können. Ich sage mir, zieh doch wenigstens deinen Bauch ein, und ich bedaure, meinem Körper nicht mehr Unterhalt zukommen gelassen zu haben.
    Ganz anders aber mein Geist, der immer noch von Liebesnächten und anderweitigem Erfolg träumt, vom Durchbruch dorthin, wo der Honig fliesst und stets genug Geld vorhanden ist, um mir jede Köstlichkeit zu leisten, genug Anerkennung, von allen wohlwollend beachtet zu werden. Wo ich umgeben bin von dienstfertigen, attraktiven Menschen, die mir alle Wünsche von den Lippen lesen und diese alsogleich umsetzen in Tat.
    Noch bevor andere über meine Unverbesserlichkeit lachen, sperre ich meine Gedanken in den Giftschrank, betrachte sie durchs Glas und sollte froh sein, den Schlüssel verlegt zu haben. Nur nachts in meinen Träumen finde ich ihn, öffne die Tür, nehme sie heraus, schmücke mich damit von Kopf bis Fuss. Und siehe da, wer steht hier vor dem Spiegel? Ein alter Mann, glücklich und dankbar.
    Nicht immer, leider, vermag ich mich an die Träume der vergangenen Nacht erinnern. 

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©Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 5. Juli 2023

Ein Tag im Leben von Danika/Lomaasbello

 
"Auch wenn bei mir in Kolumbien jeder Tag anders aussieht, er beginnt stets mit dem Trinken von ganz viel Wasser. Es macht mich munter und schwemmt die nicht immer angenehmen Träume der vorausgegangenen Nacht weg. Auch frische Früchte und eine Arepa, eine Art gerösteter Maisfladen, gehören zum Start in den Tag. Dazu werfe ich einen Blick auf diverse Newsportale, die meistens von Mord und Totschlag in unserem Land berichten, was einen deprimieren könnte, wenn man nicht schon von Kindesbeinen an daran gewöhnt wäre.

Ich bin Afrokolumbianerin und wuchs unter ärmlichen Bedingungen in der pazifischen Hafenstadt Buenaventura auf. Die Gegend dort gehört zu den stark vernachlässigten Regionen Kolumbiens und ist geprägt von Auseinandersetzungen zwischen Drogenbanden, Militär, Guerilla und Paramilitärs.
In diesem Milieu fiel ich schon früh auf, ich passte nicht ins Mann-Frau-Schema. Ich spielte zwar Streiche, wie Jungs es tun, aber ich interessierte mich auch für Puppen und Kleider. Für die Familie war ich ein nicht zuordnungsbarer Exot. Mit neunundzwanzig Jahren reifte endlich mein Entschluss, offen das Leben einer Transfrau zu führen. Sicher half mir dabei die Möglichkeit, mich auch künstlerisch mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Für mich sind Sex, wovon einige meiner Songs ganz explizit handeln, Geschlechterprovokation, Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung sowie der Einsatz für Chancengleichheit und Respekt auf derselben Ebene angesiedelt – es sind für mich ebenbürtige Themen. Solange sie Faktoren der Unterdrückung und der Ausbeutung sind, gehören sie angesprochen, angeprangert und diskutiert; das bin ich meiner Herkunft schuldig.
Kommt hinzu, dass ich Fan von vulgären Inhalten bin, von solchen, die in breiten Kreisen tabuisiert sind. Vor allem amerikanische Performerinnen wie Nicki Minaj, Cardi B, Megan Thee Stallion und City Girls haben es mir angetan, ich kann alle ihre Trap-Songs auswendig.
Eines Tages ermutigte mich Nikolaus, mit dem ich seit sieben Jahren hier in Bogotá zusammenlebe und der für mich jetzt auch das hier Gesagte auf Deutsch aufschreibt, selbst Songs zu komponieren und davon Videos zu machen. So bin ich allmählich ins Showgeschäft gerutscht und werde jetzt hier in Kolumbien als «aufstrebende Künstlerin» gehandelt. Ich nehme an Talkshows im Fernsehen teil, leite Workshops und bin auch schon für einen Spielfilm engagiert worden.
Leider ist das grosse Geld noch nicht eingetroffen, und ich teile damit das harte Schicksal vieler meiner Landsleute. Wir alle versuchen, etwas Geld zu verdienen, das so ungerecht und ungleich verteilt ist in diesem Land.
Teil meiner Performances und meiner Videos sind auch meine selbst angefertigten Kleider. Sie gelten als Blickfang. Ich habe immerhin mal Fashion Design studiert und in diesem Beruf auch ein paar Jahre lang gearbeitet, nachdem mir an der Universität klar geworden war, dass Betriebswirtschaft nicht so mein Ding ist. Während ich für meine Auftritte neue Outfits nähe, gucke ich mir gerne eine Folge der bekloppten amerikanischen «RuPaul’s Drag Race»-Show an.
Meine Songs entwickeln sich meistens von einem Rhythmusteppich aus, den ich jeweils von verschiedenen Produzenten zugeschickt bekomme. Einige davon inspirieren mich zu Versen. Gerne texte ich auf «Spanglisch», eine Art lyrische Transversion. Mit diesem Material gehe ich dann zu Juan Conde, meinem Musikproduzenten, wo wir in langen Sessions alles zusammenfügen. Ich bin gespannt, was das Zürcher Publikum dazu meint.
Ich bin aber auch gespannt auf Zürigschnätzlets mit Rösti. Ist es hier so gut wie das von Nikolaus, das er in Bogotá zu besonderen Gelegenheiten zubereitet?"
 
Publiziert im DAS MAGAZIN vom 17. Juni 2023 in der Rubrik "Ein Tag im Leben von", diesmal von Danika / Lomaasbello
 
©Nikolaus Wyss
 
 
... und vielleicht besonders erwähnenswert in obigem Zusammenhang:
 


 

Montag, 12. Juni 2023

Quak Quak - Aus dem Notizbuch einer Ente

 

[Dieser Text erschien am Donnerstag, 19. September 1991, auf der Seite "Alltag" im Tages-Anzeiger. Und ich frage mich, ob heute, im Sommer 2023, das Parkgeschehen von Daisy Guck noch ähnlich geschildert würde wie damals.]  

    Wir Enten haben nur ein beschränktes Verhaltensrepertoire. Wir quaken bloss, wo immer wir uns befinden: in der Luft, an Land und im Wasser. Und anders als watscheln, paddeln oder fliegen können wir auch nicht. Unsere Handlungen werden einzig von Appetit, Sicherheitsbedürfnis und anständiger Erziehung unserer Brut geleitet. Letzterem gewinne ich Vergnügen ab. Denn ich bekomme, wenn ich mit meinen kleinen Tolpatschen im Schlepptau spaziere, von allen Passanten regelmässig grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Dann wedle ich stolz mit meinem Federschwänzchen. Sonst aber wüsste ich nicht, was es über uns im Park Spezielles zu berichten gäbe.

Gute Luft am Morgen

    Für mich ist der Park Alltag und nicht selten stressig genug. Nun gut, sagte ich mir - da ich sowieso in der Gegend bin, kann ich ja der Anfrage nachkommen. So reportiere ich jetzt als Sonderkorrespondentin über 24 Stunden im "Arboretum". So nennen die Leute die Grünzone vor dem Mythenquai und der Rentenanstalt.

    Beginnen wir doch mit dem frühen Morgen. Es ist der Moment, wo der Tau die Nacht endlich aufgeweicht hat. Der neue Tag darf frisch beginnen. Diese Läuterung geschieht in erhebender Stille, in die hinein mit einem Schlag die Vögel zu singen beginnen. Menschen? Selten selten. Es gibt welche, die um diese Zeit vorbeihuschen, doch sie streben heimzu nach einer überhockten Nacht. Für sie ist der Park nur Durchgangsweg. In diese wenigen Passanten mischen sich allenfalls andere, die, wenn's nicht in Strömen regnet, in aller Herrgottsfrühe joggen oder mit dem Fahrrad unterwegs sind. Doch niemand lässt sich jetzt im Park nieder. Die Bänklein sind feucht, die Wiese ist nass. Gleichwohl habe ich bei diesen Frühaufstehern den Eindruck, dass sie die Atmosphäre des Parkes schätzen. Sie atmen die um diese Zeit noch mit wenig Schadstoffen belastete Luft genussvoll ein.

Performance für Tanten

    Später, wenn die Geräusche von der Strasse her schon ohrenfälliger werden und der Tag unaufhaltsam sein Herrschaft entfaltet, wird die Parkruhe oft von einer herumhäckelnden Gärtnerbrigade gestört, und das Geschrei meiner eingesperrten Kollegen drüben in der Volière gibt an, dass jetzt wohl ihr Onkel Oberaufseher mit den Körnern unterwegs ist. Gut, manchmal beneide ich sie, wenn sie gratis und franko ihren Frass vorgesetzt bekommen, während wir uns für unsere Nahrung Tag für Tag abrackern müssen.

    Doch auch wir werden ab und zu verwöhnt. Es gibt da so ein paar ältere Damen, die uns regelmässig aufsuchen und altes Brot aus ihren Papiertüten schütten. Mir ist das natürlich recht. Zum Dank veranstalten wir Enten dann im Einklang mit den Möven, Schwänen, Taucherlis und anderen Nutzniessern ein Spektakel mit viel Geschrei, Geschwadder und Streit. Ich glaube, diese Performance gefällt den Tanten. Wir bestätigen ihnen damit, dass sie die einzigen Barmherzigen sind, die sich in dieser grausamen Welt noch um uns armen, hungernden Tierchen kümmern. - Ein Tante übrigens hat sich vorne beim Touristenkiosk vorgeblich aufs Füttern von Spatzen spezialisiert, doch sie richtet es so ein, dass ihr ab und zu Brocken vor die Füsse fallen. Darauf wagt sich unsere Kunhilde, eine weisse Ratte, aus ihrem Versteck vor und stiehlt das Fallengelassene weg. Das ist die Zirkusnummer der beiden,  und all die Fremden, die dort aus den Bussen steigen, schreien dann entsetzt auf und zücken gleichzeitig die Kameras.

Territorium besetzen

    Wir Enten haben ein feines Gespür für Reviere. So entgeht es meinen Beobachtungen nicht, dass auch die Menschen, die uns tagsüber besuchen kommen und im Park verweilen, ihr Territorien beanspruchen. Sie wählen sie so, dass sie während der Dauer des Aufenthaltes relativ sicher und ungestört bleiben. Die Bänklein werden dementsprechend zunächst einzelweise besetzt, und es braucht schon gehörigen Druck, dass jemand Unbekannter sich auf ein schon besetztes Bänklein niederlässt.

    Ähnliches ist auf der Wiese zu beobachten, wo sich jeden Tag von neuem Territorien herausbilden. Manche Menschen betonen das mit einem ganzen Equipment von Sportgegenständen wie Bällen, Netzen, Krickettoren, Decken und Taschen. Andere ziehen ihre Grenzen mit raumgreifenden Handlungen wie zum Beispiel dem Ball- oder dem Frisbeespiel. Jeder Platzauftritt und jede Vereinnahmung von Raum ist eine Geschichte für sich und ersetzt Romane. Ich beobachte oft Leute, die zwar noch in ihr Buch starren, ihre Aufmerksamkeit aber schon längst  den Abläufen im Park schenken.

    Ist das Terrain erst einmal besetzt, so verlangt das ungeschriebene Parkgesetz in alttestamentarischer Weise, dass sich die Späteren halt einen anderen Ort suchen müssen. Basta.

Die Unterschiede

   Ich kenne mich in den Unterschieden menschlicher Rassen und Kulturen zwar nicht so aus, aber mir fällt auf, wie Leute mit Schlitzaugen untereinander anderen Umgang pflegen als etwa Schwarzfarbige oder solche, bei denen die Männer noch bei in der grössten Sommerhitze einen Hut tragen. Aus aller Welt sind sie da, und alle sind sie eigen, nehmen unterschiedliche Distanzen zueinander ein, berühren sich häufig oder bleiben körperlich sehr distanziert, sind laut oder leise.

    Und dann die Spaziergänger aller Art! Die Rollstuhl- und Buggiegängigkeit der Wege führt dazu, dass sowohl ältere Menschen als auch die Jüngsten keine verschwindende Minderheiten sind.  Und immer wieder durchqueren Leute zu Fuss oder mit dem Velo den Park mit einem anderen Ziel vor Augen. Sie gewinnen dem erholsamen Aufenthalt keinen Reiz ab. Vielleicht haben sie zu Hause einen eigenen Park, oder sie haben Wichtigeres im Sinn als schieres Faulenzen. Sie signalisieren, dass sie zur Zeit nicht wie die einfachen Parkbesucher auf öffentliches Grün angewiesen sind. So kann in herrlicher Umgebung mit feinen Unterschieden gespielt werden. Kennen wir Enten ja alles auch.

Ohne Menschen kein Park

    Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang, dass erst die Leute den Park zu dem machen, was er ist.  Wie sie ihn abschreiten, wie sie ihn nutzen, wie sie andere Menschen zu irgendwelchen Massnahmen veranlassen. Ihr Gehabe definiert immer auch gleich den Sinn und Zweck der Umgebung. In ihren Verhaltensweisen kommt ein Anspruch an diese Umgebung zum Ausdruck. Sie kontrollieren , indem sie sich selber auf eine bestimmte Art geben. Sie setzen Standards, wie es hier sein soll. Selbst die Provokation mit nackten Körpern oder mit Musikmachen verfolgt denselben Zweck. Sie ist ein Kampfmittel für die stimmungsmässige Beherrschung des Territoriums.

    Für mich als Langzeitbeobachterin am interessantesten ist aber, dass dieser Anspruch temporär ist, befristet auf die Anwesenheit der entsprechenden Leute. Sobald die fütternden Tanten, die Mütter mit ihren Kindern, die ballspielenden Buben, die sonnenbadenden Nixen, die Rentner und die Pärchen sich verzogen haben, treten andere auf den Plan, die jetzt den Park für ihre eigenen Anliegen neu definieren. So bekommt die Bedeutung des Parks im Lichte der Dämmerung eine andere Färbung. Jetzt betreten Menschen die Wiesen, mit denen die anderen Parkbesucher wohl nichts am Hut haben. Wir bekommen dann nämlich Besuch von Männern, die andere Männer suchen. Im fahlen Schein der Laterne drehen sie ihre Runden, manche von ihnen fast so schön und aufgeplustert wie unsere eigenen Männchen, und manchmal verziehen sie sich auch ins Gebüsch. Mir sind diese Parkbesucher nicht unangenehm, sie belästigen weder Frauen noch Enten.

    Doch noch lieber ist mir die Zeit spät nach Mitternacht, wenn der Scheinwerfer auf die mächtige HängebucheFagus silvatica pendula, so das belehrende Schildchen, längst ausgeschaltet ist und die Frequenz der Besucher und Passanten rapide abgenommen hat. Es ist die Zeit, in welcher zuweilen aufregende Überfälle passieren, die Polizei schon mal in die Büsche leuchtet, müde Rucksacktouristen ihren Schlafsack ausrollen und die Ratten ihr Reinigungswerk beginnen. Ich weiss wirklich nicht, wieviel Geld sie Dank der Ratten beim Abfuhrwesen sparen. Ich meine nur, mit dem Ersparten sollten endlich einmal Ratten gezüchtet werden, die auch Papierchen, Zigarettenstummel und Plastikfolien fressen.

    Aufs Ganze gesehen, auf diese 24 Stunden, sehr geehrte Redaktion, scheint mir dieser Park gut genutzt und dank kräftiger Durchmischung der menschlichen Population sozial gesund. Ich muss zwar für meinen Geschmack etwas zuviel Zeit im sicheren Wasser verbringen, weil besonders im warmen Sommer oder bei Vollmond die Geschäftigkeit der Menschen überbordet. Doch ich sage mir immer, der nächste Winter kommt bestimmt, und dann haben wir endlich wieder Ruhe.

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© Nikolaus Wyss

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Freitag, 19. Mai 2023

"Geht nicht. Ich bin dann schon weg"


    Dieses kleine Porträt schreibe ich von einem seitlichen Blickwinkel aus. Nicht von vorn und auch nicht von oben oder von unten, und auch nicht von ganz nah. Sondern eben von der Seite - aus einer gewissen Distanz. Denn die Person, um die es sich hier handelt, war nicht mit mir, sondern mit meiner besten Freundin, einer Fotografin, befreundet. Ich stiess einfach manchmal und zufällig dazu, wenn sich die beiden im Nachbarhaus trafen. So lernte ich sie kennen. Eine distanzierte Frau, die sich abwendend auf die Wange küssen liess. Sie hätte wohl niemals zugegeben, der Liebe oder Zuneigung zu bedürfen. Im Gegenteil. Doch ihr abweisendes Gehabe schien mir eine andere Geschichte zu erzählen, nämlich die einer verletzlichen Frau, die vermutlich gern einen Partner gehabt hätte. Vielleicht hatte sie ab und zu auch einen. Doch irgendwie schien es auf die Dauer nie ganz zu klappen. Ich fragte mich, ob sich die Partner von ihr wegen ihres reservierten Verhaltens abwendeten, oder ob ihr reserviertes Verhalten das Resultat einiger Enttäuschungen war. Sie trug ihre Verletzlichkeit in der Gestalt eines Harnischs vor sich her. Diese Frau, sie hiess Huguette, Huguette Maier, gab mir stets das Gefühl, es sei schon eine zuvorkommende Geste, von ihr überhaupt wahrgenommen zu werden. Und es war ein unschätzbares Geschenk, nicht nur als Störfaktor zu gelten.

    Sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und vertrat für Europa und die Schweiz vornehme, internationale Marken der Kosmetikbranche. Vermutlich war sie eine strenge Chefin. Sie hielt sich öfters in New York City und in Tokio auf, flog Business Class und lud manchmal meine beste Freundin ein, sie zu begleiten, um für sie ein paar Aufnahmen von Schaufensterdisplays ihrer Kosmetika zu machen. Ein heikles Unterfangen wegen der Spiegelung von der Strasse her. Ich glaube aber, das Hauptmotiv für Huguette war eher, etwas Gesellschaft zu haben auf ihren Reisen und jemanden, den sie auch ein bisschen herumdirigieren konnte. Meine beste Freundin jedenfalls kam nach jeder Reise erschöpft nach Hause und schwor sich, nie mehr mit Huguette zu reisen - bis zum nächsten Mal. 

    Huguette kaufte sich einen Steinway-Flügel. Ich weiss nicht einmal, ob sie überhaupt Klavier spielen konnte. Ich kannte damals ihr Zuhause nicht.  Doch der Flügel passte zu ihrem angestrebten Status und verlieh ihr einen kulturellen Touch. Ich kannte lediglich ihr Auto. Abweichend von ihrer gesellschaftlichen Stellung als business woman fuhr sie einen Subaru. Sie wechselte erst zu einem Golf GTI, als Skirennfahrer Bernhard Russi begann, in vielen Werbekampagnen den geländegängigen Subaru Bergbauern und kinderreichen Familien schmackhaft zu machen.

    Huguette feierte regelmässig Weihnachten bei der sechsköpfigen Familie meiner besten Freundin, wo noch andere Heimatlose während der Festtage Aufnahme fanden, wie ich zum Beispiel, oder Verena. In all den Jahren kam ich Huguette aber nicht näher. Wir waren stets freundlich distanziert, beschenkten uns nicht, ganz im Gegensatz zu Verena, die für jeden mindestens zwei Gschänkli bereithielt, was jeweils zu einem etwas peinlichen Ungleichgewicht beim Bescherungsakt führte. 

    Und plötzlich liess mich meine beste Freundin wissen, dass Huguette an Brustkrebs erkrankt sei und sich einer schmerzhaften und entbehrungsreichen Behandlung unterziehen müsse. Als ich sie Monate später wieder im Nachbarhaus antraf, sah sie abgemagert aus und trug eine Perücke. Sie sei noch einmal davongekommen, sagte sie. Doch ein zweites Mal würde sie sich einer solchen Tortur nicht mehr unterziehen. Ihr Entschluss war klar, und der Rahmen fürs Weiterleben abgesteckt. Würde sie je wieder an diesem Krebs erkranken, fasste sie ihren Entschluss in Worte, so werde sie sich dem Übel beugen und mit Exit aus dem Leben scheiden. 

    Jetzt baute sie sich ein eigenes Geschäft auf, ein kleines, überschaubares. Sie wollte nun ihr eigener Boss sein und nicht mehr abhängig von den Direktiven der Zentralen grosser Konzerne. Sie wollte die verbleibende Zeit so einteilen, dass sich bei ihr nicht zu viel Stress ansammeln konnte. An Erspartem mangelte es ihr nicht. Sie gründete eine Fachzeitschrift namens Inspiration, die sich an Ladenbesitzer und Dekorateure richtete und Themen wie Schaufenstergestaltung und Ladeneinrichtungen behandelte. Damit war eine kleine Öffnung mir gegenüber verbunden. Sie nahm mich jetzt als Fachmann wahr, als Journalist und Zeitschriftenverleger, Tätigkeiten, die ich früher einmal, ganz zu Anfang meiner beruflichen Laufbahn, auch wirklich ausgeübt hatte. Es mutete mich seltsam an, nach so vielen Jahren anderer Beschäftigungen darauf angesprochen zu werden, zumal ich zum Inhalt ihrer Publikation keinen Bezug hatte. Doch ich wertete es als Erfolg, von Huguette ab jetzt nicht nur als geduldeten Nachbar unserer gemeinsamen Freundin, sondern als jemand, mit dem man sich fachlich unterhalten konnte, wahrgenommen zu werden. 

    So flossen die Jahre dahin, bis plötzlich meine beste Freundin selber schwer erkrankte. Huguette hatte sofort eine Meinung dazu und liess alle wissen, dass wohl ein medizinischer Kunstfehler bei einem Eingriff, den sie vornehmen musste, daran schuld sei. Sie verbreitete ihre Ansicht in Sammelemails an ihren grossen Bekanntenkreis. Ich weiss nicht, ob sie damit eine Protestbewegung gegen die fragliche Ärzteschaft in Gang bringen wollte. Doch dann stellte sich heraus, dass meine beste Freundin an einer unheilbaren Krankheit litt und nicht wegen Versäumnisse während einer medizinischen Intervention. Wenige Jahre später starb sie unter Qualen, und ich musste als Freund und Nachbar an der Abdankung ein paar Worte sprechen, was eine bemerkenswerte Wendung meines Verhältnisses zu Huguette zur Folge hatte. Statt uns aus den Augen zu verlieren, schrieben wir uns jetzt ab und zu Emails. Ihr war wichtig, mich das Neueste über die Söhne meiner verstorbenen Freundin wissen zu lassen, ungeachtet dessen, dass ich das Neueste aus direkter Quelle jeweils schon wusste. Aber ich liess ihr den vermeintlichen Wissensvorsprung und amüsierte mich über diese Art von Wettbewerb.

    Als Huguette erfuhr, dass ich als Dozent in China an Kunsthochschulen Workshops gab und Vorträge hielt, das war im Jahre 2009, bat sie mich, für ihre Zeitschrift Aufnahmen von schicken Ladeneinrichtungen und Schaufenstern heimzubringen. Ich unterzog mich diesem Auftrag mit mässigem Interesse und stellte bei meinen Recherchen lediglich fest, dass selbst die elegantesten Läden über hässliche Deckenleuchten verfügten. Klar, der Konsumentenblick richtet sich in erster Linie auf die angeleuchteten Produkte und nicht an die Decke, doch mir schien, dass diesem Teil des Raumes nicht die Bedeutung zukam, die ihm gebühren würde. Einzig BMW schien die Anstrengung wert, Deckenleuchten zu designen, die schnellen Verkehr suggerierten. Oder war es gar nicht BMW, sondern das im selben Raum sich breitmachende Kleidergeschäft mit den dämlichen Schaufensterpuppen, der Saison entsprechend eingekleidet in Winterjacken und wasserfesten Moonboots? - Meine Ausbeute an Bildern war so unbedeutend, so belanglos, dass ich nach meiner Rückkehr Huguette kein einziges Bild ablieferte. Erst kürzlich, beim Anschauen von altem Fotomaterial, habe ich ein paar Aufnahmen von damals wiederentdeckt, die mich jetzt zu diesem Text inspirieren. 

    Meine Geschichte mit Huguette endet so, dass sie einige Zeit später einen Rückfall verzeichnen musste und mich wissen liess, dass ihr jetzt nur noch eine beschränkte Anzahl von Monaten oder Jahren zur Verfügung stünden. Ich schrieb ihr zurück, dass mich diese Nachricht erschüttere. Und gleichzeitig teilte ich ihr mit, dass sie jetzt einen Weg gehe, der mir noch bevorstehen würde. Sie mache jetzt Erfahrungen, die mir noch verborgen geblieben sind. Falls sie je Lust habe, sich mit mir auszutauschen und von ihren Erfahrungen zu berichten, so wäre ich dazu nicht nur bereit, nein, ich wäre sogar neugierig darauf, ihr mein Ohr leihen dürfen.

    So kam es, dass sie in den darauffolgenden Monaten zu verschiedenen Malen bei Sprüngli Chääschüechli bestellte, einen frischen Salat zubereitete, ein Fläschlein Roten auf den Tisch stellte und mich zu sich nach Hause zum Lunch einlud. Zum Dessert brachte ich eine Süssigkeit mit, auch vom Sprüngli. Wir kommentierten bei diesen Treffen die Vorlieben ihrer Katze, das Tun und Lassen der Söhne meiner verstorbenen, besten Freundin, etwas Schweizer Wirtschaftsgeschehen, und sie liess mich wissen, wer was aus dieser Wohnung bekommen wird, wenn sie einmal nicht mehr da sein wird. Ich gehörte nicht zu den Berücksichtigten. Doch über das Sterben als Moment der Wahrheit, als ultimativen Augenblick des Lebens, sprachen wir nie. - Nach dem Essen machte ich jeweils einen kleinen Zwischenhalt beim Grab meiner Mutter, das nur wenige hundert Meter von Huguettes Haus auf dem Friedhof Rehalp lag. 

    Aus einer Mischung aus Neugier und Langeweile hielt ich den Kontakt aufrecht und freute mich für sie, dass sie noch zwei grosse Reisen plante. Als Abschiedtour. Die eine führte nach Japan, wo sie in Kyoto ein paar Tempel besuchen wollte, und die andere Reise nach Brasilien. Ich verfolgte ihre Reisen auf Google Earth, fuhr auf dem Bildschirm den Strassen entlang, die sie zu befahren beabsichtigte, und verirrte mich prompt in den Gässchen der Dörfer im Hinterland von Saõ Paulo. 

    Irgendwann schrieb sie mir, jetzt gehe es dem Ende zu. Ihre kleine Reise nach Mallorca (ich wusste gar nicht, dass sie auch noch von dort Abschied nehmen wollte) sei ein Desaster gewesen. - Ich wollte nicht genau wissen, worin es bestand, signalisierte ihr aber, dass ich sie gerne noch einmal sehen möchte. Lange kam keine Antwort. Ich wusste nicht recht, was ich in einer solchen Situation zu tun hatte. Meine Mutter hätte wohl Blumen geschickt, und meine Grossmutter wäre wohl unangemeldet mit den Blumen sogar vorbeigegangen. Ich jedoch erstarrte in lähmenden Überlegungen und wartete auf ein weiteres Zeichen von ihr. Wochen später schrieb sie mir, jetzt sei alles geregelt. Ihre Zeilen wirkten aufgeräumt, ja munter, und ich antwortete gleich mit der Frage, ob ich mich von ihr verabschieden dürfe. Sie schrieb zurück, sie hätte bis zum kommenden Montag noch allerhand zu tun, worauf ich den kommenden Dienstag vorschlug. Darauf antwortete sie: "Geht nicht. Ich bin dann schon weg."

    Ich weiss nicht, ob es bei einer derartigen Sachlage noch einen Kommentar braucht, einen Abgesang, einen letzten Seitenblick. Es war für mich einfach das erste Mal, dass jemand so präzise und so nüchtern seinen Tod anzukündigen vermochte. Huguette erwartete am Montagnachmittag die Leute von Exit. Das war's. Um 15 Uhr dreissig konnte sie ihren Harnisch entsorgen. Ihr gelebtes Leben wurde von niemandem mehr angefochten, auch von ihr selbst nicht.

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©Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 11. Mai 2023

Bei laufendem Motor - Ein Selbstgespräch

Kaffee-Ausschank auf einer Durchgangsstrasse. Der Barrista ging schnell Pipi machen und bat mich, so lange auf den Jeep aufzupassen. Kunden kamen während meiner Präsenzzeit keine vorbei, dafür hupten aber viele Autos.

     Von Ferne betrachtet scheinst du hier in Kolumbien glücklich zu sein. Ist das richtig? Ist denn das Land so grossartig?

    Mein Glück zeigt sich im Fehlen von Depressionen und allfälligen, weiteren Sehnsüchten. Es zeigt sich in einer gewissen Zufriedenheit und Gelassenheit. Ist vielleicht auch altersbedingt. Welche Rolle in meinem Gemütszustand das Gastland dabei spielt, ist dadurch nicht abschliessend definiert. Es gibt so vieles, was mich hier aufregt, aufregen könnte. Was mich vor eventuellem Ärger rettet, ist die Distanz, die ich hier zu den Menschen, zum Land, zu den Verhältnissen habe. Ich bin hier nicht integriert, ich picke mir die Dinge heraus, die mir behagen, und davon gibt es viele, und ich versuche Dinge, die mir nicht behagen, zu ignorieren und ihnen, wenn immer möglich auszuweichen. Wobei ich mich manchmal schon äussere, sollte mich etwas über alle Massen stören. Doch ich habe keinen missionarischen Eifer, hier der Umgebung meinen Stempel aufzudrücken, auch wenn es mich manchmal juckt.

    Beispiel?

    Ich war kürzlich beim Arzt. Im Wartezimmer nahm sich eine reifere Frau heraus, ihre Beine samt Schuhen auf den gegenüberliegenden Stuhl zu legen. Sah lässig und relaxed aus. Sie sprach laut in ihr Handy, damit alle ein Ohr davon mitbekommen konnten. Als Gesamtperformance in meinen Augen ein absolutes No-Go. Das kommt in der Schweiz nur noch bei Jugendlichen vor, die der Umgebung beweisen wollen, dass sie auf Normen pfeifen, und dass Hygiene für sie nicht gilt. Hier in Bogotá allerdings muss nicht unbedingt demonstrativer Protest Ursache solchen Verhaltens sein. Es kann sich auch um Ignoranz handeln. Oder um mangelndes Vorstellungsvermögen, wie eigenes Agieren auf andere wirkt.

    Haben denn die anderen im Wartezimmer nicht moniert, dass dies nicht angehe?

    Nein. Alle blieben stumm. Nach ein paar Minuten richtete ich mich an diese Frau und teilte ihr mit, dass mich ihre Schuhe auf dem Stuhl stören würden. Es sei unhygienisch, sagte ich in meinem gebrochenen Spanisch, und im Übrigen würde mich ihre fernmündliche Unterhaltung nicht interessieren, worauf alle Wartenden mir zustimmend zunickten. Die Frau nahm darauf kommentarlos ihre Schuhe vom Stuhl und ging auf die Toilette, wo sie ihr Gespräch fortsetzte. Man konnte es noch durch die geschlossene Türe hören.

    Was folgt daraus?

    Dass offenbar viele nicht wagen, sich zu äussern, wenn sie etwas stört. Wahrscheinlich spielt da auch Angst vor den Konsequenzen einer kritischen Äusserung mit. Wir befinden uns schliesslich in einem Macho-Land. Alle wollen immer Recht behalten, weil sie sonst das Gesicht verlieren könnten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand, der sich infrage gestellt und kritisiert sieht, zu drohen beginnt und einen unschönen Streit anzettelt, um den Widersacher in die Schranken zu weisen. Womöglich zückt er sogar seine Waffe. Das hat in Kolumbien Tradition. Derjenige, der wagt, den Mund aufzumachen, wird schnell selbst zur Zielscheibe. Der vermeintlich Stärkere verteidigt sein Territorium und sein angebliches Recht wie Gorilla-Silberrücken ihre Grossfamilien. Selbst aufgebrachter Zwist wird gerne sofort und oft bis zum bitteren Ende ausgehandelt. Argumente spielen in solchen Situationen kaum mehr eine Rolle. Es geht um die physische Dominanz.

    So sind Angst und Schweigen alltägliche Faktoren, um einem Kräftemessen aus dem Weg zu gehen?

    Die Geschichte Kolumbiens basiert nicht auf gegenseitigem Vertrauen, sondern auf Drohungen, Gewalt, Krieg, und, im friedlicheren Falle, auf Aushandlungen, wobei es auch dort meistens eindeutige Profiteure und eindeutige Verlierer gibt.

     Die Überlebensstrategie vieler wird somit geprägt von Kuschen, Hinnehmen, Nichthinterfragen, weil die Konsequenzen einer Kritik tödlich sein können. 

    Wäre das auch eine Erklärung für den chaotischen Strassenverkehr?

    Zum Teil schon. Rücksicht wird hier anders interpretiert als bei uns in Europa und fängt erst dort an, wo unmittelbar Blechschaden am eigenen Auto droht. Doch bis dorthin wird gedrängelt und versucht, dem anderen zu zeigen, wer der Stärkere ist. Diese kleinen ungenierten Versuche der Vorteilsnahme geht nahtlos über in eine schon demonstrative Ignoranz.

    Wie das?

    Mir fällt auf, dass hier im Strassenverkehr Vorkommnisse aufeinandertreffen, die sich, nach meinem Verständnis, ausschliessen müssten. Alle Verkehrsteilnehmer sind doch daran interessiert, dass es vorwärts geht. Jedes Hindernis hemmt den Fluss, weil man dann ausweichen muss. So entsteht Stau, der niemandem dient. Bei Hindernissen wird gehupt, was das Zeug hält. - Doch meine Beobachtung geht dahin, dass es die das Hindernis verursachenden Automobilisten oder Motorradfahrer, die irgendwo anh den anderen im Weg zu stehen. Wenn es hochkommt, schaltet er noch das Warnblinklicht an, was schon als sehr rücksichtsvoll gilt. Ansonsten ignoriert er das Hupen geflissentlich. Das ist dann die Machtdemo des kleinen Mannes. Vielleicht verspürt er sogar Genuss, wenn die anderen Autos sich an ihm vorbeizudrängelschlängeln versuchen. Er richtet seinen Blick stur aufs Handy, als ob er nach etwas suchen würde. Dabei wartet er einfach, bis seine Geliebte, die er abholt, von der Arbeit kommt. Das kann eine halbe Stunde dauern. Bei laufendem Motor.

    Bei laufendem Motor?

    Ja, bei laufendem Motor. Alle jammern, dass die Benzin- und Dieselpreise steigen, doch fehlt wirklich fast allen das Verständnis, dass sie mit umweltfreundlicherem Verhalten viel Treibstoff sparen könnten. 

    Es scheint, dass die Kolumbianer auf den Umweltschutz pfeifen.

    Ich habe den Verdacht, es kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn, dass der laufende Motor etwas mit Umweltverschmutzung zu tun haben könnte.  

    Gibt es denn keine Kampagnen für den Umweltschutz?

    Doch, doch. Gibt es. Der öffentliche Verkehr wird Schritt für Schritt auf Elektromobilität umgestellt. Die chinesische Autofabrik BYD mit ihren Elektro-Bussen erlebt hier das Geschäft ihres Lebens. Es gibt auch zweierlei Abfalleimer auf den Strassen. Der eine ist gedacht für Wiederverwertbares, der andere fürs Andere. Aber es gibt eben Unsicherheit darüber, was denn überhaupt wiederverwertbar ist und was nicht. So schmeisst man halt alles in den nächstliegenden Kübel, ob wiederverwertbar oder nicht. Bereits in unserem Haus wirft Danika alles ins Wiederverwertbare. Ob Plastik, Papier, Flaschen oder Dosen, während ich immer noch zwischen Pet und Nicht-Pet unterscheiden möchte und die Aludosen nicht zusammen zum Papier werfen würde. Nur gerade der Kaffeesatz und die Orangenschalen gelangen bei Danika ins Nichtwiederverwertbare, Dinge, die ich als Kompostmaterial bezeichnen würde, wofür aber hier in unserem Stadtteil kein Abfuhrprogramm existiert. Die fleissigsten Abfalltrenner übrigens sind die Menschen mit ihren grossen Schubkarren auf den Strassen, die den Verkehr auch massgeblich behindern. Immerhin legitimieren sie ihre Präsenz mit der akribischen Durchsuchung aller Abfallsäcke und mit der Vornahme einer individuellen Trennung der Inhalte. Den Rest lassen sie weit verstreut auf der Strasse liegen, bis nach Mitternacht der Müllwagen aufkreuzt und das Übriggelassene einsammelt.

    Alles paletti also?

    Für mein Gefühl nicht. Der übrig gebliebene, nicht getrennte Abfall wird ausserhalb der Stadt auf riesigen Müllhalden deponiert, die das dortige Grundwasser verschmutzen. Doch irgendwie lebt der Durchschnittskolumbianer noch in der Vorstellung, das Land sei gross genug, um unseliges Wirken verkraften zu können, worin es auch immer bestehen mag. Klar gibt es in der Presse öfters schockierende Berichte über verschmutzte Flüsse, vergiftete Fische, kontaminierte Luft. Auch das Wort "ambiente", d.h. Umwelt, ist hier kein Fremdwort. Doch so, wie man das Auto mit laufendem Motor inmitten der Strasse laufen lässt und sich nicht um Verkehrsbehinderung und Luftverpestung schert, so scheint auch die Umwelt etwas, das einen letztlich nichts angeht. Gerade in der Umwelt und im Verkehr kann man seinen Widerstand gegen staatliche Verordnungen und seinen Protest gegen Ungerechtigkeiten des Staates manifestieren, indem man Dinge ignoriert, die einer Allgemeinheit nutzen könnte, unterschiebe ich jetzt mal.

    Ignoranz und Protest als toxische Mischung sozusagen...

    ... und Mangel an Empathie, würde ich noch hinzufügen.

    Und das ist auszuhalten?

    Ich trage schon lange den Gedanken mit mir herum, ein Zettelchen zu drucken und dieses wartenden Automobilisten mit laufendem Motor zuzustecken, auf welchem Folgendes stehen würde: 

    - Ich gratuliere Ihnen. Ich hoffe, Sie haben Aktien bei der Ecopetrol. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors tragen Sie erfolgreich dazu bei, dass die kolumbianische Oel-Industrie saftige Gewinne einfährt;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors beweisen Sie, dass Ihnen die ständige Erhöhung der Benzinpreise nichts antut. Sie gehören zu den Vermögenden in diesem Lande;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors unterstützen Sie die hiesigen Lungenstationen in den Spitälern, weil immer mehr Menschen wegen der Luftverschmutzung, die hauptsächlich durch Autoabgase verursacht wird, an Atemwegsbeschwerden leiden. Auch Lungenkrebs gehört dazu;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors tragen Sie dazu bei, dass Bogotá in Zukunft weniger kalt sein wird, weil der ausgestossene CO2-Gehalt Ihres Autos die Atmosphäre aufheizt...

    Und so fort. Doch ich realisierte die Aktion  bis jetzt aus zwei Gründen nicht. Erstens läuft Ironie in diesem Land anders, als ich sie von der Schweiz her kenne. Und Ironie birgt immer die Gefahr, dass die anderen es anders verstehen, als man es selbst meint. Und zweitens bin ich des Spanischen zu wenig mächtig, um für dieses Unterfangen die besten Worte zu wählen. Ach ja, und ein drittes kommt mir noch in den Sinn. Ich möchte nicht unbedingt in eine Messerstecherei geraten oder wegen eines beleidigten Chauffeurs abgeknallt werden.  

    Ach, so funktioniert das bei euch?

    Mehr oder weniger und tendenziell schon... 

    Das mit der CO2-Neutralität kann in Kolumbien also noch etwas dauern. 

    Mehr als etwas.

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© Nikolaus Wyss

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