Donnerstag, 25. April 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 5)

Boteros Sohn Pedrito, der mit vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Der Künstler wählte während acht Monaten kein anderes Sujet mehr als seinen verunglückten Sohn, hier in Unifrom auf Pferd. Aus dem Fenster des 1. Stocks des Hauses rechts unten winkt übrigens ohnmächtig der Künstler um Hilfe. Bei diesem Autounfall verlor er selber beinahe seine rechte Hand...

15. April
Hinter das Geheimnis der grotesk-fetten, rubens-ähnlichen Leiber liess mich auch der Dokumentarfilm über den kolumbianischen Künstler Fernando Botero nicht blicken. Er spricht im Streifen zwar vom Volumen, das er in reinster Form im Rinascimento und dort im Speziellen in den Werken von Piero della Francesca für sich entdeckt habe, doch erklärt dies noch nicht viel. Vielleicht eher noch die Diskussion zum Schluss des Films, wo es um das Stilbildende und das Alleinstellungsmerkmal eines Künstlers geht. Was macht denn einen guten Künstler aus? - Botero: dessen Kunst soll wiedererkennbar, unterscheidbar und deshalb einmalig sein
Dieser Anspruch ist ihm vollends gelungen. Ich liebe sein stets auf den ersten Blick erkennbares Werk, das witzig und anklägerisch, demaskierend und liebevoll zugleich ist. Botero ist für mich auch deshalb von Bedeutung, weil er wohl einer der ersten Künstler Kolumbiens ist, der nicht etwas nachempfindet, was anderswo erfunden worden ist, wie die vielen akademisierenden kolumbianischen "Gaugins", "van Goghs" und "Cezannes", die hier gerne in angesehenen Sammlungen herumhängen. Botero ist vielmehr seit Anbeginn ein eigenständiger Erfinder seines eigenen Stils, der von Medellin aus in die ganze Welt hinausstrahlt und ein abundantes und leicht verrücktes Kolumbien zeigt, wie wir es gerne sehen wollen. Er malt Charakterfiguren, die ihre Äquivalenz in der Literatur eines Gabriel García Márquez wiederfinden. Beide Lebenswerke schafften es, einen legitimen Platz im Weltkulturerbe zu beanspruchen. 
Botero zeigt sich ausserdem von einer Grösszügigkeit sondergleichen: er stiftete einen Grossteil seiner gewichtigen Werke dem Museo de Antioquia in Medellin und dem Museo Botero hier in Bogotá, wobei sich seine Schenkungen nicht nur auf eigene Werke beschränken sondern auch Bilder und Skulpturen von Miro, Picasso, Monet, Beckmann, Henry Moore, Max Ernst, Salvator Dalí und vielen anderen umfassen, woraus sich nebenbei leicht schliessen lässt, dass der Künstler zu ansehnlich viel Geld gekommen sein muss in seinem eigenen Leben.

20. April
Meine Gotte wäre heute 111 Jahre alt geworden. Sie starb mit 103. Das letzte Mal, als ich sie besuchte, lag sie zwar im Pflegeheim, konnte aber noch eine ganze Reihe von Goethe-Gedichten auswendig rezitieren. Auf meine Frage, wie es ihr denn gehe, antwortete sie: immer abwärts, immer abwärts. Dabei wollte sie mit dem Zeigefinger nach unten deuten. Doch ihre durch Arthrose beschädigten Finger zeigten seitwärts und keineswegs nach unten. Das beeindruckte mich tief und gab ihrer Aussage eine heitere Note. 

21. April (Ostern)
Ist sie jetzt tot oder doch nicht? Vor über einem Jahr gestorben, erhält die Künstlerin Marianne Eigenheer zu ihrem gestrigen Geburtstag auf facebook noch Dutzende von Glückwünschen für ein langes Leben. 
Mir ist ja klar, dass ich selber meinen fb-account nicht löschen kann, wenn ich tot bin. Darum geht es mir gar nicht. Ich finde es vielmehr bemerkenswert, einer virtuellen Gemeinschaft von Toten und Lebenden anzugehören. Das hat etwas Österliches. Jesus starb zwar am Kreuz, auferstand aber schon am 3. Tag. Seither ist er unter uns und begleitet uns, so wie es eben viele tote facebook-Freunde auch tun, indem sie noch unter uns weilen und unsere Glückwünsche empfangen... 

23. April (Osterdienstag)
Ich schrieb vor 29 Jahren am Osterdienstag in mein Tagebuch: Jesus, der auch für mich, der ich immer dicker werde und die Hosen kaum mehr zubringe, am Kreuz gestorben und anschliessend auferstanden ist: brächte der Ruhe in mein Leben? Oder wäre es vielleicht doch eher Buddha? 

25. April
Noch ein österlicher Nachtrag. Johan erzählt mir, dass seine Mutter ihm als Bub untersagt habe, an Karfreitag schwimmen zu gehen. Solche Vergnügungen würden dem Todestag Christi nicht gerecht. Er tat es trotzdem, und sie entdeckte es, weil er mit aufgequollenen Fingerkuppen heimkehrte. Sie kündigte darauf folgendes Verfahren an: weil Semana Santa sei und sie sich nicht versündigen wolle, werde sie die Strafe aufschieben bis am darauffolgenden Ostermontag. 
Als dann dieser Tag anbrach, schlug sie ihren Sohn windelweich. 
  

©Nikolaus Wyss 

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Samstag, 13. April 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 4)



31. März
Während des Sprungs aufs Buffet kommt ihr in den Sinn, dass sie das eigentlich nicht darf. Noch bevor sie landet, legt sie die Ohren flach, während ich vom Tisch aufspringe, drohende Laute ausstosse und in die Hände klatsche. Sofort macht sie sich aus dem Staub, versteckt sich unerreichbar unter dem Sofa und beginnt mit ausgedehnter Körperpflege, als ob diese schon von langer Hand geplant gewesen wäre. Und ich denke, sie denkt sich, dann warten wir halt, bis der alte Herr zu Bette geht...

4. April
Der Mars steht mir vor dem Licht. Schier hätte ich einen Verleger gehabt, der bereit gewesen wäre, eine Auswahl meiner Blogs in Buchform zu veröffentlichen. Unter der Bedingung allerdings (die ich übrigens jedem hoffnungsvollen Schreibtalent auch gestellt hätte): zuerst etwas Grosses, ein Roman, ein zusammenhängender Text. Ich schickte ihm darauf das Fragment meiner Mars-Reise, einer fiktionalen Beschreibung meines Fluges dorthin in Begleitung von John, eines südafrikanischen Charmebolzen mit indischen Anteilen im Blut, mit Michelle, einer chinesischen Krankenschwester aus Malaysia, und mit Pedro aus Kolumbien (claro), der autistische Züge aufweist und als einziger an Bord etwas von Weltraumreisen versteht. Im Manuskript übrigens bin ich der Repräsentant der Alten Welt.
Dieser Reisebericht kam vor Jahren schon ins Stocken, weil mir die Worte fehlten und auch der Mut, den Geschlechtsakt im schwerelosen Zustand zu beschreiben, der zwischen John und Michelle hätte vollzogen werden sollen. Diese Hürde habe ich bislang noch nicht überwunden, so dass die Chance allmählich schwindet, je einmal ein paar meiner Blogs in Papierform zu sehen. Sei's drum.

9. April
Wie habe ich mich damals überhaupt gewaschen, in den 50er Jahren? Dusche gab's bei uns keine, und das Bad wurde in der Regel nur samstags eingelassen. Was in der übrigen Zeit? Haare waschen? Katzenwäsche? Mit dem Waschlappen halt? - Mir bleibt ein Gespräch unter Erwachsenen in Erinnerung, die über einen Lehrer meinten: Der trägt jeden Tag ein frisches Hemd und riecht nach Parfum. Der muss vom anderen Ufer sein. 
Und dann, mit siebzehn, wohnte ich ein paar Monate bei der befreundeten Arztfamilie V. Sie gewährte mir Asyl, während meine Mutter eine Weltreise unternahm. In deren Haus gab es eine Dusche, die ich regelmässig benutzen durfte. Eines Tages merkte ich, dass der wohlgepflegte Herr des Hauses mir beim Duschen offenbar schon eine ganze Weile zugeschaut hat. Ich genierte mich, er aber meinte nur: vergiss nicht, auch deine Vorhaut zu reinigen.
Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht einmal, dass ich eine habe, und schon gar nicht, wie dieses Stück heisst. Er aber verliess das Badezimmer erhobenen Hauptes, wahrscheinlich stolz auf sich selbst, sich an mir nicht vergriffen zu haben.

11. April
Auskundschaften aller Kaffeehäuser in Fussdistanz zu unserem Haus. Heute stattete ich der Pasteleria Helena de Lombana einen Besuch ab, hier in der Nähe an einer ruhigen Seitenstrasse gelegen. Bedienung freundlich, Gipfeli frisch, café latte anständig im Aroma, appetitliche Auslage. Doch schwierig zu erreichen, weil der Zugangsweg als Parkplatz benutzt wird, dazu allzu schmale und etwas wackelige Sitzgelegenheiten, kleine Tische. Was mir aber wirklich auf den Wecker ging, war der Sound. Schlecht eingestellte Lautsprecher stiessen einzig brummelige Basstöne hervor, die Melodie blieb kaum erkennbar. Dass die das nicht merken? Nicht merken wollen? Oder: es ist ihnen egal. Hauptsache, es tönt. - In mir läuft wieder einmal der ganze Film der Ignoranz ab, welchem ich hier in diesem Land begegne: wenn es dunkel wird, schalten die Autofahrer ihre Abblendlichter nicht wie selbstverständlich ein und lassen auch den Blinker blinken, wenn sie gar nicht abzubiegen gedenken. Im allgemeinen gilt: den anderen und seine Bedürfnisse übersehen, so lange es geht. Durchgänge versperren, auf dem Parkplatz den Motor stundenlang laufen lassen, geflissentlich Fussgänger ignorieren, an der Kasse small talken, auch wenn sich dahinter schon eine eindrücklich grosse Warteschlange gebildet hat... Und sollte sich einer doch bemerkbar machen und reklamieren, so tut man überrascht: Que pena con usted - oh welch Ungemach für Sie. 
Doch die Mehrheit verzichtet, ihrer Ungeduld lautstark Ausdruck zu verleihen, sie nimmt die Umstände schicksalsergeben hin und wartet geduldig, bis sich wieder, ohne Intervention, eine Lücke auftut. 
Ich verliess die Pasteleria kommentarlos und ohne Wunsch, dorthin zurückzukehren. Que pena. Oder so: ich werde mich in Zukunft zuerst in dieses Kaffeehaus hineinhören und entscheide erst dann, ob ich bleiben will.

12. April
Angeregt durch die Lektüre von Gedichten, die mir Miguel-Angel jeden Mittwoch vorbeibringt, diese Woche waren es welche des Chilenen Jorge Teillier, bin ich gestern Abend in mich gegangen und habe das erste Mal seit 50 Jahren etwas aufs Papier gebracht, das zumindest den Anspruch auf Poesie hat, auch wenn ich nicht weiss, ob dieser gerechtfertigt ist. Egal. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Begegnung mit einem der damaligen Literaturpäpste Zürichs, nein, nicht mit Emil Staiger, sondern mit Werner Weber, der seinerzeit das Feuilleton der NZZ beherrschte und samstags auf der Frontseite der Zeitung mit den Initialen "ww" das Sagen hatte. Eine Autorität also. Weber schickte ich seinerzeit ein paar jugendliche Gedichte zu und bat ihn um seine Beurteilung. Zu meiner Überraschung schrieb er zurück und lud mich zu einer Unterredung in die Redaktion an der Falkenstrasse ein. Wir gingen jedes einzelne Gedicht durch, er machte seine Kommentare und ermutigte mich, fortzufahren, was ich dann sein liess.
Und jetzt dies:

Mein Haus 
Den Stimmen leih ich mein Haus 
Wem sie gehören
kümmert mich nicht
Was sie erzählen
entgeht mir. Ich hör nur
Geplapper, Geplauder und Lachen
Ich hör auch
- manchmal -
unsicheres Erwägen,
zähes Ringen um Worte,
als ob ichs wär,
der nicht weiss,
was es braucht,
die Stimmung zu schildern
die mich umhüllt hier
wie ein seidenes Tuch.
Alleine im Dachstock.
Nahe bei mir
und bei den andern.

13. April 
Als ich heute die Bäckerei verliess, überraschte mich vor der Tür ein Stadtstreicher, von denen es hier ja unzählige gibt. Sie schlafen unter Brücken oder in Hauseingängen, wühlen im Abfall und betteln einen an. Ein Stadtstreicher also, dem ein unausstehlicher Geruch vorausging und mich veranlasste, mich mit ein paar Pesos sofort aus seinem Dunstkreis freizukaufen. Dieser Stadtstreicher aber richtete nach der Geldübergabe ein paar Worte an mich auf Englisch, mit einem guten Englisch notabene, einem Englisch, das dem meinen eindeutig überlegen war. Hingerissen zwischen Neugier und Abscheu obsiegte darauf die Neugier, und ich hörte, aus halb erträglicher Distanz, seinen Ausführungen zu. Er habe Englisch unterrichtet, und er erklärte mir seine Methode, bei welcher man dreimal schneller die Sprache erlerne als beim üblichen Büffeln. Dabei wedelte er mit einem Zeitungsfetzen vor meinen Augen herum. Die Methode sollte mir natürlich sofort einleuchten, und ich kam mir dumm vor, sie nicht zu begreifen. Mir kam aber in diesem Augenblick ein Schreiben meiner Cousine Elisabeth in den Sinn, welche mir unter Bezugnahme auf die Beobachtung, dass beim Fortschreiten des Alterns die Zeit immer kürzer und schneller werde, vor ein paar Tagen schrieb: «Ein Bekannter, der sich nach einer sehr früh beendeten, brillianten Anwaltskarriere zunehmend als Sozialfall durch Berns Altstadtgassen bewegte, erklärte mir vor etwa 30 Jahren, weshalb wir das Gefühl haben, die Zeit rase immer schneller: Weil für ein einjähriges Kind ein Jahr 100% seines Lebens ist, während es z.B. für einen 70jährigen nur noch 1,4% seines Lebens ist.»
Wie alt mag "mein" Stadtstreicher hier vor der Bäckerei sein? Ich vergass ihn zu fragen, wie schnell für ihn seine Zeit schon voranschreite (oder steht sie für ihn doch eher ohnmächtig still? - Jeden Tag dasselbe. Betteln um ein paar Münzen), und was er mit seiner übrig gebliebenen Zeit noch anzustellen gedenke. Bin aber froh, dass diese Fragen meinen Mund nicht verlassen haben. Sie wären wohl als verletzend und erniedrigend empfunden worden. 

©Nikolaus Wyss

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Freitag, 5. April 2019

Ein Osterbrief

Eine Art freudebringender Osterhase

Meine Lieben
Soll ich jetzt ins Lied meiner Grossmutter einstimmen, ins Lied auch meiner Onkels und Tanten, meiner Mutter und meines Vaters, die dereinst sangen, wie schnell doch die Zeit vergeht? Es dünkte sie alle, sie rase schneller mit jedem Jahr.
Ich kann nicht abstreiten, dass auch ich dieses Phänomen Jahr für Jahr heftiger empfinde. Feierte ich eben erst bei Vollmondschein und Salsa-Rhythmen grad noch meinen 70. Geburtstag, und jetzt sind schon ein paar Jährchen vorbei... Wo soll das bloss enden? 
Eine andere Beobachtung hingegen wiegt die Ohnmacht gegenüber der Zeit fast auf: Mit Amama, meiner Grossmutter, pflegten wir jeweils ein Fahri zu machen durch die prachtvolle Frühlingsblust im Emmental. Wir kehrten zu einer schmackhaften Forelle blau in einem der vielen Bären auf der Strecke ein, wir betrachteten andächtig die geraniengeschmückten Bauernhäusern, und wir suchten auf einem abgelegenen Friedhof den Grabstein einer längst verstorbenen Verwandten - und alles, was uns auf diesen Ausflügen widerfuhr, kommentierte sie dankbar mit den Worten: Dass ich das noch erleben darf! 
Auch bei mir herrscht dieses Gefühl vor. Mit jedem Tag stärker. Dass ich bei vollem Bewusstsein und bei unbeeinträchtigter Wahrnehmung dieses Kolumbien noch erleben darf. Dieses Kolumbien, das ich vor über 50 Jahren schon einmal betrat mit dem Gefühl, jetzt wirklich in der Fremde zu sein. Das weiche, gesüsste Brot war einfach nur schrecklich, der Kaffee ungeniessbar, die Post brauchte 14 Tage, und je länger ich mich dort aufhielt, umso klarer wurde für mich, dass ich in diesem Land nichts verloren habe. Reichlich deprimiert kehrte ich zwei Jahre später ins Heimatland zurück und hatte doch das Gefühl, dort etwas unerledigt hinterlassen zu haben. Es war die Niederlage meines Lebens.
Und jetzt, wieder hier, lebe ich das, was ich vor 50 Jahren vergeblich angestrebt hatte. Ich habe ein Haus, bin sorglos und gesund, bin umgeben von Freunden und Gästen. Schade nur, dass die Zeit so rast. Die aktuelle Übung besteht darin, den Augenblick zu geniessen, mir jeden Tag dankbar sagen zu dürfen, dass ich das noch erleben darf - in der vagen Hoffnung, damit dem Rasen der Zeit einen kleinen Dämpfer zu versetzen.
Frohe Ostern! 

© Nikolaus Wyss

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Montag, 25. März 2019

Beinebaumeln am Hirschengraben

Blick von der warmen Mauer des Hirschengrabens hinunter auf den Seilergraben

So, wie Träume zuweilen rätselhaft und scheinbar sinnlos die Nacht bestimmen, so beherrscht mich momentan am helllichten Tag eine Erinnerung, deren Sinn sich mir bislang nicht erschliessen will. Sie streift meine Gedanken seit Tagen und fängt damit an, dass ich mich immer darüber wunderte, dass der Seilergraben Seilergraben heisst und der Hirschengraben Hirschengraben. Beim Seilergraben kann ich mir den Graben noch halbwegs vorstellen. Dort hört die Altstadt auf, dort könnte ein Graben den allzu leichten Zugang zur Stadt verhindert haben. Doch dann gibt es diese Mauer bergwärts und auf dieser Mauer eine Strasse, die Hirschengraben heisst. Dabei ist dort weit und breit kein Graben erkennbar, sondern, wenn schon, eine Allee, ein Höhenweg mit Blick in die Wohnungen der Häuser am Seilergraben unten.
Stadthistorikerinnen und -historiker mögen diesen Umstand erklären können. Mir gefiel aber die Ungereimtheit der Grabennamen und deren Lage im Stadtganzen zu gut, um auf meine Fragen einleuchtende Antworten finden zu wollen.
Die Erinnerung, die mich jetzt heimsucht, geht so: Dass diese Mauer, die den Hirschengraben trägt, damit dieser nicht zum Seilergraben hinuntersackt, sich bei direkter Sonneneinstrahlung recht ordentlich erwärmt, diese Hitze bis zum späteren Abend speichert und wieder abstrahlt. Sitze ich auf dieser Mauer, wird es mir am Hintern warm. Zur Verweillust gehört auch, die Beine ins Leere baumeln zu lassen und nichts zu tun. Es ist später Nachmittag und die Sonne geht bald unter. Im Seilergraben aber staut sich der Verkehr, Bus und Tram profitieren wenigstens von ihrer Überholspur. – Ich weiss beim besten Willen nicht, wie es kommt, dass mir diese Szene auf der Mauer so vertraut ist. Als ob es zu meinem jugendlichen Alltag gehört hätte, dort zu sitzen und friedlich vor mich hin zu sinnieren. Doch offenbar genügten die wenigen Male dortigen Verweilens, um eine Erinnerung einzubrennen, die hier im kalten, regnerischen Bogotá plötzlich wieder hochkommt, als ob sie hier zu ihrer besonderen Bedeutung gelangen würde. Ist das eine verschrobene Art von Heimweh an alte Zeiten, die auch dann nicht zurückkommen würden, könnte ich heute noch auf dieser Mauer sitzen?


© Nikolaus Wyss

Zumindest geografisch verwandt mit diesem Beitrag sind diese Einträge:     - Winkelwiese 6  und  - An der Winki

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Dienstag, 19. März 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 3)

2. März 
In meinem Facebook-Freundeskreis gibt es einen mir nicht näher und nicht persönlich bekannten Menschen, der seit Jahr und Tag mit Krankheiten, Herzinfarkten in Serie, allerlei Rückschlägen von Kopf bis Fuss und mit Notfall-Einweisungen konfrontiert ist. Seine schlimmen Erfahrungen mit Spitälern und Ärzten, in seinen Augen allesamt inkompetent, sind Legende. Manchmal postet er Nahaufnahmen seiner offenen Beine, das andere Mal sieht man die Schläuche, wie sie an seinem Spitalbett herunterbaumeln. 
Fein säuberlich und akribisch lässt er die Leserschaft an seinem Krankheitsverlauf teilhaben, schimpft und jammert zuweilen, manchmal glänzt er auch mit Galgenhumor und gewährt uns so Einblick in seine Befindlichkeit und in mancherlei Grenzerfahrungen.
Grenzerfahrungen aber machen auch wir in der Konfrontation mit seinem Schicksal, mit diesem schmerzvollen Aufundab. Wie können wir uns gegenüber so wenig Verheissung und Hoffnung nur verhalten? Sind wir in der Lage, darauf adäquat zu reagieren? Die Lektüre der Antworten auf dessen Posts ist ein interessantes und spannendes Panoptikum von Äusserungen der Anteilnahme, des Mutmachens, der eigenen Ratlosigkeit, zuweilen auch der versteckten Abscheu, des Entsetzens und des Sarkasmus. Der Mann hat schon so vieles durch- und überlebt, dass man schon gar nicht mehr glaubt, dass er je einmal an seinem Leiden sterben könnte. 

Jetzt sind bei ihm zum wiederholten Mal Suizidgedanken en vogue. Auf tiefgrauem Hintergrund schreibt er zum Beispiel: "Noch zwei Wochen wie die letzten. Wie es aussieht: Zeit für Suizid (Pentotal)". Und flugs stehen fb-Freunde in den Löchern, um ihm dies mit den unterschiedlichsten Strategien und Worten auszureden. Da heisst es zum Beispiel:
"Also zwei Wochen sind ja überschaubar", worauf der Patient antwortet: "Zeitlich ja, aber überlebbar nicht." Und der Helfer legt nach: "Jetzt bist du dem Tod so oft von der Schippe gesprungen." 
Hier könnte nun ein 254 Seiten umfassender Zitatenschatz des abwechslungsreichen Krankendiskurses folgen, der für einen findigen Verleger ein gefundenes Fressen wäre. Nur so als Tipp. Variante: Würde ich von einem Psychologie-Studierenden gefragt, worüber er denn eine Doktorarbeit schreiben solle, so gäbe es hier genügend Stoff für eine interessante Analyse, wie eine Social-Media-Leserschaft mit Grenzerfahrungen eines ihrer Freunde umgeht. Shitstorms sind bisher ausgeblieben. Irgendwie tröstlich.

4. März
Letzte Nacht habe ich mich wieder einmal in Schlaflosigkeit geübt und dafür Radio gehört. Bei Gabriel Faurés wunderbarem Lied Après un rêve begann ich vor mich hinzuweinen. Morgens um drei: 

Après un rêve 

Dans un sommeil que charmait ton image 
Im Schlaf erschien mir dein Antlitz 
Je revais le bonheur ardent mirage, 
Ich  träumte vom feurigen Glück 
Tes yeux etaient plus doux, ta voix pure et sonore, 
Deine Augen waren so lieblich, Deine Stimme schön und rein
Tu rayonnais comme un ciel eclaire par l'aurore; 
Du strahltest wie der Himmel beim Sonnenaufgang 
Tu m'appelais et je quittais la terre 
Du riefst mich und ich erhob mich 
Pour m'enfuir avec toi vers la lumiere, 
Um mit zu dir ans Licht zu gelangen
Le cieux pour nous entr'ouvraient leurs nues, 
Der Himmel öffnete für uns seine Wolken 
splendeurs inconnues, 
welch unbekannte Herrlichkeit,
Ieurs divines entre vues, 
welch himmlischer Anblick 
Helas! Helas, triste reveil des songes, 
Doch dann, welch trauriges, sorgenvolles Erwachen
Je t'appelle, o nuit, rends-moi tes mensonges, 
Oh Nacht, gib mir deine Lügen zurück 
Reviens, reviens radieuse, 
Komm, komm wieder, frohlocke, 
Reviens, ô nuit mystérieuse! 
Komm wieder, du geheimnisvolle Nacht
(Französischer Text: Romain Bussine)
 
So gefühlvoll dieses Lied, so abgrundtief romantisch und vollkommen schön. Und ich erinnerte mich plötzlich, wie ich damals vor über 40 Jahren in unserem Haus an der Bocklerstrasse in Schwamendingen am Klavier sitzen und meinen Freund und Mitbewohner, den Musikstudenten und Sänger Hans-Martin Bossert, zu diesem Lied begleiten durfte. Ich war stolz, dass ich ohne zu üben den Klavierpart schaffte und so am Wunder dieser Musik teilhaben konnte. Und dann streifte mich letzte Nacht der unangenehme Gedanke auch noch, dass ich mich ein Leben lang wohl eher unterfordert habe. Statt diese himmlische Melodie als Aufforderung zu verstehen, das Klavierspiel noch besser zu beherrschen und mit Hans-Martin zum Klingen zu bringen, zum Beispiel für die hinreissenden Richard Strauss-Lieder oder den ganzen Liedschatz von Schubert, Schumann und Brahms, liess ich es aus lauter Bequemlichkeit bei diesem einen Höhepunkt bleiben und wandte mich weniger anforderungsreichen Tätigkeiten zu. 
Ich bin heute der Meinung, dass mein Leben fast ausschliesslich aus Schlupflöchern bestand, um mich vor den anforderungsreicheren Teilen zu drücken, davor, mit Ehrgeiz und Ausdauer Ziele zu erreichen. Dieses eine Lied erinnert mich an uneingelöste Vorhaben. Heute lädt es mich nostalgisch dazu ein, in dem, was nicht geschehen ist, keine Defizite zu erkennen, sondern das Leben so zu nehmen, wie es mir halt widerfuhr. 

5. März
Meine Erfahrungen mit der Parahotellerie: Am meisten lassen meine Gäste beim Abschied ihr Haar-Shampoo zurück. Musste seit letztem Sommer keines mehr selber kaufen. Und mein Haar bedankt sich für die Abwechsung der Düfte und der Wirkkraft...

6. März
Mein venezolanischer Freund Rodrigo berichtet mir heute einmal mehr entnervt über die Grenze hinweg: «Pero para los políticos revolucionários es mentira que pasa algo. Siempre buscan una excusa y un culpable a todas las desgracias.» - Oder auf Deutsch: «Für die revolutionär gesinnten Politiker hier ist alles nur Lüge, was über die aktuellen Vorgänge berichtet wird. Sie suchen immer nach einer Ausrede und nach Schuldigen für das herrschende Elend.» 
Und dann gibt es einen ganzen Hardliner-Block von Menschen, auch in der Schweiz, die einem weismachen wollen, dass Nicolás Maduro die einzige richtige Lösung sei für dieses Land am Abgrund, demokratisch legitimiert und deshalb unantastbar, denn die Amerikaner hätten es eh nur aufs venezolanische Oel abgesehen. Derweil überqueren bei Cúcuta täglich Hunderte wenn nicht Tausende von Flüchtlingen die Grenze, wollen dem Hunger entkommen und den Grosseltern zu Hause Geld heimschicken, und wenn sie hier in Bogotá landen, so verkaufen sie Schleckzeug in den Bussen, die Kleinkinder auf dem Arm, und viele der Jungen und Gutaussehenden versuchen, sich mit Prostitution über Wasser zu halten. Die Online-Dating-Portale Grindr und Tinder laufen heiss. Ich habe mich dort schon mit attraktiven Zahnärzten und Hochschullehrern unterhalten, die sich für eine Pizza verkaufen würden. 

19. März
Ich weiss etwas, was sie nicht weiss und nicht einmal ahnt. Sie wächst heran, und wenn sie nicht vor sich hindöst, schleckt und putzt sich in einem fort, lässt Haare zurück, frisst in einem Zug den Napf leer, wenn es Futter gibt, und geniesst sowohl die Ruhe des Augenblicks als auch meine Gesellschaft. Manchmal ist sie zu wildem Spiel aufgelegt, so krallig, dass Möbel und Kleider Maschen lassen. 
Würde ich es ihr sagen, was ihr bevorsteht, würde sie es weder verstehen noch begreifen, so dass mir in dieser Angelegenheit nur der quälende Monolog bleibt, der in der existentiellen Frage mündet, ob es mir überhaupt erlaubt ist, ihr die Chancen auf Mutterfreuden zu unterbinden. 
In zwei Tagen schon werden wir sie zum Tierarzt bringen, und belämmert wird sie nach einem halben Tag als ein anderes Tier zurückkehren, mit Halskrause bestückt, welche sie bestimmt mehr als nur stören wird. Kein Kater wird sich je um sie bemühen und seine Duftnoten am Eingang hinterlassen. Sie wird träge werden und gefrässig bis zum Dicksein, und ich werde Schuld auf mich geladen haben und habe dafür erst noch 180.000 Pesos bezahlt. 

©Nikolaus Wyss


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Montag, 4. März 2019

Stress Design (壓力設計)

Gastdozent Wyss mit einer gelehrigen Studentin, diese politisch unkorrekt umarmend

Kaum wurde im Laufe des Jahres 2009 meine Kündigung als Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern ruchbar, meldete sich mein chinesischer Kollege und Freund Zhan Binghong, gratulierte mir zum Entscheid und schlug mir vor, an seiner Universität, dem Beijing Institute of Fashion Technology (BIFT), ein paar Kurse zu geben. Er fragte mich, welche Themen mir denn am Herzen lägen, und unterbreitete mir für den bevorstehenden Einsatz gleich einige Zeitfenster.
Hoch motiviert heckte ich vier Vorschläge aus, von denen ich annahm, sie bei genügender Vorbereitung zu meistern:
1. Interculturality and Design
2. Design as Factor of Added Value
3. Branding and Specific Local Needs
4. Diversity Design
Binghong antwortete schon am nächsten Tag und erklärte, die ersten drei Punkte seien bereits Thema an seiner Uni, doch Punkt vier würde ihn besonders interessieren, denn er habe davon noch nie etwas gehört.
Nun, mir ging es genauso. Ich interessierte mich zwar für den Faktor Diversität in arbeitsteiligen Produktionsprozessen, doch viel mehr als dieser attraktive, vielversprechende Modultitel war auch mir damals nicht bekannt. Überzeugt, diese Herausforderung aber mit genügenden Informationen hinzukriegen, liess ich zur Sicherheit noch unseren Forschungsbeauftragten zu mir aufs Rektorat kommen und bat ihn abzuklären, was denn in Wissenschaftskreisen unter Diversity Design schon alles publiziert worden sei. Ein paar Tage später meldete er sich mit einer Ausbeute, die mich mehr als nur ratlos machte. Ausser für einen Tattoo-Schuppen im US-Staat New York war damals gemäss seinen Recherchen dieser Begriff nirgends gebräuchlich.
Da begann ich zwischen der Angst eines Hochstaplers, entdeckt zu werden, und der Unbekümmertheit eines Draufgängers, für den es immer eine Lösung gibt, hin und her zu schwanken. Diese Ambivalenz gegenüber diesem Nicht-Thema hielt auch noch an, als ich mich Monate später in Beijing im Hotel Tibet einquartierte. War das Haus nicht eine wunderschöne Verkörperung des chinesischen Umgangs mit Diversität? Das Hotel hiess zwar grosszügig nach einer beachtlichen und gefürchteten Minderheit im Land, unterschied sich aber ausser durch ein paar Fotos von Stupas und Berglandschaften des Himalaja im Flur in nichts von einem gewöhnlichen Hotel, wie es sie im chinesischen Reich zu Tausenden gibt. Das Zimmer war überheizt, gleichzeitig zog es durch die Fensterritzen. Der Smog verhinderte die Sicht vom 15. Stockwerk hinunter auf die Strasse, und für meine Stadtgänge kaufte ich mir in einer nahen Apotheke einen grünen Atemschutz, wie er in unseren Breitengraden nur bei medizinischem Personal üblich ist, dort aber jeder zweite im öffentlichen Raum trägt.
Ich rang mich durch, den Workshop unter den halbwegs ehrlichen Titel Diversity Design – Wir untersuchen die Tauglichkeit eines vorerst noch unbekannten Begriffs zu stellen. Der Übersetzer, der mir zur Seite gestellt wurde, ein blitzgescheites Kerlchen, das vordem bei Microsoft Apps entwickelt hatte, brauchte jeweils für die Mandarin-Version meiner englischsprachigen Ausführungen doppelt so lang. Oft fragte ich mich, was er sonst noch alles zu sagen hatte ausser dem, was er zu übersetzen verpflichtet gewesen wäre.
Die Gruppe von etwa 20 Studentinnen und Studenten war hochmotiviert, aber auch so, wie ich Studierende von Luzern her kannte: Sie waren jeder Reflexion und jedem theoretischen Gedanken abhold und zogen das Gestalten vor, noch bevor sie genau wussten, was es denn überhaupt zu gestalten gab. Ich hingegen legte mehr Wert aufs Ausdeutschen des Begriffs Diversität und bemühte mich, mit drastischen Bildern dessen Reichtum, gesellschaftlichen Mehrwert und Komplexität zu schildern. Wie nebenher strich ich die Notwendigkeit hervor, dass dies auch ein Thema für Designer sei. Ich sprach von geistig und körperlich Behinderten und von Rollstuhlfahrerinnen, von Frauen und Männern, von Rechtlosen, Stadtstreichern, Wanderarbeitern, Seniorinnen am Rollator, von Homosexuellen und braven Familien, um das Bild einer vielgestaltigen Gesellschaft zu skizzieren, wie es gerade China auszeichnet, dem damals noch bevölkerungsreichsten Land der Welt.
Eisiges Schweigen war die Antwort. Hatten sie mich nicht verstanden? Oder hatte das Kerlchen falsch übersetzt? Oder berührte ich Themen, die als absolutes Tabu galten, auch unter jungen Studierenden, die ihre angebliche Unkonventionalität doch mit gefärbten Haaren und extravaganter Kleidung spazierenführten? Wobei: Im Klassenzimmer war es so eisig kalt, dass alle über ihren Tattoos, ihren bunten Hemden und Tüchern als oberste Schicht noch dicke, einförmige Daunenjacken trugen oder graue Wollmäntel. Wenn wir uns unterhielten, so bildete sich jeweils vor unserem Mund nebliger Hauch.
Ich selbst schärfte mit jedem Tag den Begriff und kam schon bald zum Schluss, dass sich Diversity Design eher zur Beurteilung von Design eigne und weniger für eigene Entwürfe. Ich steuerte also während des Workshops auf einen Kriterienkatalog hin, mit welchem man designte Gegenstände auf ihre Diversitätstauglichkeit hin hätte prüfen können. Womit ich die gestaltungswilligen Jungen und Mädchen mächtig frustrierte, denn sie waren schon dabei, spezielle Handgriffe für die U-Bahn zu entwerfen und Schirme für Armlose.
Ich musste ihnen sagen, dass es dafür schon genug andere Design-Begriffe gebe und dass vielleicht solche Schirme Handicapierten zwar entgegenkommen mögen, aber für unsereins mit Armen nicht gerade praktisch seien und lächerlich aussähen.

Meine Bemühungen, einen Qualifikationsbegriff wie Diversity Design zu entwickeln, der vorhandenes Design in gut und weniger gut unterteilen könnte, und Design, das sich besonders gut für unterschiedlichste Gebrauchsgruppen eignet, mit einem Qualitätslabel auszuzeichnen, stiessen nur auf lauwarme Begeisterung. Während ich zunehmend zufrieden war, meinen Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben, beobachtete ich eine untröstliche Ernüchterung, welcher ich nichts entgegenzustellen vermochte. Das tat mir ausgesprochen leid, und ich versuchte, am letzten Tag in der Feedback-Runde unseren Workshop selbst als eine diverse Veranstaltung zu positionieren, in welcher jede und jeder mit ihren und seinen je eigenen Erwartungen und Vorstellungen hineingegangen war, ohne genau zu wissen, was sie oder ihn erwartet, und wo alle auf unsicherem Terrain ihre eigenen Erfahrungen machen mussten und durften. Ich selbst war eigentlich in jenem Moment überzeugt, einen wesentlichen Beitrag zu einer Begriffsbildung geleistet zu haben, musste aber einsehen, mich hier im winterlichen Beijing im völlig falschen Film befunden zu haben.

© Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 27. Februar 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 2)

In Fortsetzung der ersten Tagebuchauf-zeichnungen im Blog-Format folgt hier nun die zweite Ausgabe meiner kleinen Einträge. Diesmal ohne Fotos. 

6. Februar
Heute hat mich wieder meine Poesie-Muse Miguel Angel aufgesucht. Er sei am Schreiben seiner Familiengeschichte und schlüpfe dabei als Erzähler abwechselnd in die Person seines Onkels, seiner Mutter und seiner selbst. Ich konnte nicht umhin, ihm von meiner Lektüre des genialen Romans La Oculta zu berichten, den er zu meinem Erstaunen nicht gelesen hat. Der Autor Hector Abad entwickelt dieses grossartige kolumbianische Familienepos unter Verwendung dreier Erzählfiguren. Es sind die drei Geschwister, die in je unterschiedlicher Weise auf ihre eigene Geschichte, auf die Geschichte des Familiensitzes Oculta und die Geschichte Kolumbiens blicken. 
Als ob wir in einem Besserwisser-Modus befunden hätten, hielt Miguel Angel wenig später mit dem argentinischen Autor Mempo Giardinelli dagegen, dessen Buch Santo oficio de la memoria die Geschichte einer italienischen Auswandererfamilie nach Argentinien mittels Briefauszügen von dreissig Familienmitgliedern, zumeist Frauen, erzählt.
Daraufhin bestellten wir zum zMittag vom Italiener eine Pizza.

7. Februar
Abschiedsessen unseres mehrwöchigen Gastes K. Sie lud uns in ein besseres Restaurant unserer Wahl ein. Wir schlugen das Chato vor, wo ich zu meiner vollen Zufriedenheit vor einem Jahr meinen 69. Geburtstag gefeiert hatte. Diesmal aber war irgendwie der Wurm drin. Es fing damit an, dass jeder von uns unterschiedliche Menue-Karten ausgehändigt bekam. Später wussten die Kellner die einzelnen Gerichte mit ihren kunstvollen, rätselhaften Namen nicht richtig auszudeutschen. Eine gewisse Nervosität herrschte im Lokal, und eine der Vorspeisen war richtig versalzen. 
Meine Irritation korreliert in solchen Momenten jeweils mit den Ansprüchen, welche ein Restaurant sich selber vorgibt. Unperfekte Bedienung und Essen mit Verbesserungspotential stören mich weiter nicht, wenn Preis und Ausstattung im Rahmen dessen bleiben, den man erwarten darf. Staubig hingegen werde ich, wenn der Selbstanspruch nicht eingelöst werden kann. Als sich ein junger Mann als Socio des Restaurants zu erkennen gab, hielt ich mit Kritik nicht zurück. Darauf wurde die Nachspeise vom Hause spendiert, was ich wiederum sehr professionell fand.

8. Februar
Mein Hausgenosse Johan publizierte kürzlich seinen ersten Kurz-Rap, der in den sozialen Medien einigen Widerhall fand. Damit öffnet er für sich selber ein neues Betätigungsfeld und ich schöpfe für ihn Hoffnung auf eine erfolgreiche Nische. Bereits hat sich bei ihm Hugo, ein Musikerfreund aus Mexiko, gemeldet. Er würde mit ihm gerne einen Song produzieren. Seither lebt Johan in einem kreativen Flow.

Gestern beim Abendessen im Primitivo gab ich Johan zu möglichen Textideen meinen Senf dazu. Besonders tat es mir die folgende spontan entwickelte Geschichte an: Er, Johan, sei die Königin des Pazifik, schlug ich vor, Patin dreier Wale, die sich jeweils im Sommer in einer Bucht in der Nähe von Buenaventura einfinden würden. Als Bootsführerin würde sie mit Touristen aufs Meer hinausfahren und warten, bis sich die drei Gottenkinder namens Gorda, Marica und Mara einfinden und ihr aus Dankbarkeit mit viel Geschnaube und Flossenwackeln ein Tänzchen vollführen würden. Das gebe dann von berührten Touristen Extra-Trinkgeld. - Ich weiss nicht, ob Johan diese spinnerte Idee begeisterte, ich glaube, er rappt lieber von sexuellen Wirrköpfen und von der Diskriminierung von Schwarzen und Transsexuellen, die sich mit aufreizenden Songs an der Gesellschaft rächen. Mein Problem: ich verstehe schon rein akkustisch und wegen der Geschwindigkeit der Wortfolge Rapp-Lyrik kaum, weder auf Englisch noch auf Spanisch. Noch schlimmer: ich mag schon gar nicht hinhören, wenn Johan unter der Dusche oder wo auch immer sämtliche Texte von Nicki Minaj oder Travis Scott runterzuraspeln vermag. - Wobei: der folgende Song gefällt mir auch, und die durchaus anstössige, wenn auch total nachvollziehbare Lyrics verstehe sogar ich: Wake up von Travis Scott.

9. Februar
Beim Frühstückstee und beim Parfum bin ich heikel. Finde ich keinen Nachschub für meinen vietnamesischen Silver Sencha, so ist der Morgen schon ziemlich aus dem Lot. Und geht mein teures Chanel Bleu zur Neige, so fühle ich mich schon ziemlich nackt. 
Ich meinte schon, eine Zeit der Entblössung sei am Anbrechen, weil ich hier in Bogotá dieses Luxusprodukt einfach nicht finden konnte. Heute aber stiess ich im Shopping Center Unicentro per Zufall auf das begehrte Wässerchen. Erleichtert hielt ich es in den Händen und zückte schon die Kreditkarte, als die stark geschminkte Dame mit aufgeklebten Wimpern mir streng beschied, sie würden nur Bargeld annehmen. Was? In dieser vornehmen Umgebung? Wer führt schon 550.000 Pesos so einfach in seiner Tasche spazieren? An einem Bancomaten müsste man sogar ein zweites Mal nachfassen, weil bei den meisten Maschinen die höchste Bezugssumme bei 400.000 Pesos liegt. 
Ich hatte also die Wahl zwischen Stolz und Bargeldholen. Zu meinem eigenen Erstaunen obsiegte darauf das Nacktsein. Erhobenen Hauptes verliess ich den Laden und kehrte nicht mehr zurück.

10. Februar
Die obige Geschichte ist noch nicht zuende. Heute stiess ich abermals auf Chanel Bleu. In einer anderen Filiale. Auch hier: Bezahlen nur mit Bargeld möglich. Schon wollte ich ein weiteres Mal erhobenen Hauptes das so vornehme Geschäft wieder verlassen, als sich Nubia, die Geschäftsleiterin, vordrängte und mich fragte, ob ich denn nicht schon bald Geburtstag hätte. Ich bejahte, worauf sie mir sofort 10 Prozent Preisnachlass in Aussicht stellte. Der Bancomat stünde grad um die Ecke. Da wurde ich schwach, holte Geld und laufe seitdem wieder unentblösst durch die Gegend.

14. Februar
Schlaflosigkeit ist für mich eigentlich kein Problem. Ich höre mir dann den Podcast der Sendung Diskothek im Zwei an. Sie ist das ultimative Training im Ohrenspitzen. Da diskutieren zwei ExpertInnen und vergleichen Aufnahmen desselben Musikstückes miteinander. Es ist wohl der beste, lehrreichste und spannendste Zeitvertrieb, den SRF auf Kanal 2 zu bieten hat. Je akribischer umso interessanter. Und es reut mich, wenn ich dann doch bei der Aufnahme zwei im dritten Durchgang wieder einschlafe. Wer hat jetzt das Rennen gemacht? - Merkwürdig nur, dass ich am nächsten Tag nicht mehr danach frage und mich viel lieber schon auf die nächste Sendung freue.

21. Februar
Gestern haben wir also meinen runden Geburtstag gefeiert. Wir tanzten zu den Rhythmen einer siebenköpfigen Live-Salsaband die Beine aus dem Leib und verköstigten uns mit einer Hühnersuppe im Stil eines Sancocho. Mit meinen Schweizer Freunden, die den Geburtstag zum Anlass nahmen, nach Kolumbien zu reisen, assen wir zuvor zu Mittag in der Chicheria Demente und gingen anschliessend zur Plaza del mercado del 7 de agosto, um für die Suppe ein paar Gemüse einzukaufen. Die Suppenhühner hatte ich zwei Tage zuvor schon ausgekocht, damit das Fett erkalten und abgeschöpft werden konnte. 
Jetzt bin ich etwas erschöpft. Es ist aber eine zufriedene Müdigkeit.

23. Februar
Vorgestern strahlte das Schweizer Fernsehen eine Dokumentation zum 90. Geburtstag der allzu früh verstorbenen Heidi Abel aus. Ich sah mir auf dem Handy die Sendung in mehreren Etappen an.  
Durch die Fernsehtätigkeit meiner Mutter in den 60er Jahren, in deren Sendungen auch Heidi Abel ihre Auftritte hatte, kannte ich die Fernsehpionierin relativ gut. Heidi plante für den Sommer 1970 eine Auszeit bei einem Guru in Indien und fragte mich, ob ich während dieser Zeit ihr Häuschen in Lützelsee und ihre Katze hüten würde. Sie übergab mir für diese Zeit auch ihren Mini, worauf ich  in ihrem Häuschen einen romantischen Sommer mit dem Brasilianer Luiz Duarte verbrachte, der damals eigentlich der Geliebte eines Swissair-Flight Attentant hätte sein sollen, sich aber Gelegenheiten wie mich nicht entgehen lassen wollte...
Das wohl eindrücklichste Filmdokument zu Heidi Abel wurde leider in der TV-Dokumentation vom vergangenen Donnerstag nicht verwendet und stammt aus dem Dokumentarfilm von Tobias Wyss. Man sieht darin Heidi Abel am Telefon im Gespräch mit einer ihr unbekannten Zuschauerin. Der Anruf kam ungelegen und wäre eigentlich leicht zu beenden gewesen. Aber nein, obwohl Heidi immer wieder darauf aufmerksam machte, dass sie jetzt keine Zeit für ein Gespräch habe, war es gleichwohl sie, die das Gespräch weiterzog und weiterzog und bis zur Erschöpfung des Zuschauers weiterzog. Diese tragische Darstellung von Selbstzerrissenheit dieser schweizbekannten Person bleibt mir bis auf den heutigen Tag in unauslöschlicher Erinnerung.


©Nikolaus Wyss

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