Mittwoch, 7. August 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 10)

 Klavier

Vierhändig mit Hans-Martin Bossert, Musiker, der lange Jahre mit mir an der Schwamendinger Bocklerstrasse gewohnt hat.

Mit meinem Vater selig verbindet mich, dass wir beide sehr nahe am Wasser gebaut sind. Und meine Mutter verstand es, dieses Wasser zum Fliessen zu bringen. Ich glaube nicht, dass sie es absichtlich tat, doch es gelang ihr meisterlich, mich immer wieder mal in feuchte Rührung, Trauer oder Freude zu versetzen.
    So entnehme ich grad meinem Tagebüchlein unter dem Datum 11. Dezember 1974, also vor nunmehr 50 Jahren: „Gestern Abend habe ich bitterlich geweint. Lang und laut. War wahnsinnig traurig. Auslöser war der Klaviertransport.“
    Dazu muss man wissen, dass ich in diesem Jahr nach Schwamendingen gezogen bin und offenbar den Wunsch äusserte, mein Klavier, das bis zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung meiner Mutter stehen blieb, in mein neues Zuhause zu verlegen.
Ich schrieb weiter: „Auf der Innenseite des Klaviaturdeckels hat meine Mutter einen Zettel geklebt, auf welchem geschrieben steht: ‘Vielen Dank meinem lieben Sohn, der mir mit seinem Klavierspiel gute Jahre geschenkt hat. M.'." (M. steht für Mutter.)
    Es war ein Zeichen des Abschieds, der endgültigen Veränderung, des Eintritts in eine neue Lebensphase, wo meine Musik anderen zu Gehör gebracht wird. Doch Mutter wird sie vermissen, muss auf sie verzichten.
    Heute, beim Mittagessen, erzählte ich meiner Wohnpartnerin Danika davon und konnte die Geschichte gar nicht zu Ende bringen, weil ich schon wieder zu weinen anfing wie damals. Der Geschmack meiner Tränen erinnerte mich auch an den Moment, als die Männer vom Bestattungsamt den Sargdeckel über dem Leichnam meiner Mutter schlossen und sich daran machten, die Kiste in ihren schwarzen Wagen zu tragen. Ich war vorgewarnt, doch ich konnte mich nicht halten und heulte drauflos wie ein Schlosshund. 

Tod und Suizid



 
 
Mich beschäftigt der eigene Tod kaum. Er kommt, wenn es Zeit dazu ist. Auf die Frage, was meine Nächsten hier in Kolumbien machen sollen, wenn er eintritt, habe ich keine Antwort. Ich sage nur, macht es so, wie es für euch stimmt. Wir wohnen ja nur zwei Fussminuten vom Sterbeinstitut Coorserpark/La Fé entfernt. Die sind bestimmt hilfreich, wenn das Geld stimmt.
Zum Leichentransport verfügen sie über ein Vehikel, das mir dann aber doch ein kleines Schmunzeln entlockt: einem würdigen Tod angemessen…
Und dann lese ich in der Zeitung, dass die Anzahl der Suizide und Suizid-Versuche hier in Kolumbien drastisch zugenommen hat. Besonders unter Jugendlichen. Gut, früher war Selbstmord tabuisiert, man sprach eher von Unfall und so. Doch dies erklärt noch nicht den ganzen Anstieg der Suizid-Rate. In meinem näheren jugendlichen Freundeskreis wollten sich schon drei das Leben nehmen. Andere packten die Gelegenheit am Schopf, auszuwandern («partir c’est mourir un peu»), jeder und jede auf seine Weise. Das nennt man dann brain drain, denn es sind wohl die clevereren (was für ein Wort, stimmt das überhaupt?), die sich auf die Socken machen und für sich einen Weg finden, ihrem Unglück hier in Kolumbien zu entrinnen, Kolumbien, das vielen nicht die Chancen bietet, die sie verdient hätten, und das eben auf die Clevereren angewiesen wäre, um weiterzukommen. So lastet auf vielen jungen Menschen eine existentielle Angst. Dazu kommt die Erwartung, nicht nur aus sich selbst etwas Rechtes zu machen, sondern auch noch für die Eltern und Grosseltern sorgen zu müssen. Eine glatte Überforderung.
 
Rudolf
"Bluetige Dumme"
    Am 29. Juni 1974 ging ich nach einem ereignisreichen Tag (am Nachmittag besuchte ich die Eröffnung der Ausstellung «Schweiz im Bild – Bild der Schweiz?» im Zürcher Helmhaus und traf dort viele Freunde und Bekannte; Adolf Muschg schmückte seine Eröffnungsrede ausgiebig mit Gottfried Keller-Zitaten) in den Bluetige Duume an der Marktgasse (Bild) und kam neben einen jüngeren, jedoch bereits zahnlosen Mann zu sitzen, der mir freimütig seine Lebensgeschichte erzählte, während ich mich bei einem Bier mit Läberli Rösti verköstigte. Er heisse Rudolf und sei 30, begann er seine Ausführungen. Sein Vater sei ein Nazi-Offizier gewesen, lebe jetzt aber unter anderem Namen mit einer neuen Familie in Australien. Seine Mutter hingegen wohne mit einem Oberförster zusammen in Bümpliz bei Bern. Sie sei steinreich und habe Rudolfs jüngerem Bruder zu Weihnachten einen Fiat 124 geschenkt. Von ihrem älteren Sohn aber will sie nichts mehr wissen. Mit 14 interessierte sich Rudolf für Kunst und Musik und wollte etwas in dieser Richtung studieren. Wieso er sich stattdessen dann aber als Seemann anheuern liess, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Als er 19 wurde, liess er sich ausmustern und wollte heiraten. Die Auserwählte war ein Bauernmädchen. Er bezahlte ihr eine ganze Aussteuer und kaufte für ihre gemeinsame Zukunft eine Dreizimmerwohnung, die damals 28.000 Franken gekostet haben soll. 14 Tage vor der Hochzeit jedoch wandte sich dieses Mädchen von ihm ab und liess ihn hocken. In seiner Verzweiflung ging Rudolf nach Frankreich und trat in die Fremdenlegion ein. Nach der Ausbildung zum Legionär wurde er in den Tschad verlegt. Gegen Malaria assen sie dort unten tonnenweise Chinin. Davon sei er süchtig geworden. Er wurde zum Fixer für allerlei Drogen. Nach zwei Jahren desertierte er, weil er mitansehen musste, wie in einem Gefecht sein bester Freund zu Tode geschossen wurde. Da kam ihm der Sinn des Lebens abhanden. In Lyon musste er dann wegen Fahnenflucht drei Jahre ins Gefängnis, denn ursprünglich hatte er sich für fünf Jahre Dienst verpflichtet. Später, zurück in der Schweiz, fühlte sich Rudolf nirgends mehr zu Hause und konsumierte weiter Drogen, was ihn erneut ins Gefängnis brachte. Weiter kam ich in seiner atemlos vorgetragenen Geschichte nicht, denn ich wollte bezahlen und raus an die frische Luft. Ach ja, tätowiert war er. Von oben bis unten. Ich gewann während seiner Erzählung den Eindruck, als suche er verzweifelt irgendwo Anschluss. Ich war bestimmt nicht der erste, dem er seine Geschichte auftischte. Das machte die Verabschiedung etwas mühsam. Ich floh gewissermassen (und mit schlechtem Gewissen, ihm keine Hand dargeboten zu haben) und genehmigte mir zum Absacken noch ein Bier in der Züri Bar, wo es zur vorgerückten Stunde schon ziemlich laut zu- und herging. Vielleicht weiss jemand, wie es mit diesem Rudolf damals noch weitergegangen ist?
 
Samstag, 1. Juni 1974, Rotachstrasse in Zürich
Blumenstrauss, (liebevoll hergerichtet von Bruno Egger)
    Ich habe Mutter zum Mittagessen eingeladen und wartete auf sie. Ich sass auf dem Balkon und beobachtete eine Frau, wie sie sich unserem Haus näherte. Sie sah auf den ersten Blick meiner Mutter nicht unähnlich. Doch sie war etwas fester, kleiner, vollbusiger und trug ein Kostüm, das meine Mutter nie in ihrer Garderobe hängen gehabt hätte. Diese Frau hatte Blumen bei sich, und mir schoss durch den Kopf, wie das wäre, wenn statt meiner Mutter diese unbekannte Frau zu Besuch käme. - Würde sie sich als meine Mutter ausgeben? 
    Plötzlich steht diese Frau vor der Wohnungstüre. Ich öffne und wir küssen uns auf die linke und die rechte Wange. Sie sagt: "Ich freue mich, bei dir eingeladen zu sein. Was hast du gekocht?" - Ich führe sie in die Küche, wo sie an den vor sich hinköchelnden Gerichten schnüffelt. Dann suchte sie eine Vase, um die mitgebrachten Blumen einzustellen. 
    Meine Mutter aber kommt nicht. Diese mir unbekannte Frau ist hier, sie isst bei uns zu Mittag (ich habe keinen Hunger, mit ist der Appetit vergangen), nur gezwungen führen wir ein Gespräch, und die Frau meint, ich sei nicht gerade bester Laune. Es kommt noch schöner. Sie fragt mich, ob ich schmutzige Wäsche hätte, am nächsten Dienstag sei Waschtag. Diese Frau sagt, sie führe einen Saab (wie meine Mutter), wohne an der Winkelwiese (wie meine Mutter) und behauptet zu wissen, dass ich Kalbsbratwürste nicht mag, was stimmt. 
    Ich weiss, dass, dass diese Frau nicht meine Mutter ist, und ich gewöhne mich an den Gedanken, dass diese Frau an die Stelle meiner Mutter tritt. Ich erkenne, nachdem wir uns ein bisschen aneinander gewöhnt haben, dass diese Frau ganz praktisch ist, leicht zu nehmen. Sie lässt mich leben, ich lasse sie leben. Und es gibt Phasen, wo ich traurig bin über meine verlorene Mutter, die woanders verblieben ist und sicher auch traurig über ihr Schicksal. Bestimmt macht sie das Beste daraus. 
 
Franz
    Vor sehr langer Zeit lebte ich an der Rotachstrasse in einer WG. Ich teilte die Räume unter anderen mit Franz, Franz Gnädinger, Künstler und Privatgelehrter, damals noch auf der Suche nach sich selbst. Er brachte die Erfahrung und die Bildung eines Klosterschülers aus Einsiedeln ins Haus. Sein Latein war exzellent, sein Griechisch wohl auch, was ich allerdings nicht genau beurteilen konnte. Ihn interessierten Mathematik (vor allem Geometrie), Astronomie und Leonardo da Vinci, dem er später mit theoretischen Schriften ein Gutteil seines Lebens widmete. Er empfahl mir immer wieder Buster Keaton-Filme und versuchte, aus Tomaten Konfitüre zu machen. Sein Tun und Lassen überforderten zuweilen den Haushalt bzw. mich, denn zur Befriedigung meiner eigenen Komfort-Ansprüche musste ich mich zuweilen zum Reinigungspersonal degradieren. Meine Appelle an seinen Gemeinsinn verhallten in den Zimmerfluchten meist ungehört.
    Manchmal erzählte er von seiner Schulzeit im Kloster. Vier Müsterchen hier, drei davon von Pater Carl. Zuerst aber dieses hier: "Klosterbruder Kasimir lernte das Wörterbuch Latein-Deutsch bis etwa zum Buchstaben L oder M auswendig. Dann trat er freiwillig in die Küchenmannschaft über und wusch von da weg sein Leben lang das Geschirr der 280 Klosterschüler. Als später die Gärtner den Klosterpark neu gestalten wollten, stiessen sie beim Umgraben auf Berge von schmutzigem Geschirr. Da erinnerte man sich, wie während einer gewissen Zeit in der Küche Geschirr verschwand. Kasimir schien es wohl zu stinken, die dreckigen Teller der Jungs zu spülen und liess sie im Klosterpark verschwinden."
    Das zweite Müsterchen geht so: "Pater Carl machte mit seinen Schülern einen Skiausflug. Er fuhr Ski in seiner Soutane. Ausgehungert nach einem langen Marsch kamen sie in eine Wirtschaft und setzten sich an einen der langen Tische, wo er aus seiner Soutane eine Ovomaltine- Büchse zog. Als er sie öffnete, kamen zwei Paar Wienerli mit Sauerkraut zum Vorschein. Pater Carl bat die Serviertochter, die Speisen aufzuwärmen und noch ein paar Gabeln zu bringen. Die aufgewärmte Ovomaltine-Büchse liess er dann unter den Schülern zirkulieren und forderte sie auf, sich damit zu stärken. Dann gab er der Serviertochter einen Franken Trinkgeld und verliess mit seinen Schützlingen das Lokal."
    Und nochmals Pater Carl: "Eine Zeitlang hielt er sich in einer Filiale des Klosters in Argentinien auf. Sie bestand aus einer Missionsschule und einem landwirtschaftlichen Lehrbetrieb. Er lernte Jeep fahren. Der Instruktor zeigte ihm, wie es geht, worauf sich Pater Carl ans Steuer setzte und losbrauste. Doch der Instruktor vergass offenbar zu zeigen, wie man das Fahrzeug wieder zum Stehen bringt. So fuhr Pater Carl den ganzen Tag über die Felder und kam erst gegen Abend zum Anhalten, als kein Benzin mehr im Tank war."
    Offenbar kristallisierten sich an der Person von Pater Carl allerlei Anekdoten. Niemand kann sagen, ob sie wirklich so stattgefunden haben. Ich schrieb mir Franz' Geschichten aber nicht zuletzt deshalb auf, weil ich das Klosterleben stets für sehr exotisch hielt und eigentlich selber gerne dort einmal eine gewisse Zeit verbracht hätte. "Pater Carl war Lateinlehrer. Zur Latsch-Prüfung brachte er einmal ein Kassettengerät mit und spielte während des Examens laut spanische Stierkampf-Musik ab. Die Resultate der Prüfungen sollen aber katastrophal ausgefallen sein. Niedergeschlagen meinte er darauf, dass es bei den Kühen doch so sei, dass sie bei Musik mehr Milch geben würden..."
    Franz verlor ich nie ganz aus den Augen, auch wenn er eine ganz andere Art von Leben einschlug als ich. Er deponierte seine theoretischen Schriften, die er in Leitz-Ordnern ablegte, über Jahre bei mir mit dem Wunsch, ich soll nach seinem Tod etwas damit anfangen. Und als ich zum Rektor der Kunsthochschule Luzern gewählt wurde, gab er mir die dringende Empfehlung mit auf den Weg, zum Vorkurs besonders Sorge zu tragen. Er sei das Wichtigste, was man einem jungen Menschen mit auf den Weg geben könne.
    Die Leitz-Ordner holte Franz übrigens wieder ab, als ich mich anschickte, die Schweiz zu verlassen und nach Kolumbien zu übersiedeln. 
    Franz starb am 23. Januar 2020. Sein Bruder Steve Gnädinger liess das Leitz-Ordner-Vermächnis digitalisieren und stellte Franzens gedanklichen Reichtum ins Netz. Franz meinte dazu, die Rezeption seiner Arbeit brauche wohl genauso viel Zeit wie die Niederschrift derselben. Irgendwann wird sie beginnen. 

"Fortsetzung des Forschungsberichts"
Frankfurter Allgemeine, 7. August 2024
    Die Wissenschaft entdeckt uns. Mehr als 40 Jahre nach der ersten Ausgabe unserer Zeitschrift "Der Alltag - Sensationen des Gewöhnlichen" würdigt die FAZ in ihrer heutigen Ausgabe, 7. August 2024, unsere Leistung und stellt sie als Pioniertat für einen ganzen Forschungszweig, der aus dieser Idee erwachsen ist, dar. Ein bisschen habe ich mich schon gefreut, als mein Berliner Freund Martin Schmitz, Chef des gleichnamigen Verlags, mir diesen Zeitungsausschnitt zugeschickt hat. (Schmitz lernte ich laut seinen eigenen Angaben im Jahre 1981 anlässlich einer Deutschen Werkbundtagung in Darmstadt kennen. Siehe Foto hier unten. Das Thema damals: „Architektur für den Alltag, bescheiden Bauen oder: Die Sensation des Gewöhnlichen“. Ich hielt damals auch einen Vortrag, natürlich über den "Alltag".)
    Hier nachfolgend der Text aus der FAZ, der sich auf eine kürzlich stattgefundene Fachtagung über Alltag bezieht: 

ALLTAGSKUNDE

Fortsetzung des Forschungsberichts

Von Thomas Thiemeyer

Sensationen beleben das Forschungsgeschäft, gerade wenn sie nicht danach aussehen. (Legende zum obigen Bild)

7. August 2024 · Vor einem halben Jahrhundert entdeckte die Empirische Kulturwissenschaft, damals oft noch Volkskunde genannt, den Alltag. Ist dieses Interesse inzwischen selbst nur noch Routine?

Im Jahr 1978 gründeten die beiden Studenten Walter Keller und Nikolaus Wyss in Zürich die Zeitschrift mit dem Titel „Der Alltag“, den sie alsbald um den recht schrillen Untertitel „Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ ergänzten. Grafisch gaben sich die Hefte bescheiden bis rotzig: Eine provisorisch wirkende Typewritertypographie mit unscharfem Schriftschnitt verband sich mit Fotos in Polaroidoptik, handgemachten Collagen und kaum redigierten Interviewtranskripten. Diese Ästhetik war unkonventionell und alltagsnah. Was die Grafik ankündigte, setzte sich beim Inhalt fort: „Kioskfrauen, Hebammen und Mütter, Coifeure, Brasilienreisende, Wirtinnen von Rockerkneipen, Polizisten, Heilsarmisten und Naturfreunde“ waren die Gewährspersonen der Redaktion, nicht Wissenschaftlerinnen oder Celebrities.

In den Heften schien das Unscheinbare und „Normale“ des Alltags ebenso durch wie das Freche und Ironische der Subkulturen als neuer kreativer Impuls für eine zunehmend entgrenzte Kunst und Kultur. Vor allem aber begegneten die Autoren der einfachen Frau und dem Mann von der Straße mit ganz neuem Ernst – nicht mehr von oben herab aus der Position des Besserwissers, sondern als ehrlich interessierte Vermittler ihrer Lebensgeschichten. Darin lag seinerzeit die „Sensation“: „Der Alltag“ versprach einen erfahrungsbasierten Blick auf die Welt aus der Perspektive der Bevölkerung. Er ließ die Bürger selbst zu Wort kommen und erhob sie zur erkenntnis- und kulturstiftenden Kraft.

Über die Anfänge des heute fast vergessenen Periodikums, das 1997 aufgab, erinnerte Wyss unlängst im Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich,wo das Magazinarchiv heute lagert. Im Herbst hatte schon der Zürcher Kulturwissenschftler Bernhard Tschofen in der Eröffnungsrede des 44. Fachkongresses der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaften in Dortmund das Magazin als Aufhänger genutzt, um das Kongressthema in einem Objekt einzufangen: „Analysen des Alltags“. Dabei erinnerte Tschofen an 1978 als das Jahr, in dem die Diszplin den Alltag endgültig zu ihrem Markenkern nobilitierte und Theorien zu ihm entwickelte: Die Frankfurter Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus veröffentlichte im Beck-Verlag ihr Grundlagenwerk „Kultur und Alltagswelt“, und ihr Tübinger Kollege Utz Jeggle definierte in einem bis heute zentralen Aufsatz Alltag als „problemlose, normale, wiederholbare, sicher auch mühevolle, aber auch darin akzeptable und akzeptierte Routinewirklichkeit“.

Die „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“

Alltag, hieß das, ist das Gewohnte und Gewöhnliche, so selbstverständlich, dass wir vieles von dem, was ihn ausmacht, gar nicht bewusst wahrnehmen. Er passiert eher, als dass er sich ereignet, und da er unspektakulär ist, bleibt er oft unbemerkt. Natürlich basiert er auf jeder Menge Erfahrungen, von denen aber kaum noch jemand weiß, welche das im Einzelnen sind. Das ist auch nicht nötig: Über den Alltag muss man nicht nachdenken, sondern man weiß aus dem Bauch heraus ziemlich sicher, was zu tun und wie etwas zu beurteilen ist. Als Sicherungsseil des Lebens kennzeichnet ihn für Jeggle die Angst vor Neuem: Alltage zu verändern bedroht die eigene Existenz, weil Routinen und Gewissheiten außer Kraft gesetzt werden, was im Extremfall als unzulässiger Eingriff in die soziale Intimzone verstanden wird. Pandemieleugner und Querdenker lassen grüßen.

Was den Alltag in den Siebzigerjahren so aufregend machte, war die Aussicht auf eine andere Gesellschaftsanalyse. Im Alltag ließ sich das Leben der Menschen in seinen täglichen Abläufen, Routinen, Fährnissen und Kontingenzen beobachten und mit den Augen derjenigen betrachten, die man beobachtete. Was die Menschen ganz konkret machten, bildete den Fokus einer von nun an mehr denn je auf Erfahrungen und Praktiken konzentrierten Kulturanalyse. Ihre Forschungen waren zwar kleinteilig, aber weniger abstrakt als Strukturanalysen, marxistische oder Systemtheorien, die den Menschen als fremdbestimmtes Rädchen im großen Getriebe der Institutionen, Ökonomien und Politiken verstanden. Individuelle Handlungsspielräume und eigenständige Urteile sahen diese Theorien eher nicht vor.

Die Entdeckung des Alltags war kein Spezifikum der Kulturwissenschaft. Wichtige Stichworte lieferte etwa die Wissenssoziologie. Unter dem Begriff „Lebenswelt“ hatte allen voran Alfred Schütz eine Phänomenologie des Alltagslebens entworfen, die das Handeln der Menschen auf pragmatische Motive und Erfahrungen zurückführt: Der Mensch macht schlicht das, was sich in bestimmten Situationen für ihn bewährt hat. Wer diese Motive verstehen will, muss tief in die Wissenshorizonte der Menschen eintauchen und die „gemeinsame kommunikative Umwelt“ ihres Milieus verstehen. Vor allem aber muss er sie in ihrem Denken, Glauben und Fühlen ernst nehmen und aus diesem heraus ihre „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“ erklären.

Wie verändert sich unser Alltag durch digitale Technologien?

Für die Empirische Kulturwissenschaft (die damals vielerorts noch Volkskunde hieß) war der analytische Fokus auf den Alltag einschneidend. Er veränderte den Blick auf die Gruppen, die sie untersuchte, und er zwang sie, an den Problemen der Gegenwart beobachtend teilzunehmen, statt sich auf urtümliche Relikte der „Volkskultur“ aus der Zeit vor der Industrialisierung zu beschränken. Konkret hieß das: Arbeitskultur statt Bauernleben, Fernsehen statt Folklore, Schlager statt Volkslied. Für Tschofen landete die Disziplin so unversehens in der Mitte des aktuellen Lebens und konnte gesellschaftlich und politisch wieder relevanter werden.

Das Streben zu den heißen Themen der Gegenwart hat das Fach seither nicht verloren. Die beim Fachkongress präsentierten Forschungen widmeten sich dem Leben im Lockdown und dem Strukturwandel in Neckarwestheim nach dem Aus des dortigen Kernkraftwerks. Sie schauten auf das Verhältnis von Mode, Kleidung und Körperwahrnehmungen und darauf, wie sich der Alltag durch Künstliche Intelligenzen und digitale Technologien verändert. Sie analysierten, wie Gefühle eingeübt und aufgeführt werden oder was ein Leben ohne Arbeit und in Armut mit Menschen macht. Und sie zeigten in einem besonders eindrucksvollen Panel zu Ethnographien im Gefängnis, bei Polizei, Militär und rechtsradikalen Hooligans, dass der Alltag nicht nur bräsig und behaglich, sondern auch brutal sein kann, und Forschende dann vor massive ethische Probleme stellt: Macht man bei Schlägereien und polizeilichen „Sicherungsmaßnahmen“ mit? Oder erreichen dort Teilnahme und „Kollaboration“ ihre Grenzen?

In Dortmund hat der Alltag als Dachthema zudem das Assoziationsfeld sichtbar gemacht, das der Begriff heute hervorruft: Das ist nach wie vor das Unscheinbare, Gewöhnliche, Routinierte, das in der Krise besonders deutlich vor Augen tritt. Dass sich die Gegenwart mit Krieg, Pandemie und Klima im Zustand der „Permakrise“ befinde, dieser Befund wurde von Tine Damsholt (Kopenhagen) mit Blick auf Pandemietagebücher empirisch untermauert. Er machte den Bezug zum Alltag als irgendwie geartetes Gegenteil der Krise fast schon trivial.

Nichtmenschliche Wesen als neue Sensation

Überhaupt lud der Alltagsbezug viele Vortragende dazu ein, ihn eher assoziativ zu nutzen, statt ihn analytisch weiterzudenken. Dabei wäre gerade das heute nötig: Das Ernstnehmen der je individuellen Ansichten und Verständnisse von der Welt und ihren Zusammenhängen, das den Alltag einst so attraktiv machte, bedarf in Zeiten der Chatbots, Verschwörungstheorien und Echokammern einer Revision. Nicht jede Meinung ist gleichwertig, nicht jedes Faktum beliebige Konstruktion, nicht jede Stimme spricht mit derselben Autorität.

Darüber hinaus fordern die postkolonialen Grundsatzkritiken an „westlichen“ Kategorien und Deutungen die Kulturforschung heute ebenso heraus wie die „ontologische Wende“. Deren Vertretern geht es, wie Mirko Uhlig (Mainz) zeigte, um fundamental andere Epistemologien. Radikalontologische Theorien gehen nicht mehr davon aus, dass die Lebewesen der Erde dieselbe Realität lediglich unterschiedlich wahrnehmen, sondern dass jedes von ihnen in einer anderen Welt lebt, weil sich jeder Körper unterscheidet. Für die Kulturwissenschaft ist das eine schlechte Nachricht: In fremde Ideenwelten kann man sich hineindenken (es zumindest versuchen), in fremde Körper nicht. Was bliebe, wäre die bloße Dokumentation anderer Weltsichten, die aber nicht mehr intersubjektiv zugänglich und damit kritisierbar wären. 

Die postkolonialen und ontologischen Provokationen haben die Analysen des Alltags gleichwohl aktualisiert. Das Interesse gilt – auch das wurde in Dortmund deutlich – nicht mehr allein menschlichen Beziehungen, sondern den größeren Netzwerken zwischen Menschen, Dingen, Tieren, Planzen, Technologien, Infrastrukturen und Algorithmen, in die das menschliche Handeln eingewoben ist. „Posthumanismus“, „Multispezies“, „Assemblage“, „RessourcenKulturen“ oder „NaturenKulturen“ lauten Schlagworte für interdisziplinäre Ansätze, die den Platz des Menschen in der Welt neu zu bestimmen suchen. Rund fünfzig Jahre nachdem das Konzept des Alltags die Weltsichten der (einfachen) Leute aufgewertet hat, sind nun die nichtmenschlichen Wesen und Phänomene die neuen Sensationen der Alltagswissenschaft. 

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© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 25. Juni 2024

Zu Tisch bei Not Vital

Foto und Video (unten): Jonathan Caron

 

Es war eine herzliche Begegnung nach einer geschätzter Ewigkeit. Wir kennen uns zwar schon seit bald 60 Jahren, sahen uns aber vor vielleicht fünfzehn Jahren das letzte Mal. Doch jetzt begrüssten wir uns, als ob seit dem letzten Treffen kaum ein Jahr vergangen wäre.

Er holte mich mit seinem weissen Landrover älteren Jahrgangs am Bahnhof von Scuol ab. Sofort waren wir in Gespräche verwickelt. An deren Inhalt vermag ich mich im Einzelnen nicht mehr zu erinnern: Es dürfte sich um familiäre Updates gehandelt haben, doch der bündnerische Tonfall von ihm, die Art, wie das Gespräch seinen Fortgang nahm, waren typisch für ihn: geprägt von Feststellungen, die in Fragen mündeten. Aus fast jedem seiner Sätze waren etwas Rätselhaftes, ein Staunen, eine Verwunderung oder reine Begeisterung herausspürbar, die er von mir entweder bestätigt oder aber widersprochen sehen wollte. Oft eröffnete Not ein Gesprächsfeld, indem er mich fragte, ob ich diese oder jene Person auch kenne. Auf diese Art hat das Eintauchen in Nots Universum schon immer begonnen.

Kurz vor dem Dorfeingang von Sent, dort, wo sein Park mit den begehbaren und nicht ungefährlichen Stegen, mit dem versenkbaren Haus und mit halsbrecherischen Skulpturen steil ins Tal hinunterführt, hielt er an und stellte fest, dass auf der Schattenseite noch viel Schnee liegt. Doch vielleicht wollte er mir nur in Erinnerung rufen, dass dieser Fleck Erde auch zu seinem ausgedehnten Unterengadiner Reich gehöre, als ob ich das hätte vergessen können. Natürlich weiss ich von seinem Schloss in Tarasp und von seinem Haus in Ardez, dem Sitz seiner Stiftung mit der wohl grössten Bibliothek von Büchern in rätoromanischer Sprache – und mit vielen Kunstwerken.

Sein Elternhaus bewohnt er mittlerweile allein, beherbergt allerdings grosszügig immer wieder viele Freunde. Seine Mutter Maria verstarb vor einigen Jahren in biblischem Alter. Sie nannte mich immer Clá, und ich hielt diese Namensgebung für eine Auszeichnung. Mittlerweile wurde aber das alte Engadiner Anwesen mit seinem schönen Holztäfer durch präzise designerische Interventionen etwas aufgemöbelt, und man kann sowohl an eleganten Türgriffen und Armaturen fürs Bad, an etwas unbequemen Stühlen als auch an raffiniert gesetzten Beleuchtungskörpern Nots gestalterische Hand erkennen. Im Untergeschoss erstreckt sich ein grosses Atelier für Skulpturen, Architekturmodelle und einen ausgeklügelten 3-D-Drucker, der bei meinem Besuch in gemächlichem Tempo das Modell einer Treppe vor sich her spritzte, die für einen neuen Saal bei den Salzburger Festspielen vorgesehen war. Dort durfte ich bei klassischer Musik (war es Bruckner?) auch seinen temporären Assistenten Jonathan Caron kennenlernen, einen gutaussehenden kanadischen Harvard-Absolventen mit Architekturdiplom und einem Praktikum bei Herzog & de Meuron. Nach Meinung von Not fast zu gescheit und zu gebildet, um selbst als Künstler zu reüssieren, denn dazu würden diesem jungen Mann, so behauptete er, eine gewisse Naivität und Unwissenheit fehlen. Not ist der Meinung, zu viele Überlegungen würden künstlerisches Schaffen eher bremsen. Doch ich befreundete mich gleich mit diesem Jonathan an, und im Verlauf meines Besuchs beschlossen wir, in näherer Zukunft gemeinsam Not Vitals Insel im chilenischen Teil Patagoniens zu besuchen, um dort den Sonnenuntergang zu feiern, der sich dem Besucher eröffnet, wenn er durch einen langen Tunnel zur Westseite mit dem steil abfallenden Felsen schreitet. Klar, es gäbe noch weitere Destinationen, um die vielen Wirkungsstätten des sein Leben lang nomadisierenden Nots aufzusuchen, auf den Philippinen zum Beispiel oder in Japan. Oder früher in Lucca oder am Broadway von New York City oder gar in Agadez, Niger, Afrika. Auch Rio de Janeiro wäre ein verlockendes Ziel, nicht so weit von mir entfernt. Dort lebt und arbeitet er einige Monate im Jahr in der früheren italienischen Botschaftsresidenz, einem Art-Deco-Gebäude, das daran erinnert, dass Rio einmal Hauptstadt Brasiliens war. - Und jetzt kommt mir in den Sinn, dass ich Not wohl das letzte Mal in Beijing getroffen hatte. Damals arbeitete und residierte er in einem mit Spiegelwänden ausgestatteten, dreistockhohen Atelier in der Nähe von Ai Weiweis Haus. In Erinnerung geblieben ist mir dort auch sein Goldenes Kalb (oder war es eine goldene Beijing-Duck?), das zwei Häuser weiter in den Ausstellungsräumlichkeiten der Galerie Meile in unerreichbarer Höhe hing. Wer wollte, konnte um es herumtanzen (und anhimmeln/begehren…)

Im Garten vor seinem Haus in Sent erhebt sich aus der Wiese ein bunkerartiges, mit Oberlichtern versehenes Gebäude, das Not für seine Malerei benützt. Dort stellte er gerade die Bilder zusammen, die in seinen nächsten Ausstellungen gezeigt werden sollen. Unvermittelt fragte er mich, ob dieses oder eher jenes Bild für die fragliche Galerie an der Rämistrasse in Zürich passe. Was sollte ich darauf schon antworten? – Ich entschied mich für das dunkelblaue, worauf er dann das andere, hellere wählte… Dann fuhren wir nach Ardez und machten dort einen Rundgang durch alle Räume des Hauses seiner Stiftung. Immer wieder standen wir vor Bildern grosser Meister. Not nahm stets mit den Werken, die er ja schon seit langem kennt, Kontakt auf, indem er staunend ganz nah auf sie zuging und seiner Begeisterung regelmässig mit «fantastisch» oder «unglaublich» Ausdruck verlieh. Mir gefiel das klassische chinesische Himmelbett, das von der Grösse her kaum ins zugewiesene Zimmer passte, am besten. Wie viele Bettstätten stehen ihm im Unterengadin für Übernachtungen überhaupt zur Verfügung? Später, oben bei der Besichtigung seines prächtigen Schlosses von Tarasp, entdeckte ich weitere Schlafzimmer, die bewohnt aussahen. Zahnbürsteli, Zahnpasta und Tücher jedenfalls lagen in den dazugehörigen Badezimmern in Gebrauchsnähe. Auf dem steilen Weg zum Schloss hinauf begegneten wir übrigens zwei wunderschönen mit schwarzen Punkten durchwirkten Schimmeln. Er flüsterte ihnen mit zärtlich klingender Stimme etwas zu. Hatte er nicht vor einiger Zeit die Stute (oder war es der Hengst?) in der nahen Schlosskapelle geheiratet? – Bei Not Vital verändern sich verrückte Dinge in selbstverständliche Realität. Mir fällt erst jetzt beim Schreiben dieser Zeilen auf, dass mein Bericht für manche, die mit diesem Künstler nicht so vertraut sind, etwas merkwürdig klingen mag.

Die Kuhfladen zum Beispiel. Auf seiner Reise nach Nepal im Jahre 1988, so beschreibt es Alma Zevi in ihrem dicken Buch "Not Vital - Sculpture", Skira-Verlag, musste er gerade miterleben, wie sich Einheimische durch getrockneten, glimmenden Kuhdung, den sie zum Heizen und Kochen verwendeten, schwere Brandwunden zuzogen. Doch es gab weit und breit kein Spital, welches die Verletzungen hätte kurieren können. So entstand die Idee, Kuhfladen zu sammeln und zu trocknen, diese in Bronze-Skulpturen zu giessen und deren Erlös für den Bau eines Spitals in Nepal zu verwenden, das in der Lage war, auch Brandwunden fachmännisch zu behandeln. Nach der Realisierung dieses Vorhabens halfen ihm weitere Kuhfladen auch bei der Finanzierung einer Grundschule für 500 Kindern in Agadez, Niger. Sogar unser Suppenküchen-Projekt "Sancocho-Lab" hier in Bogotá, das Jugendlichen helfen will, aus ihrem Leben etwas zu machen, gehört jetzt seit neuestem zu den Nutzniessern dieser künstlerisch-philanthropischen Aktion.  

Zurück in seinem Atelier fiel mir ein Objekt auf, das aussah wie ein Tisch mit Bank ohne Beine. Es lag etwas verloren am Boden, und ich wollte das Objekt mit Nots Hilfe auf seine mögliche Funktion hin ausprobieren. Also stiegen wir ins Objekt hinein und versuchten, es und uns selbst auf unseren Knien zu balancieren. Was für eine seltsame Erfahrung. Sie verlangte eine gewisse Koordination beim sich Hinsetzen und beim Wiederaufstehen. Jonathan, der wohl nach Ideen des Meisters den Knietisch konstruierte, machte ein Video von unserem Versuch, und ich stellte es Tage später, nichtsahnend, auf Instagram ins Netz. Und plötzlich trat ein, was der Traum aller Influencers ist: diese 16 Sekunden gingen ab durch die Decke. Bis dato haben weltweit 13 Millionen Menschen das Video angeschaut und über 450.000 Likes vergeben. Der Beitrag erhielt über 1000 Kommentare. Blöde zum Teil. Viele blieben bei Nots Schuhen hängen, andere warnten vor orthopädischen Komplikationen und fragten sich, wieso ausgerechnet zwei alte Männer so einen Blödsinn machen müssen. Andere wiederum fanden die Aktion einfach nur cool. - Diese Clicks führten mir vor Augen, was die Faszination von Not Vital ausmachen könnte, nämlich die Neuinterpretation von Alltäglichem, die Zuweisung einer Geschichte zu einem Gegenstand, das Zulassen von Fragen, die eigentlich keiner Antworten bedürfen, weil es sonst keine Kunst mehr wäre.


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© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 18. Juni 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 9)

 Januar 2024

    Der alte Mann wurde immer mal wieder für seinen nach wie vor kräftigen Haarwuchs belobigt, und er antwortete dann jeweils mit dem Hinweis, dass sein Vater schon in der Rekrutenschule eine Glatze gehabt hätte. Er aber habe zur Verhinderung desselben Schicksals schon als Bub Hirse gegessen und jeden Tag seinen Kopf mit einem teuren Haarwasser massiert.
    Doch seit einigen Jahren lebt er woanders. Dort ist sein Haarwasser unbekannt. Und trotzdem wächst sein Haar so, als ob er es noch immer mit diesem Produkt behandeln würde. Und jetzt fragt er sich, ob er sein Leben lang Geld für etwas ausgegeben hat, das er eigentlich gar nicht benötigt hätte.
 
April 2024
In der Panaderia BROT, Quinta Camacho
 
Im Bild das zweite Frühstück: als seniler Bettflüchtling stehe ich morgens zwischen fünf und halbsechs auf. Zu den Mittagsnachrichten von SRF (Zeitunterschied im Sommer: 7 Stunden) striegle ich die Katze (sie schnurrt dazu), gebe ihr Futter und bereite dann für mich selbst etwas Porridge zu mit einem geraffelten Apfel und dem Geschlabber einer Granadilla vermischt. Dazu Tee und Lutein in Form einer Tablette zur Eindämmung meiner Makuladegeneration. Zeitungslektüre und anschließend allerlei Verrichtungen, bis im Radio das Altersquiz „Dreivonfünf“ vorbei ist und das Haus langsam erwacht. - später, sehr viel später und nach einer Dusche Morgenspaziergang zur Bäckerei Brot, die tatsächlich so heisst. Die Damen dort kennen mich, ich muss gar nichts bestellen. Das Bild zeigt, was mir automatisch aufgetischt wird für 16.450 COP (ca 4 Franken, je nach Tageskurs). Das leckere, angewärmte und vor allem knusprige Croissant lässt mich vergessen, dass ich eigentlich ein paar Kilos abnehmen möchte. Und dort lese ich dann, was das Zeugs hält. Momentan bin ich an einer Geschichte über die Unabhängigkeitsbewegung von Indonesien mit dem Titel Revolusi. Autor ist der belgische Historiker David Van Reybrouck, der seinerzeit eine spannende, wenn auch niederschmetternde Geschichte über den Kongo verfasst hat. Seine Erzählweise ist faszinierend, eine Mischung aus Oral History-Nacherzählungen (er sucht meist uralte Zeitzeugen auf, die wiederum von ihren Großeltern erzählen, was dann eine Zeitspanne von weit über 100 Jahre umfassen kann) und saftig vorgetragenen hard facts und Dokumenten. Sein Buch vermittelt mir einen Einblick in die Historie einer Weltgegend, die ich zwar seinerzeit bereist habe, deren Werdung und Platzierung auf der politischen Weltbühne mir jedoch bis jetzt verschlossen geblieben ist. Jetzt aber gewinne ich eine Ahnung davon, was die Holländer über die Jahrhunderte und was während des Zweiten Weltkrieges die Japaner diesem Inselreich angetan haben, und wie grausam und blutrünstig die Indonesier selbst ihre Unabhängigkeit erstritten haben. In einem schon fast trancenähnlichen Zustand verlasse ich jeweils eine Stunde später das Brot und kaufe im Supermarkt gegenüber den fürs Mittagessen noch benötigten Salat und ev noch ein paar Rollen Toilettenpapier ein (ab zwei Gästen bei uns ist der Verbrauch signifikant).
 
Nussknacker in HongKong

 
     Damals war die Stadt HongKong noch eine Hoffnungsträgerin, pflegte demokratische Rechte und hielt Distanz zu Festland-China. Ich behalte frühere Begegnungen dort an Kongressen, Kunstausstellungen und privaten Treffen in bester Erinnerung. Jetzt allerdings verspüre ich keine Lust mehr, nochmals dorthin zu reisen.
    Die exotischste meiner vielen Begegnungen war wohl, als ich in den Nullerjahren in einer Bar einen jungen Mann kennenlernte, der absoluter Falco-Narr war. Er arbeitete tagsüber als Klempner und fuhr mit seinem Motorrad zu seiner Kundschaft, um Wasserschäden zu beheben und tropfende Wasserhähne zu flicken. Abends aber legte er bei sich in seinem engen Zimmer irgendwo in Kowloon Falco-CDs auf. Er kannte alle seine Songs auswendig und sang sie mir, vermutlich ohne ein Wort davon zu verstehen, vor. Sein chinesisch eingefärbtes Nachsingen der Spur nach war köstlich, wobei mir Falcos Originalösterreichisch genauso viel Mühe bereitet hätte. Doch mich rührte seine Fixierung auf diesen österreichischen Popstar, und beim „Der Kommissar geht um“ und bei „Rock Me Amadeus“ summte ich sogar mit und legte mit meinen Kenntnissen über Mozart nach, denn von ihm wusste er eigentlich nichts. Er wusste aber, dass Falco tragisch ums Leben kam, und er meinte, gerade deshalb müsse man dessen Erbe am Leben erhalten.
    Ein anderes westliches Erbe wurde damals in den grossen Malls von HongKong gepflegt. Klassische Musik, automatisch auf einem Flügel dargebracht. Im Gegensatz zum Falco-Fan stimmte mich diese Art von Musikpraxis aber eher traurig. Wenn doch wenigstens ein paar Ballerinen dazu im Tütü getanzt hätten! Wäre auch ein spannenderes Video geworden also dieses hier. So aber zerlief in der grossen Durchgangshalle dieser Mall die schwächelnde Interpretation dieser wunderbaren Komposition Tschaikowskis wie lauwarmer Brie…
 
 
Musik für einen Gast 
 
    Eine Trouvaille: Facebook-Freundin Claudia Bissig-Schuler schickt mir diesen Link zu. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, je in dieser Kult-Radiosendung "Musik für einen Gast" aufgetreten zu sein. Und jetzt dies: Fernseh-Legende Heidi Abel im Gespräch mit mir. Wir schreiben 1982. Beim Wiederhören fällt mir auf, dass gewisse Narrative über mein Leben bis heute Bestand haben, und die damals ausgewählte Musik berührt mich auch heute noch. Bin ich also seither stehen geblieben? Wie sähe meine Musikauswahl heute aus? Die Rolling Stones zum Beispiel sind ja immer noch zugange, aber ich höre mir ihre neueren Songs nicht mehr an. Also doch kleine Verschiebungen und Veränderungen im Laufe meines Lebens...
    Es war damals die Zeit, als Walter Keller und ich die Zeitschrift "Der Alltag - Sensationsblatt des Gewöhnlichen" herausbrachten und ich Führungen durchs Quartier Schwamendingen organisierte. So werde ich plötzlich mit einem längst vergangenen und abgelegten Lebensabschnitt konfrontiert, der so weit weg ist und doch so nah.            Vielen Dank, Claudia. Und zum Schluss wieder meine kleine Eitelkeit: Eigentlich schreibt sich mein Vorname mit einem O. Also Nikolaus... Und noch dies: im Gespräch räsonierte ich, dass ich wohl meinen Lebensabend nicht in Lateinamerika verbringen werde. Jetzt aber verlebe ich frischfröhlich seit sieben Jahren meinen Lebensabend wieder in Kolumbien. Mittlerweile würde ich mir bei der Musikauswahl auch einen Salsa wünschen. 
 
Katzenküsse
 

    Der SoziologeNorbert Elias (1897-1990) mit seinem Standardwerk «Der Prozess derZivilisation» und mit anderen seiner Publikationen gehörte zu einem meiner wichtigsten «Influencers» während meiner Studienzeit. Ich bewunderte seine Denkweise, die Art seiner Schlussfolgerungen, seine erwählte Sprache. So war es nicht weiter verwunderlich, dass ich ihn kennenlernen wollte, was mir Ende der 70er Jahre mit einer Reise nach Frankfurt am Main auch gelang, wo er an der dortigen Universität eine Zeitlang als Gastprofessor wirkte. Wir führten in einem Café, wo er sich auch mit Studierenden zu treffen pflegte, ein ausgedehntes Gespräch, bei welchem er mir auch verriet, dass er täglich schwimmen gehe. Und auf meine Frage, ob es ihn reue, keine Familie gegründet zu haben, meinte er, dazu einfach keine Zeit gefunden zu haben (auf dieselbe Frage pflegte ich früher zu antworten, das Schicksal hätte es anders mit mir gewollt). 
    In Frankfurt machte ich auch ein paar Fotos von ihm, die ich für ein Porträt über ihn verwenden wollte. Doch der Text missriet mir gründlich. Ich kam wohl über meine Schwärmerei und meine Bewunderung für sein Schaffen nicht hinaus, blieb heillos stecken in der Rolle eines unkritischen Followers. Der zuständige Redaktor jedenfalls lehnte meinen Artikel rundwegs ab und empfahl mir, das Thema bleiben zu lassen.

    Während der Text irgendwann aus meinem Blickfeld entschwand, begleiten mich die Fotos bis heute. Sie treten in meiner Bilderkiste in regelmässigen Abständen an die Oberfläche, so auch diesmal, wo Cual, unsere Katze, sie entdeckte und abzulecken begann. Ich versuchte ihr zu erklären, sie sei mit ihren Katzenküssen gerade dabei, diesem grossen Denken ihre Referenz zu erweisen. Ihr aber schmeckte wohl einfach das chemisch durchwirkte Fotopapier. – Ich weiss nicht, ob Elias Katzen mochte. Dies zu fragen hatte ich seinerzeit vergessen.

 

Trittligasse 

Die Trittligasse ohne Trittli. Der Schock meines heutigen Spaziergangs auf den Spuren meiner Vergangenheit in der Zürcher Altstadt. Klar, sie werden die Trittli wieder einsetzen, wenn die Tiefbauarbeiten fertig sind. Und doch: so nackt kam mir die Gasse vor. Was Treppen alles bewirken können!

    Hier unten an der Ecke übrigens küsste ich zum ersten Mal ein Mädchen. Ich glaube, es hiess zum Nachnamen Niesper, Vorname vergessen. Christiane? Beim Küssen dachte ich, aha, so fühlt sich das also an. Die Lust hingegen hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich passierte bei ihr Ähnliches: Fortsetzung gab es jedenfalls keine. Doch die Ecke bleibt als Erinnerungsort bestehen, ist aufgeladen mit diesem initialen Augenblick, verkörpert die Basis aller weiteren Küsse, die später durchaus auch als lustvolle Erlebnisse verbucht werden konnten, als zuweilen leidenschaftlich-süchtigmachend sogar, bis hin, Jahrzehnte später, zur Erfahrung mit Max, dass man auch bei ungespültem Mund und ungeputzten Zähnen lustvoll küssen kann. Man muss einfach ganz nah dran bleiben und der Nase keine Gelegenheit geben, sich da reinzumischen…

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©Nikolaus Wyss

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Samstag, 24. Februar 2024

Mein täglicher Spaziergang - oder der Furor von Olga, Santiago, Nohora und den anderen

Fotos aus dem Gruppen-Chat

Wenn es trüb aussieht, nehme ich den Schirm. In der Regel brauche ich ihn dann nicht. Wenn ich ihn jedoch nicht mitnehme, so kann ich mir fast sicher sein, dass ich auf meinem Spaziergang verregnet werde.

Vor dem Haus begegne ich zuerst oft Benjamin. Er wohnt gegenüber, sitzt gerne auf dem Treppenabsatz vor seinem Haus, raucht Zigaretten und bearbeitet sein Handy. Seine Tür steht dann offen, und aus dem Hintergrund ertönt jeden Tag ein anderes Genre Musik. Die Stücke reichen von Dmitri Schostakowitsch über Vivaldi bis zu John Coltrane. Ich fühle mich jeweils bei meinem Gruss über die Strasse aufgefordert, die Musik zu erraten, die gerade vom Innern seines Hauses heraustönt, und ich konnte Benjamin mit meinem Wissen schon ein paarmal überraschen. Er ist ein schwarzhaariger, bärtiger Argentinier von eher kleinem Körperwuchs. Er fährt ein elegantes, schwarzes Fahrrad mit blauleuchtenden Felgen. Er studiert Musikkomposition an der Uni Nacional. Erst kürzlich erfuhr ich, dass er und seine Wohngenossen, die ich eher selten zu Gesicht bekomme, Vegetarier sind. Als wir nämlich das letzte Mal etwas von unserem Weihnachtshuhn hinüberbrachten, bedauerte er, sie würden kein Fleisch essen. Gleichwohl nahm er unsere Gabe an, denn sie erwarteten am selben Nachmittag Freunde, von denen er wusste, dass sie das Mitgebrachte gerne verspeisen werden.

Einmal auf der Strasse gehört zur täglichen Routine die Entscheidung, in welche Richtung ich mich denn diesmal bewegen soll. Gegen Norden, ins Chico, ginge es in eine vornehmere Gegend, wo für die Bewohner Strom, Wasser, Telefonabonnement und Abfallentsorgung um die Hälfte teurer sind als bei uns. Dort könnte ich mich mit einem feinen Cappuccino im Café Pomeriggio für meinen Spaziergang belohnen, serviert von weiss livrierten Kellnern.

In Richtung Süden reicht mein Perimeter normalerweise bis zur Buchhandlung Santo & Seña an der 4. Carrera mit der 54. Strasse. Dort gibt es auch Kaffee, vor allem aber gibt es dort Bücher, die zum Verweilen und zum Kauf anregen. Dort überkommen mich meistens Erinnerungen an meine eigene Buchhändlerzeit in Bogotá: der Geruch des Papiers, die gedämpfte Stimmung, die Gewissheit, wenigstens etwas mit allen anderen in diesem Raum zu teilen, nämlich die Liebe zum geschriebenen Wort. Wobei zum heutigen Sortiment einer anständigen Buchhandlung auch Comics, Vinyl-Schallplatten und Fanzines unterschiedlichster Provenienz gehören, was damals bei meinem Chef Karl Buchholz undenkbar gewesen wäre. Er war Vertreter der reinen Buchdeckel-Lehre. Schon Broschuren fasste er lediglich mit spitzen Fingern an, schliesslich verdiente er daran viel weniger, und sie wurden auch viel schneller alt und sahen vergriffen aus. Seine wahre Leidenschaft aber war der Kunsthandel. Dort fasst man die Gegenstände in der Regel schon gar nicht an, oder dann nur mit weissen Archivhandschuhen.

Gegen Osten hin würde mich ein steiler Anstieg erwarten an unseren Lieblingsrestaurants (zum Beispiel dem Salon Tropical oder dem Tierra) und weiter bergauf an den schwedischen und russischen Botschaften vorbei bis zur Quebrada La Vieja, einem steilen Tälchen bergauf, das Wanderern eigentlich nur an Wochenenden auf Anmeldung hin offensteht.

Im Westen schliesslich liegt der eher schmucklose Stadtteil Barrios Unidos, der aber insofern interessant ist, als man dort weder interessante Kunstgalerien, ausgezeichnete Fisch-Restaurants noch schöne Parks erwartet. Doch es gibt sie, und gerade deshalb sind sie bei einem Spaziergang einer Entdeckung wert.

Ich weiss allerdings nicht, ob ich textlich einen ganzen Rundgang in alle vier Himmelsrichtungen zusammenbringe. In den ersten 100 Metern passiert bereits so viel Berichtenswertes, dass das verbale Abschreiten aller Optionen wohl Romanvolumen annehmen würde, was ich sowohl mir als auch der Leserschaft nicht zumuten möchte.

Die Begegnung mit dem zahnlosen, herzensguten Carlos, der zehn Jahre älter aussieht als er ist, gehört zum festen Bestandteil eines jeden Spaziergangs. Entweder schlürft er grad einen Tinto bei Juan next door, der dort Portier ist, oder er versucht, seiner Arbeit nachzugehen, nämlich auf geparkte Autos am Strassenrand aufzupassen und auf ein paar Pesos zu hoffen, wenn der Besitzer zurückkehrt. Unser Grussritual besteht in einem Fingerzeig gegen den Himmel. Regen? Sonne? Meistens stecke ich ihm darauf ein paar Pesos zu mit der Bemerkung, mein Auto stehe dort drüben, und er solle gut aufpassen, damit es nicht gestohlen werde. Natürlich stimmt das so nicht, denn mein Auto steht ja wohlversorgt in unserer Garage. Doch Spass muss sein, und es soll nicht nach Almosen aussehen. Dann lachen wir beide und gehen unserer Wege.

Im nächsten Haus befand sich vor der Pandemie ein Swingerclub mit einem Jacuzzi-Bad im Treppenhaus. Ich weiss das, weil morgens jeweils die Putzfrau vor unserem Haus auf die Ankunft des Betreibers wartete und mir allerlei berichtete von den Überbleibseln der vorangegangenen Nacht. Der neue Besitzer jedoch, der zuweilen mit seinem neuen Volvo vorfährt und zum Rechten schaut, vermietet heute die Räumlichkeiten Start-ups und politischen Kampagnen. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hat sich der mittlerweile gewählte Bürgermeister Bogotás, Carlos Fernando Galán, mit seinem Team für die Wahlvorbereitungen dort einquartiert. Es wird behauptet, er sei nur deshalb gewählt worden, weil sein Vater, Luis Carlos Galán, einst Präsidentschaftskandidat Kolumbiens, 1989 von politischen Gegnern ermordert worden sei. Der Sohn habe also vom Mitleidbonus profitiert. Befand sich Galán in der Nachbarschaft, so war die ganze Strasse jeweils mit kugelsicheren und mit verdunkelten Scheiben versehenen Toyota Cruisern und Polizeieskorten überstellt, an deren wartenden Fahrern und an den Zigaretten rauchenden Leibwächtern ich mich, freundlich grüssend, vorbeischlängeln musste. Ihre Präsenz erhöhte mein Sicherheitsgefühl nicht unbedingt. Sie führte mir eher vor Augen, mit welchen Gefahren hier zu rechnen ist. Es ist aber auch ein Ding des Prestiges: je mehr Aufwand um eine Person, umso mehr Wichtigkeit wird ihr zugeschrieben.

An unserer Strasse befindet sich auch ein peruanisches Restaurant, klein, fein und teuer. Wir gingen dort schon ein paarmal essen. Doch dann verleidete es uns, weil der Kellner Jhon, der uns vom Vorbeigehen her bestens kennt, jedes Mal so ausführlich erklärte, was er uns gerade auftischt, dass die Speisen zum Schluss nur noch lauwarm waren.

Vor dem Peruaner sitzt morgens jeweils Fernando, der mich doctor nennt. Er dürfte um die 60 sein. Muy buenos dias, doctor. Como esta, doctor?, sagt er jeweils. Dann öffnet er unaufgefordert seine Brieftasche und zeigt mir die Einladung zu seinem nächsten Arzttermin, was mich immer etwas verlegen macht. Ich ging auch schon Umwege, um ihm nicht zu begegnen. Seine Krankheitsgeschichten kenne ich mittlerweile auswendig: Kropf und schmerzhafte, geschwollene Beine, manchmal Rücken und Gicht. Er glaubt bekenntnisreich an Gott, der ihn tröstet und schon weiss, was für ihn vorgesehen ist. Er verkauft an seinem kleinen Stand Lutschbonbons und Zigaretten und wäscht auf Wunsch den Parkierenden auch deren Autos. Zu Weihnachten bekommt er von mir etwas zugesteckt.

Ab und zu begegne ich auch Jaime, das heisst, er ruft mir vom dritten Stock aus zu, wo er gerade altes Brot auf die Strasse schmeisst und so die Tauben rund ums Haus füttert. Er kann ein paar Brocken Deutsch, die er bei jeder Begegnung anbringt. Er ist kleinwüchsig und ein Dandy, zieht sich also extravagant an und trägt auf der Strasse einen Strohhut, unter welchem die zu einem Rossschwanz gebundenen, weissen Haare hervorlugen. Es ist zuweilen schwierig, sich von ihm wieder zu lösen, denn am liebsten verstrickt er einen in einen never ending Monolog über die ganzen Stockwerke hinweg. Manchmal macht er mit seiner Partnerin Lili, die in der Nachbarschaft den Musikclub Matik Matik führt, und mit seiner Exfrau einen Ausflug in seinem stets putzfein gewaschenen, eleganten schwarzen Mercedes aus dem Jahre 1961.

Etwas seltener begegne ich Liz. Sie ist Galeristin und bespielt mit ihrer Kunst internationale Messen in Mexiko-City, São Paulo und Miami. Sie wohnt mit ihrem Gatten, einem Computerfachmann und Liebhaber von Vinyl-Schallplatten, zwei Häuser weiter oben in einem Objekt, das lange Zeit zum Verkauf stand. Auch wir interessierten uns damals dafür, doch es schien uns etwas teuer angesichts der vielen Dinge, die noch hätten renoviert werden müssen. Die beiden sind jetzt dort zur Miete. Doch sie beklagen sich über die Feuchtigkeit im Haus und über ignorante Vermieter.

Vor ein paar Monaten lud mich Liz ein, einem Nachbarschafts-Chat beizutreten. Dort würden Belange des Quartiers verhandelt. Zum Chat gehöre auch eine direkte Linie zur Polizei, die man wählen könne, wenn Gefahr droht. Das sei effizienter, als wenn man sich als Einzelperson über die Nummer 123 an die Polizei wenden müsse.

Seit ich Teilnehmer dieser Nachbarschaftsverbindung bin, ist nichts mehr wie früher, und meine Spaziergänge drohen in Depressionen zu enden. Der Chat wird von geschätzten 60 Nachbarn fleissig genutzt, so fleissig und erbarmungslos, dass einem davon übel werden kann. Olga, Santiago, Nohora und ein Dutzend andere lassen hier ihren Beobachtungen, Verdächtigungen, Ohnmachtsgefühlen, Früsten, Anschuldigungen und Ressentiments freien Lauf. In ihren Augen lauert an jeder Strassenecke des Quartiers ein suspektes Subjekt. Kürzlich zum Beispiel parkte ein Gast von mir sein Mietauto vor unserem Haus, und plötzlich musste ich dem Chat entnehmen: „Polizei-Patrouille bitte an Calle 68#11-63, verdächtiges Fahrzeug steht seit drei Stunden hier…“ Ein Foto wurde auch gleich beigefügt. – Umgehend musste ich antworten, das Fahrzeug gehöre einem Gast von mir. Ich konnte es mir nicht verkneifen anzufügen, dass vielleicht nicht jedes geparkte Auto verdächtig sei…

Hauptthemen sind Abfall und geparkte Autos, gefolgt von Lärmbelästigungen und Drogenkonsum. Ja, unsere ruhige Strasse wird von Jugendlichen der nahen Schulen gerne frequentiert, um sich hier einen Joint zu drehen und hereinzuziehen, und es kommt öfters vor, dass mein Heimweg durch Schwaden von Marijuana-Rauch führt. Nicht weiter schlimm in meinen Augen, doch Santiago, den ich persönlich nicht kenne, bekommt deswegen im Chat regelmässig Panikattacken. Kaum identifiziert er eine rauchende Gruppe, ruft er nach einer Polizeipatrouille. – Während ich diese Zeilen hier schreibe, jetzt, am Samstag, 24. Februar, 17.38 Uhr, verschickt Olga gerade zehn Fotos von falsch geparkten Autos und bittet, die Polizei solle doch umgehend vorbeikommen. Und ich denke dabei intensiv an den herzensguten, armen Carlos, der sich seine paar Pesos mit dergestalt geparkten Autos verdient. Kürzlich, so berichtete er mir, hätte ihn die Polizei fortgeschickt unter dem Hinweis, hier habe er nichts zu suchen. Ich dachte sogleich, diese Aktion sei unserem Chat zu verdanken. Woher soll er jetzt, klagte er mir, die paar Pesos bekommen, die ihm bisher sein knappes Überleben sicherten? – In derselben Manier verfährt unser Chat mit den Abfallverwertern mit ihren grossen Schubkarren. Sie durchwühlen Abfallsäcke am Strassenrand und entnehmen unter Hinterlassung von stinkendem Müll Reziklierbares, um damit ein paar Pesos zu verdienen. Im Chat sind sie aber nur als lästiges Gesinde identifiziert, und Nohora, die offenbar eine Schwiegertochter in der Schweiz hat und sie einmal besuchen ging, schwärmte davon, dass es dort sowas nicht gebe.

Nun trage ich mich mit dem Gedanken, aus dieser unerträglichen virtuellen Gemeinschaft wieder auszusteigen. Wie kann ich meinen Spaziergang geniessen, wenn ich mich umstellt sehe von missgünstigen Nachbarn, die hinter ihren Vorhängen den lieben langen Tag das Geschehen auf der Strasse beobachten und Verdächtigungen kultivieren?

Vorgestern allerdings hatten wir wieder einmal den Sänger vor unserem Haus, der alle zwei bis drei Monate im Vollsuff auftaucht und mit seiner rauhen Stimme und falschen Gitarrenklängen von Mitternacht bis zum frühen Morgen Flamencoähnliches von sich gibt. Es gibt niemanden in unserer Strasse, der davon nicht geweckt wird, und ich dachte, jetzt sei der Moment, die Nützlichkeit einer direkten Linie zur Polizei unter Beweis stellen zu können. Subito vermeldete ich den Tatbestand und wartete am Fenster auf die Ankunft einer Polizeipatrouille, um den Störefried zum Schweigen zu bringen. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, meine Füssen wurden schon kalt, so dass ich mir Socken überstreifen musste. Doch nichts geschah. Der nimmermüde Sänger waltete immer noch seines vom Alkohol diktierten Amtes. Auch Nachbarin Liz verlangte nach einer Patrouille, dreimal, wie ich dem Chat entnehmen konnte, und auch ich doppelte alle halbe Stunde nach. Um halb fünf morgens schliesslich zog er davon - ohne polizeiliche Aufforderung.

Ich sehne mich nach meinen früheren, sorgenfreien Spaziergängen zurück und beobachte den Zwiespalt, der sich vor meinen Augen auftut. Ich verstehe ja, dass sich meine Nachbarn nach einem ordentlichen Leben sehnen, wie es ihnen die Schweiz vormacht, und gleichzeitig anerkenne ich die Notwendigkeit, dass arme Schlucker und Strassenbewohner mit irgendwelchen Drehs in dieser chaotischen, korrupten Stadt zu überleben versuchen, einer Stadt, die nicht bereit scheint, ihren ärmsten Einwohnern entgegenzukommen. Und wenn wir schon dabei sind: eigentlich gehört auch die Polizei mit ihren Minimallöhnen hier zu den armen Schluckern, angewiesen auf Zusatzeinnahmen, die mit der Wegweisung von Abfallverwertern und Störefrieden nicht zu erwirtschaften sind. Da hält man sich doch eher an Falschparker, die sich mit ein paar Geldscheinen freikaufen und am nächsten Tag wieder dort auftauchen, wo es meine Chatgemeinschaft stört.  

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©Nikolaus Wyss

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Montag, 8. Januar 2024

Rösti in Kalkutta

Sterbekönigin Mutter Theresa. Skulptur in ihrer kosovarischen Heimat
 

    Ende 2003 befand ich mich emotional in einer prekären Gemengelage: beruflich stand ich auf der Abschussliste meines obersten Chefs unserer Fachhochschule, weil er sich mit meinem Stil und meiner Strategie für unsere Kunsthochschule nicht anfreunden mochte und mir offenbar nicht zutraute, es recht zu machen. Er habe sich, so wurde mir kolportiert, in seinen Gremien verschiedentlich negativ zu meiner Person geäussert und angedroht, Konsequenzen zu ziehen. Seltsam nur, dass er sich nie zu einer direkten Aussprache mit mir durchringen mochte. Ihm war es wohl bequemer, ein grosses Maul zu führen und damit Drohkulissen zu bedienen als mich zur Rede zu stellen. Belastend genug, so oder so. Der Konflikt verstärkte sich noch durch ein lächerliches Gezänk um die Verleihung des Professorentitels an mich. Ich vertrat die Meinung, Rektoren von Hochschulen würden ex officio das Recht darauf haben, während der fragliche Fachhochschulratspräsident der Ansicht war, man müsse den Titel unterlegen mit wissenschaftlichen Arbeiten. Während also meine Rektorats-Kolleginnen und -Kollegen aus Wirtschaft, Sozialer Arbeit, Musik und Architektur fleissig noch den letzten Text, den sie vielleicht vor zehn Jahren in irgendeinem katholischen Amtsblatt veröffentlicht haben, in ein Mäppchen legten, um zu beweisen, dass sie eines Professorentitels würdig sind, weigerte ich mich standhaft, irgendwelche Arbeiten beizubringen, die den Titel legitimiert hätten.  

    Auch privat hing damals einiges schief bei mir, verstrickt in einer Beziehung über Tausende von Kilometern hinweg. P. studierte in Yogyakarta Psychologie. Wir hatten uns im Verlauf der vergangenen Jahre einige Male gegenseitig besucht und verstanden uns im Bett wesentlich besser als ausserhalb. Ich erlebte mich, was meine Alltagsansprüche anging, in seiner Gegenwart einsamer als allein. Klassische Musik, Museumsbesuche, Würste aus Schweinefleisch, Lektüre und Wandern fielen in seiner Gegenwart aus den Traktanden. Gleichzeitig aber bezeichnete er mich als Mann seines Lebens und hatte ernsthaft die Absicht, nach Abschluss seiner Studien den Rest meiner Lebtage mit mir zu verbringen. Das konnte meiner Ansicht nach nicht gut enden, und ich trug mich mit dem Gedanken, diese Fernbeziehung endlich zu beenden, was mir umso schwerer fiel, als ich P. über alle Massen mochte.

    Im Verlauf desselben Jahres pflegte ich auch einen lockeren Kontakt zu A. in Kalkutta. Ich kannte ihn persönlich nicht, doch die unverbindlichen Plaudereien im Chatroom, wo wir uns zufällig getroffen hatten, waren witzig und unbeschwert. Diese gelegentlichen Interaktionen trugen dazu bei, dass ich zu jener Zeit nicht depressiv wurde. A. erzählte mir, dass er zwei Neffen grossziehe, da deren Mutter sich dazu überfordert fühle, nachdem ihr Mann, Vater der beiden, bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Die Buben waren damals sieben und acht Jahre alt. Sie sahen entzückend aus, wie ich den zugesandten Bildern entnehmen konnte. A. arbeitete bei einer Bank, hatte aber eigentlich Geschichte studiert. Er stammte aus dem ostindischen Manipur, war gläubiger Christ und sah es als solcher für selbstverständlich an, familiäre Verantwortung zu übernehmen. Das imponierte mir und kam meinen eigenen Bedürfnissen nach familiärer Geborgenheit entgegen. Im Verlauf des Herbstes entschloss ich mich dann, die Festtage zum Jahresende zu benutzen, A. und seine Buben in Kalkutta aufzusuchen.  

    Bei meiner Ankunft vermittelte mir die Stadt den Eindruck, den ich bereits von meinen Besuchen von Städten in China und Afrika her kannte, dass nämlich die Welt zu gross sei, um sie wirklich erfassen zu können. Hilflos schrieb ich in mein Notizbuch: «Sie spucken wie die Vögel scheissen: sequenziell und nicht in einem Schuss. Hier alles sehr laut, sehr verschmutzt. Irgendwie verlaufen sich die Gedanken in die Verirrung, jeder ist sich selbst der Nächste, man schlängelt aneinander vorbei, wenn im Auto, dann mit lautem Hupen.» Kalkutta verkörperte in idealer Weise das Chaos in meiner Seele. Da war die Trennung von P. von einer Telefonkabine aus. Ich rief ihn an, wünschte ihm alles Gute zum neuen Jahr und kündigte an, dass es mit uns wohl ein Ende habe. Als ich den Hörer auf die Gabel zurücklegte, weinte ich auf offener Strasse. Und: anstatt familiäre Gefühle für A. und seine Boys zu entwickeln, kam ich schon bald zum Schluss, dass ich in Kalkutta und mit A. an der Seite wohl kaum je glücklich würde. Ich war hier genauso hilflos wie in diesem Scheiss-Luzern, wo mir der Chef im Verlauf dieses Jahres das Leben so schwer gemacht hatte.

    A. lebte mit seinen Buben in einer von seiner Arbeitgeberin, der Bank, zur Verfügung gestellten Wohnung. Der Flur vor der Wohnungstür war grösser als das Appartment selbst. Dort spielte ich mit den Kleinen Fussball. Es kam vor, dass der Ball über die fensterlose Brüstung sprang. Dann mussten wir ihn im Hof vier Stockwerke weiter unten holen. Die Luft war geschwängert vom Rauch unzähliger Kohlefeuerchen, die in dieser Stadt für die Zubereitung von Speisen und zum Wärmen der Hände loderten. Man sah abends keine zehn Meter weit, so dicht war er. Er räucherte auch die Kleidung. Es war bitterkalt. - Und doch: mit jedem Tag stieg mein Respekt für diese Stadt. Sie war eine Metropole mit imposanten Universitäten, eindrücklichen Tempeln, lebendiger Literatur, U-Bahnlinien und grossartigen Gedenkstätten und Museen. Sie war keineswegs nur das Drecksloch, wie ich es mir vor meiner Ankunft ausgemalt und bei meiner Ankunft vorgefunden hatte. Mein Bild von Kalkutta war halt geprägt von der Tätigkeit der Mutter Theresa, der kosovarischen Sterbekönigin, der indischen Göttin Kali gleich. Ich kam zum Schluss, dass Mutter Theresa wohl die übelste Botschafterin Kalkuttas war. Sie versaute den Ruf dieser Stadt mit ihrer schon fast obszön anmutenden öffentlichen Hingabe für die Ärmsten in einer Weise, die die stolze Stadt Kalkutta nicht verdient hat. Ich wanderte in Parks, gewöhnte mich allmählich ans Gewusel und besuchte angesagte Restaurants und fragte mich, wie es die Frauen hier machen, dass ihnen ihr Sari-Umhang nicht von ihren Schultern gleitet. Ich wagte mich mit der Zeit auf die fast undurchdringlichen Märkte der Stadt und begann, ab und zu auch ein Häppchen Frittiertes zu kosten, das mir am Wegrand angeboten wurde. Allerdings wurde die Anfreundung an die fremde Umgebung durch die Gewissheit erleichtert, ein Retour-Ticket in der Tasche zu haben.

    Zum Jahreswechsel mieteten wir ein Fahrzeug mit Chauffeur und machten eine mehrtägige Wallfahrt zur Tempelstadt Puri am Golf von Bengalen. Ich erinnere mich, wie mich A. bei jedem Kauf eines Souvenirs belehrte, dass ich es viel zu teuer erstanden hätte. Jetzt galt ich als blöder Westler, der sich überteuerte Waren aufschwatzen liess, was mir die Freude am erstandenen Gegenstand drastisch minderte. Ich nahm mir vor, von nun an ihm gegenüber niedrigere Preise zu nennen, wenn er danach fragte, und einmal erregte ich so anerkennendes Staunen, als ich ihm ein aus Rinden geschaffenes Leporello zeigte, auf welchem handgeschnitzt Kamasutra-Szenen abgebildet waren. Ein Schnäppchen, meinte er, nicht wissend, dass ich dafür wesentlich mehr hingelegt hatte…

    Puri im indischen Staate Odisha ist für jemanden wie mich insofern uninteressant, weil ich als Nicht-Hindu die grossen Tempelanlagen von Jagannath gar nicht besuchen durfte. Ich wurde in einer verstaubten Bibliothek gegenüber des heiligen Viertels abgestellt, von wo aus ich aus der Ferne das imposante Geviert betrachten konnte. Der Christ A. hingegen und seine beiden Ziehsöhne zückten ihre Identitätskarten, die sie als indische Staatsangehörige auswiesen, und wurden eingelassen.

    Mehr actions für mich fand später vorne am weiten Sandstrand statt. Da war ich die Attraktion des Ortes. Alle, wirklich alle, die unsere Stelle passierten, wollten ein Bild mit mir schiessen. Ich war unglaublich begehrt und wurde viele Male abgelichtet, wie ich ganze Familien umarmen und in die Kamera lachen durfte. Eigentlich wollten sie nichts weiter von mir wissen. Eine Fotografie mit einem Fremden war ihnen genug, um sie irgendwo auf ihrem Hausaltar auszustellen. 

    Jetzt befanden wir uns bereits im neuen Jahr. Ich schrieb dazu: «Die Geschichte mit P. geht irgendwie weiter, ich denke unaufhörlich an ihn, wie überhaupt alles irgendwie weitergeht. Das ist sowieso eines meiner Lieblingsthemen, dass sich Veränderungen oft erst nachträglich erkennen lassen. Natürlich, man kann Veränderungen herbeiführen, indem man den Wohnort wechselt, die Arbeit wechselt, den Partner wechselt, aber oft geht die gleiche Chose in neuen Kleidern weiter. Das Äussere hat zwar gewechselt, doch das Innere noch nicht zwangsläufig. Verändere ich mich denn innerlich? – Schwierig, es selbst zu beurteilen.»

    Zum Abschluss meines Aufenthalts wünschten sich meine Gastgeber ein Schweizer Essen. Zuerst dachte ich an ein Käsefondue, doch ich musste feststellen, dass ich dafür wohl etwas viel Logistik mit unsicherem Ausgang hätte betreiben müssen. Wo hätte ich mir ein Caquelon und lange Gabeln ausleihen können? Auch dem Käse traute ich nicht, und das verfügbare Fladenbrot vom Markt hätte sich wohl nur begrenzt für dieses Vorhaben geeignet. Also Rösti. Beim Kartoffelkauf wurde ich von einem Dutzend Einkaufshelfern begleitet. Alle priesen unterschiedliche Kartoffelsorten an, die dort auf dem Boden zu Türmen aufgeschichtet lagen. Blitzartig kam mir das Fehlen eines Sparschälers in den Sinn, was den Entschluss erleichterte, für die Rösti gekochte Kartoffeln zu verwenden, bei denen das Schälen der Haut wesentlich leichter fällt. Dazu machte ich eine Hühnerfricassée an Kokosmilch, was ich so noch nie ausprobiert hatte. Da aber A. und den Buben der Vergleich fehlte, passierte das Gericht als Schweizer Spezialität ohne Tadel…

    Dann der Abflug. Der Flughafen damals ein Albtraum, in allen Teilen vernachlässigt, staubig und mit sturem Personal versehen. Bei meiner Ankunft zehn Tage zuvor schon der Schock, dass mein Koffer bei der Gepäckausgabe nicht dabei war, und ich in Kalkutta erst einmal Zahnpasta, Socken und ein paar Ersatzunterhosen kaufen musste. Als wir Tage später nachschauen gingen, ob mittlerweile der Koffer angekommen sei, schien ich dort der erste zu sein, dem je ein Gepäckstück verloren gegangen ist. Niemand kannte das Procedere, alle stellten sich an, als ob sie vorher noch nie mit dieser Art von Problemen konfrontiert gewesen wären.

    In der Maschine der Binam Bangladesh Airlines vor dem Start dann die Verlesung eines Gebets. Und die Zwischenlandung später in Dhaka kündigte der Pilot mit «inshallah» an. Nun gut, ich bin immer noch da. A. schickte mir später ein SMS des Inhalts, die Buben hätten als liebstes Erinnerungsstück an mich meine gebrauchten Zahnstocher in ihre Vitrine gestellt. 

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©Nikolaus Wyss

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 Noch ein paar Städtebemerkungen hier zum Anclicken:

"Zurückbleiben bitte" - Berliner Impressionen

 - Meine Mexiko-Wochen

- Zürich, Ende September

- Ein Tag in London

- Wieder in Bogotá

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Donnerstag, 4. Januar 2024

Adieu Paris - Paris adieu

 

Für eine Fahrt nach Brüssel empfehlen die Schweizer Bundesbahnen den TGV über Paris. Laut Fahrplan stehen dem Fahrgast ganze 45 Minuten zur Verfügung, um von der Gare de Lyon zur Gare du Nord zu gelangen. Was für ein Gehetze. Vor vielen Jahren habe ich das einmal gemacht mit meiner Mutter im Schlepptau. Nie wieder. Ich entschied mich deshalb, diesmal in Paris einen Zwischenhalt einzulegen und erst am darauffolgenden Morgen weiterzufahren nach Belgien.

Als ich in Paris ankam, regnete es. Ich spannte meinen Knirps auf, buckelte den kleinen Rucksack und unterzog den neu erstandenen Schuhen einem Wassertest. Ich wanderte der Seine entlang, erwischte fotografisch eine Taube beim Abflug, tauchte später ins Gewusel des 2. Arrondissement ein, um von dort, immer der Nase nach, meine Absteige an der Rue Notre Dame de Lorette im 9. Arrondissement zu erreichen. Auf dem Weg legte ich bei einem Bistro einen Zwischenhalt ein und ass libanesisch anmutende Speisen. Was mir auch diesmal auffiel, und was schon meine früheren Paris-Eindrücke prägte, war die Attitüde der Kellner. Sie performen in einer Mischung aus Nonchalance, Arroganz und Eleganz, die ich in dieser Ausprägung von keiner anderen Stadt her kenne. Sie geben dem Gast jederzeit das Gefühl, sich hier in Paris zu befinden, dem zivilisatorischen Zentrum der Welt. Hier diktiert als legitime Vertretung der Parisiens das Servierpersonal die Verkehrs- und Verhaltensregeln, denen man sich als Gast gefälligst zu unterwerfen hat. Für Einheimische kein Problem, doch für Besucher von auswärts stets eine Lektion. Sollten diese zudem des Französischen nicht ausreichend mächtig sein, so fällt man ganz durch und wird mit Geringschätzung und Nichtbeachtung bestraft. Das übertriebene Trinkgeld zum Schluss, das eigentlich als Beschämungsversuch gemeint war, wird als selbstverständlich und ohne ein Zeichen von Irritation einkassiert.

Was mich früher an Paris faszinierte, kam mir diesmal verkrustet vor. Als ob Paris in seiner eigenen Falle stecke, in einer Attitüde, die dem Neuling und dem unerschütterlichen Paris-Fan zwar immer noch Respekt abverlangt und imponiert, welcher aber auch eine gewisse Lächerlichkeit innewohnt, weil sie ohne Ironie und ohne spielerische Variation seit 50, vielleicht seit 100 Jahren dieselbe ist. Es ist dieselbe Aufführung, wie sie schon den Künstlern Francis Picabia, Fernand Léger, Pablo Picasso oder Getrude Stein dargebracht wurde, von der auch meine Mutter sprach, als sie vor dem Krieg ein Französisch-Semester in Paris absolvierte, eine Aufführung, in deren Genuss auch Yves Montant, Jacques Brel und Jacques Dutronc kamen, oder Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit ihren existentialistischen, feingeistigen Compatriots im Café de Flore oder im Les Deux Magots, damals noch mit einer Pfeife oder einer Gitanes oder Gauloise aus Maispapier im Mundwinkel und – natürlich – einer Baskenmütze schräg auf dem Kopf, einem Béret.

Ja, die Kundschaft hat sich mittlerweile rundum erneuert. Die Stadt von heute steht in grossen Teilen gewandelt da. Neue Museen, Strassen, imposante Gebäude und Radwege prägen nun ausserhalb des innersten Kreises das Stadtbild. Doch die Kellner sind geblieben, ob sie aus Marokko, Algerien oder aus den Banlieues stammen. Sie gehören zu Paris wie der Eiffelturm. Sie stellen sicher, dass sich in Paris jedes Mal ein spezielles Bewusstsein einstellt, das keinen Zweifel aufkommen lässt, wo man sich befindet. Sie verkörpern die Identität des Ortes, trennen diejenigen, die dazugehören, von denen, die zugelaufen sind.

Als Besucher verdanke ich der Stadt viel. Hier sah ich zum ersten Mal ein Stück von Fernando Arrabal und liess mich verprügeln, weil ich die Hand hob ohne zu wissen, was «frapper» heisst, worauf ich in die Arena gezogen wurde. Man stülpte mir eine Papiertüte über den Kopf und verhaute mich gehörig. In Paris sah ich grossartige Ausstellungen und besuchte immer wieder meine Lieblingsmuseen. Lange war es das Musée des Arts et Métiers, welches stets mein Bewusstsein stärkte, doch das richtige Studium, nämlich Volkskunde und Ethnologie, gewählt zu haben. Ich wandelte durch die Strassen der Rive Gauche im Wissen um die Möglichkeit, Pierre Bourdieu zu begegnen. Ich besuchte Herrensaunen im Wissen um die Möglichkeit, auf den schlüpfrigen Fliesen Michel Foucault über den Weg zu laufen. Den ersten Aufstieg auf den Eiffelturm schaffte ich in Gesellschaft meines Patenkindes Daniel, später dann noch mit Padi und noch später mit Chuma und zuletzt mit Danika. In Paris knüpfte ich meine Kontakte zu Afrika, in Paris sah ich jedes Mal inspirierende Theaterstücke und Opernaufführungen. Unvergesslich zum Beispiel der Saint François d'Assise von Olivier Messiën in der Opéra de Bastille, 2004. In Paris ass ich zuweilen unterirdisch schlecht und nie wirklich erstklassig (ausser bei den Arabern mit ihren Couscous und anderen Köstlichkeiten). Höhepunkte fanden für mich aus einem Land ohne U-Bahn oft auf langen Metro-Fahrten statt, wenn ich an brillanten Musikanten vorbeikam, welche die langen Umsteigetunnels in Tonhallen verwandelten. In Erinnerung an Paris kommt mir auch noch das Belangloseste in den Sinn: einmal schiss mir eine Taube auf den Kopf. Und so fort.

Ich schreibe über mein Paris, weil ich mich von dieser Stadt verabschieden will. Dankbar, dass es sie gibt, dankbar, dass ich mich an ihr immer mal wieder reiben konnte, doch einsichtig genug auch anzuerkennen, dass ich mich dort nie richtig heimisch fühlte. Sie war eine Art Disneyland (wo ich übrigens nie war), wofür ich jeweils viel Geld ausgab und jetzt zu zweifeln beginne, ob ich heute den erhofften Gegenwert noch bekomme. Ich kenne die Theateraufführung dieser Stadt mit den Tausenden von Statisten in den Restaurants zur Genüge, ich muss mir nicht mehr von jedem Kellner mit seinem elegant-lächerlichen Gehabe vorführen lassen, dass ich mich jetzt in Paris befinde. Ich entscheide mich, die Metropole jetzt aufs Niveau eines Umsteigeortes zu degradieren, zu einem französischen Olten sozusagen. So, wie die Taube weiss, wohin sie gehört und noch über Hunderte von Kilometern hinweg den Heimweg findet, so weiss ich, dass ich nicht nach Paris fliegen würde, wenn ich heimkehren müsste. Ich flöge vermutlich nach Bogotá, auch wenn ich dort nicht zu den Einheimischen zähle. Aber wenigstens bilden sie sich dort nicht ein, der Nabel der Welt zu sein. Das verbindet mich schon ein bisschen mit dieser Stadt. 

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©Nikolaus Wyss

 

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 Noch ein paar Städtebemerkungen hier zum Anclicken:

 

"Zurückbleiben bitte" - Berliner Impressionen

 - Meine Mexiko-Wochen

- Zürich, Ende September

- Ein Tag in London

- Wieder in Bogotá

- Rösti in Kalkutta 


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