Klavier
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Vierhändig mit Hans-Martin Bossert, Musiker, der lange Jahre mit mir an der Schwamendinger Bocklerstrasse gewohnt hat. |
Mit
meinem Vater selig verbindet mich, dass wir beide sehr nahe am Wasser
gebaut sind. Und meine Mutter verstand es, dieses Wasser zum Fliessen zu
bringen. Ich glaube nicht, dass sie es absichtlich tat, doch es gelang
ihr meisterlich, mich immer wieder mal in feuchte Rührung, Trauer oder
Freude zu versetzen.
So entnehme ich grad meinem
Tagebüchlein unter dem Datum 11. Dezember 1974, also vor nunmehr 50
Jahren: „Gestern Abend habe ich bitterlich geweint. Lang und laut. War
wahnsinnig traurig. Auslöser war der Klaviertransport.“
Dazu
muss man wissen, dass ich in diesem Jahr nach Schwamendingen gezogen
bin und offenbar den Wunsch äusserte, mein Klavier, das bis zu diesem
Zeitpunkt in der Wohnung meiner Mutter stehen blieb, in mein neues
Zuhause zu verlegen.
Ich schrieb weiter: „Auf der
Innenseite des Klaviaturdeckels hat meine Mutter einen Zettel geklebt,
auf welchem geschrieben steht: ‘Vielen Dank meinem lieben Sohn, der mir
mit seinem Klavierspiel gute Jahre geschenkt hat. M.'." (M. steht für
Mutter.)
Es war ein Zeichen des Abschieds, der
endgültigen Veränderung, des Eintritts in eine neue Lebensphase, wo
meine Musik anderen zu Gehör gebracht wird. Doch Mutter wird sie
vermissen, muss auf sie verzichten.
Heute, beim
Mittagessen, erzählte ich meiner Wohnpartnerin Danika davon und konnte
die Geschichte gar nicht zu Ende bringen, weil ich schon wieder zu
weinen anfing wie damals. Der Geschmack meiner Tränen erinnerte mich
auch an den Moment, als die Männer vom Bestattungsamt den Sargdeckel
über dem Leichnam meiner Mutter schlossen und sich daran machten, die
Kiste in ihren schwarzen Wagen zu tragen. Ich war vorgewarnt, doch ich
konnte mich nicht halten und heulte drauflos wie ein Schlosshund.
Tod und Suizid
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"Bluetige Dumme" |
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Blumenstrauss, (liebevoll hergerichtet von Bruno Egger) |
ALLTAGSKUNDE
Fortsetzung des Forschungsberichts
Von Thomas Thiemeyer
Sensationen beleben das Forschungsgeschäft, gerade wenn sie nicht danach aussehen. (Legende zum obigen Bild)
7. August 2024 · Vor einem halben Jahrhundert entdeckte die Empirische Kulturwissenschaft, damals oft noch Volkskunde genannt, den Alltag. Ist dieses Interesse inzwischen selbst nur noch Routine?
Im Jahr 1978 gründeten die beiden Studenten Walter Keller und Nikolaus Wyss in Zürich die Zeitschrift mit dem Titel „Der Alltag“, den sie alsbald um den recht schrillen Untertitel „Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ ergänzten. Grafisch gaben sich die Hefte bescheiden bis rotzig: Eine provisorisch wirkende Typewritertypographie mit unscharfem Schriftschnitt verband sich mit Fotos in Polaroidoptik, handgemachten Collagen und kaum redigierten Interviewtranskripten. Diese Ästhetik war unkonventionell und alltagsnah. Was die Grafik ankündigte, setzte sich beim Inhalt fort: „Kioskfrauen, Hebammen und Mütter, Coifeure, Brasilienreisende, Wirtinnen von Rockerkneipen, Polizisten, Heilsarmisten und Naturfreunde“ waren die Gewährspersonen der Redaktion, nicht Wissenschaftlerinnen oder Celebrities.
In den Heften schien das Unscheinbare und „Normale“ des Alltags ebenso durch wie das Freche und Ironische der Subkulturen als neuer kreativer Impuls für eine zunehmend entgrenzte Kunst und Kultur. Vor allem aber begegneten die Autoren der einfachen Frau und dem Mann von der Straße mit ganz neuem Ernst – nicht mehr von oben herab aus der Position des Besserwissers, sondern als ehrlich interessierte Vermittler ihrer Lebensgeschichten. Darin lag seinerzeit die „Sensation“: „Der Alltag“ versprach einen erfahrungsbasierten Blick auf die Welt aus der Perspektive der Bevölkerung. Er ließ die Bürger selbst zu Wort kommen und erhob sie zur erkenntnis- und kulturstiftenden Kraft.
Über die Anfänge des heute fast vergessenen Periodikums, das 1997 aufgab, erinnerte Wyss unlängst im Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich,wo das Magazinarchiv heute lagert. Im Herbst hatte schon der Zürcher Kulturwissenschftler Bernhard Tschofen in der Eröffnungsrede des 44. Fachkongresses der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaften in Dortmund das Magazin als Aufhänger genutzt, um das Kongressthema in einem Objekt einzufangen: „Analysen des Alltags“. Dabei erinnerte Tschofen an 1978 als das Jahr, in dem die Diszplin den Alltag endgültig zu ihrem Markenkern nobilitierte und Theorien zu ihm entwickelte: Die Frankfurter Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus veröffentlichte im Beck-Verlag ihr Grundlagenwerk „Kultur und Alltagswelt“, und ihr Tübinger Kollege Utz Jeggle definierte in einem bis heute zentralen Aufsatz Alltag als „problemlose, normale, wiederholbare, sicher auch mühevolle, aber auch darin akzeptable und akzeptierte Routinewirklichkeit“.
Die „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“
Alltag, hieß das, ist das Gewohnte und Gewöhnliche, so selbstverständlich, dass wir vieles von dem, was ihn ausmacht, gar nicht bewusst wahrnehmen. Er passiert eher, als dass er sich ereignet, und da er unspektakulär ist, bleibt er oft unbemerkt. Natürlich basiert er auf jeder Menge Erfahrungen, von denen aber kaum noch jemand weiß, welche das im Einzelnen sind. Das ist auch nicht nötig: Über den Alltag muss man nicht nachdenken, sondern man weiß aus dem Bauch heraus ziemlich sicher, was zu tun und wie etwas zu beurteilen ist. Als Sicherungsseil des Lebens kennzeichnet ihn für Jeggle die Angst vor Neuem: Alltage zu verändern bedroht die eigene Existenz, weil Routinen und Gewissheiten außer Kraft gesetzt werden, was im Extremfall als unzulässiger Eingriff in die soziale Intimzone verstanden wird. Pandemieleugner und Querdenker lassen grüßen.
Was den Alltag in den Siebzigerjahren so aufregend machte, war die Aussicht auf eine andere Gesellschaftsanalyse. Im Alltag ließ sich das Leben der Menschen in seinen täglichen Abläufen, Routinen, Fährnissen und Kontingenzen beobachten und mit den Augen derjenigen betrachten, die man beobachtete. Was die Menschen ganz konkret machten, bildete den Fokus einer von nun an mehr denn je auf Erfahrungen und Praktiken konzentrierten Kulturanalyse. Ihre Forschungen waren zwar kleinteilig, aber weniger abstrakt als Strukturanalysen, marxistische oder Systemtheorien, die den Menschen als fremdbestimmtes Rädchen im großen Getriebe der Institutionen, Ökonomien und Politiken verstanden. Individuelle Handlungsspielräume und eigenständige Urteile sahen diese Theorien eher nicht vor.
Die Entdeckung des Alltags war kein Spezifikum der Kulturwissenschaft. Wichtige Stichworte lieferte etwa die Wissenssoziologie. Unter dem Begriff „Lebenswelt“ hatte allen voran Alfred Schütz eine Phänomenologie des Alltagslebens entworfen, die das Handeln der Menschen auf pragmatische Motive und Erfahrungen zurückführt: Der Mensch macht schlicht das, was sich in bestimmten Situationen für ihn bewährt hat. Wer diese Motive verstehen will, muss tief in die Wissenshorizonte der Menschen eintauchen und die „gemeinsame kommunikative Umwelt“ ihres Milieus verstehen. Vor allem aber muss er sie in ihrem Denken, Glauben und Fühlen ernst nehmen und aus diesem heraus ihre „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“ erklären.
Wie verändert sich unser Alltag durch digitale Technologien?
Für die Empirische Kulturwissenschaft (die damals vielerorts noch Volkskunde hieß) war der analytische Fokus auf den Alltag einschneidend. Er veränderte den Blick auf die Gruppen, die sie untersuchte, und er zwang sie, an den Problemen der Gegenwart beobachtend teilzunehmen, statt sich auf urtümliche Relikte der „Volkskultur“ aus der Zeit vor der Industrialisierung zu beschränken. Konkret hieß das: Arbeitskultur statt Bauernleben, Fernsehen statt Folklore, Schlager statt Volkslied. Für Tschofen landete die Disziplin so unversehens in der Mitte des aktuellen Lebens und konnte gesellschaftlich und politisch wieder relevanter werden.
Das Streben zu den heißen Themen der Gegenwart hat das Fach seither nicht verloren. Die beim Fachkongress präsentierten Forschungen widmeten sich dem Leben im Lockdown und dem Strukturwandel in Neckarwestheim nach dem Aus des dortigen Kernkraftwerks. Sie schauten auf das Verhältnis von Mode, Kleidung und Körperwahrnehmungen und darauf, wie sich der Alltag durch Künstliche Intelligenzen und digitale Technologien verändert. Sie analysierten, wie Gefühle eingeübt und aufgeführt werden oder was ein Leben ohne Arbeit und in Armut mit Menschen macht. Und sie zeigten in einem besonders eindrucksvollen Panel zu Ethnographien im Gefängnis, bei Polizei, Militär und rechtsradikalen Hooligans, dass der Alltag nicht nur bräsig und behaglich, sondern auch brutal sein kann, und Forschende dann vor massive ethische Probleme stellt: Macht man bei Schlägereien und polizeilichen „Sicherungsmaßnahmen“ mit? Oder erreichen dort Teilnahme und „Kollaboration“ ihre Grenzen?
Nichtmenschliche Wesen als neue Sensation
Überhaupt lud der Alltagsbezug viele Vortragende dazu ein, ihn eher assoziativ zu nutzen, statt ihn analytisch weiterzudenken. Dabei wäre gerade das heute nötig: Das Ernstnehmen der je individuellen Ansichten und Verständnisse von der Welt und ihren Zusammenhängen, das den Alltag einst so attraktiv machte, bedarf in Zeiten der Chatbots, Verschwörungstheorien und Echokammern einer Revision. Nicht jede Meinung ist gleichwertig, nicht jedes Faktum beliebige Konstruktion, nicht jede Stimme spricht mit derselben Autorität.
Darüber hinaus fordern die postkolonialen Grundsatzkritiken an „westlichen“ Kategorien und Deutungen die Kulturforschung heute ebenso heraus wie die „ontologische Wende“. Deren Vertretern geht es, wie Mirko Uhlig (Mainz) zeigte, um fundamental andere Epistemologien. Radikalontologische Theorien gehen nicht mehr davon aus, dass die Lebewesen der Erde dieselbe Realität lediglich unterschiedlich wahrnehmen, sondern dass jedes von ihnen in einer anderen Welt lebt, weil sich jeder Körper unterscheidet. Für die Kulturwissenschaft ist das eine schlechte Nachricht: In fremde Ideenwelten kann man sich hineindenken (es zumindest versuchen), in fremde Körper nicht. Was bliebe, wäre die bloße Dokumentation anderer Weltsichten, die aber nicht mehr intersubjektiv zugänglich und damit kritisierbar wären.
Die postkolonialen und ontologischen Provokationen haben die Analysen des Alltags gleichwohl aktualisiert. Das Interesse gilt – auch das wurde in Dortmund deutlich – nicht mehr allein menschlichen Beziehungen, sondern den größeren Netzwerken zwischen Menschen, Dingen, Tieren, Planzen, Technologien, Infrastrukturen und Algorithmen, in die das menschliche Handeln eingewoben ist. „Posthumanismus“, „Multispezies“, „Assemblage“, „RessourcenKulturen“ oder „NaturenKulturen“ lauten Schlagworte für interdisziplinäre Ansätze, die den Platz des Menschen in der Welt neu zu bestimmen suchen. Rund fünfzig Jahre nachdem das Konzept des Alltags die Weltsichten der (einfachen) Leute aufgewertet hat, sind nun die nichtmenschlichen Wesen und Phänomene die neuen Sensationen der Alltagswissenschaft.
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© Nikolaus Wyss
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