Montag, 25. März 2019

Beinebaumeln am Hirschengraben

Blick von der warmen Mauer des Hirschengrabens hinunter auf den Seilergraben

So, wie Träume zuweilen rätselhaft und scheinbar sinnlos die Nacht bestimmen, so beherrscht mich momentan am helllichten Tag eine Erinnerung, deren Sinn sich mir bislang nicht erschliessen will. Sie streift meine Gedanken seit Tagen und fängt damit an, dass ich mich immer darüber wunderte, dass der Seilergraben Seilergraben heisst und der Hirschengraben Hirschengraben. Beim Seilergraben kann ich mir den Graben noch halbwegs vorstellen. Dort hört die Altstadt auf, dort könnte ein Graben den allzu leichten Zugang zur Stadt verhindert haben. Doch dann gibt es diese Mauer bergwärts und auf dieser Mauer eine Strasse, die Hirschengraben heisst. Dabei ist dort weit und breit kein Graben erkennbar, sondern, wenn schon, eine Allee, ein Höhenweg mit Blick in die Wohnungen der Häuser am Seilergraben unten.
Stadthistorikerinnen und -historiker mögen diesen Umstand erklären können. Mir gefiel aber die Ungereimtheit der Grabennamen und deren Lage im Stadtganzen zu gut, um auf meine Fragen einleuchtende Antworten finden zu wollen.
Die Erinnerung, die mich jetzt heimsucht, geht so: Dass diese Mauer, die den Hirschengraben trägt, damit dieser nicht zum Seilergraben hinuntersackt, sich bei direkter Sonneneinstrahlung recht ordentlich erwärmt, diese Hitze bis zum späteren Abend speichert und wieder abstrahlt. Sitze ich auf dieser Mauer, wird es mir am Hintern warm. Zur Verweillust gehört auch, die Beine ins Leere baumeln zu lassen und nichts zu tun. Es ist später Nachmittag und die Sonne geht bald unter. Im Seilergraben aber staut sich der Verkehr, Bus und Tram profitieren wenigstens von ihrer Überholspur. – Ich weiss beim besten Willen nicht, wie es kommt, dass mir diese Szene auf der Mauer so vertraut ist. Als ob es zu meinem jugendlichen Alltag gehört hätte, dort zu sitzen und friedlich vor mich hin zu sinnieren. Doch offenbar genügten die wenigen Male dortigen Verweilens, um eine Erinnerung einzubrennen, die hier im kalten, regnerischen Bogotá plötzlich wieder hochkommt, als ob sie hier zu ihrer besonderen Bedeutung gelangen würde. Ist das eine verschrobene Art von Heimweh an alte Zeiten, die auch dann nicht zurückkommen würden, könnte ich heute noch auf dieser Mauer sitzen?


© Nikolaus Wyss

Zumindest geografisch verwandt mit diesem Beitrag sind diese Einträge:     - Winkelwiese 6  und  - An der Winki

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Dienstag, 19. März 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 3)

2. März 
In meinem Facebook-Freundeskreis gibt es einen mir nicht näher und nicht persönlich bekannten Menschen, der seit Jahr und Tag mit Krankheiten, Herzinfarkten in Serie, allerlei Rückschlägen von Kopf bis Fuss und mit Notfall-Einweisungen konfrontiert ist. Seine schlimmen Erfahrungen mit Spitälern und Ärzten, in seinen Augen allesamt inkompetent, sind Legende. Manchmal postet er Nahaufnahmen seiner offenen Beine, das andere Mal sieht man die Schläuche, wie sie an seinem Spitalbett herunterbaumeln. 
Fein säuberlich und akribisch lässt er die Leserschaft an seinem Krankheitsverlauf teilhaben, schimpft und jammert zuweilen, manchmal glänzt er auch mit Galgenhumor und gewährt uns so Einblick in seine Befindlichkeit und in mancherlei Grenzerfahrungen.
Grenzerfahrungen aber machen auch wir in der Konfrontation mit seinem Schicksal, mit diesem schmerzvollen Aufundab. Wie können wir uns gegenüber so wenig Verheissung und Hoffnung nur verhalten? Sind wir in der Lage, darauf adäquat zu reagieren? Die Lektüre der Antworten auf dessen Posts ist ein interessantes und spannendes Panoptikum von Äusserungen der Anteilnahme, des Mutmachens, der eigenen Ratlosigkeit, zuweilen auch der versteckten Abscheu, des Entsetzens und des Sarkasmus. Der Mann hat schon so vieles durch- und überlebt, dass man schon gar nicht mehr glaubt, dass er je einmal an seinem Leiden sterben könnte. 

Jetzt sind bei ihm zum wiederholten Mal Suizidgedanken en vogue. Auf tiefgrauem Hintergrund schreibt er zum Beispiel: "Noch zwei Wochen wie die letzten. Wie es aussieht: Zeit für Suizid (Pentotal)". Und flugs stehen fb-Freunde in den Löchern, um ihm dies mit den unterschiedlichsten Strategien und Worten auszureden. Da heisst es zum Beispiel:
"Also zwei Wochen sind ja überschaubar", worauf der Patient antwortet: "Zeitlich ja, aber überlebbar nicht." Und der Helfer legt nach: "Jetzt bist du dem Tod so oft von der Schippe gesprungen." 
Hier könnte nun ein 254 Seiten umfassender Zitatenschatz des abwechslungsreichen Krankendiskurses folgen, der für einen findigen Verleger ein gefundenes Fressen wäre. Nur so als Tipp. Variante: Würde ich von einem Psychologie-Studierenden gefragt, worüber er denn eine Doktorarbeit schreiben solle, so gäbe es hier genügend Stoff für eine interessante Analyse, wie eine Social-Media-Leserschaft mit Grenzerfahrungen eines ihrer Freunde umgeht. Shitstorms sind bisher ausgeblieben. Irgendwie tröstlich.

4. März
Letzte Nacht habe ich mich wieder einmal in Schlaflosigkeit geübt und dafür Radio gehört. Bei Gabriel Faurés wunderbarem Lied Après un rêve begann ich vor mich hinzuweinen. Morgens um drei: 

Après un rêve 

Dans un sommeil que charmait ton image 
Im Schlaf erschien mir dein Antlitz 
Je revais le bonheur ardent mirage, 
Ich  träumte vom feurigen Glück 
Tes yeux etaient plus doux, ta voix pure et sonore, 
Deine Augen waren so lieblich, Deine Stimme schön und rein
Tu rayonnais comme un ciel eclaire par l'aurore; 
Du strahltest wie der Himmel beim Sonnenaufgang 
Tu m'appelais et je quittais la terre 
Du riefst mich und ich erhob mich 
Pour m'enfuir avec toi vers la lumiere, 
Um mit zu dir ans Licht zu gelangen
Le cieux pour nous entr'ouvraient leurs nues, 
Der Himmel öffnete für uns seine Wolken 
splendeurs inconnues, 
welch unbekannte Herrlichkeit,
Ieurs divines entre vues, 
welch himmlischer Anblick 
Helas! Helas, triste reveil des songes, 
Doch dann, welch trauriges, sorgenvolles Erwachen
Je t'appelle, o nuit, rends-moi tes mensonges, 
Oh Nacht, gib mir deine Lügen zurück 
Reviens, reviens radieuse, 
Komm, komm wieder, frohlocke, 
Reviens, ô nuit mystérieuse! 
Komm wieder, du geheimnisvolle Nacht
(Französischer Text: Romain Bussine)
 
So gefühlvoll dieses Lied, so abgrundtief romantisch und vollkommen schön. Und ich erinnerte mich plötzlich, wie ich damals vor über 40 Jahren in unserem Haus an der Bocklerstrasse in Schwamendingen am Klavier sitzen und meinen Freund und Mitbewohner, den Musikstudenten und Sänger Hans-Martin Bossert, zu diesem Lied begleiten durfte. Ich war stolz, dass ich ohne zu üben den Klavierpart schaffte und so am Wunder dieser Musik teilhaben konnte. Und dann streifte mich letzte Nacht der unangenehme Gedanke auch noch, dass ich mich ein Leben lang wohl eher unterfordert habe. Statt diese himmlische Melodie als Aufforderung zu verstehen, das Klavierspiel noch besser zu beherrschen und mit Hans-Martin zum Klingen zu bringen, zum Beispiel für die hinreissenden Richard Strauss-Lieder oder den ganzen Liedschatz von Schubert, Schumann und Brahms, liess ich es aus lauter Bequemlichkeit bei diesem einen Höhepunkt bleiben und wandte mich weniger anforderungsreichen Tätigkeiten zu. 
Ich bin heute der Meinung, dass mein Leben fast ausschliesslich aus Schlupflöchern bestand, um mich vor den anforderungsreicheren Teilen zu drücken, davor, mit Ehrgeiz und Ausdauer Ziele zu erreichen. Dieses eine Lied erinnert mich an uneingelöste Vorhaben. Heute lädt es mich nostalgisch dazu ein, in dem, was nicht geschehen ist, keine Defizite zu erkennen, sondern das Leben so zu nehmen, wie es mir halt widerfuhr. 

5. März
Meine Erfahrungen mit der Parahotellerie: Am meisten lassen meine Gäste beim Abschied ihr Haar-Shampoo zurück. Musste seit letztem Sommer keines mehr selber kaufen. Und mein Haar bedankt sich für die Abwechsung der Düfte und der Wirkkraft...

6. März
Mein venezolanischer Freund Rodrigo berichtet mir heute einmal mehr entnervt über die Grenze hinweg: «Pero para los políticos revolucionários es mentira que pasa algo. Siempre buscan una excusa y un culpable a todas las desgracias.» - Oder auf Deutsch: «Für die revolutionär gesinnten Politiker hier ist alles nur Lüge, was über die aktuellen Vorgänge berichtet wird. Sie suchen immer nach einer Ausrede und nach Schuldigen für das herrschende Elend.» 
Und dann gibt es einen ganzen Hardliner-Block von Menschen, auch in der Schweiz, die einem weismachen wollen, dass Nicolás Maduro die einzige richtige Lösung sei für dieses Land am Abgrund, demokratisch legitimiert und deshalb unantastbar, denn die Amerikaner hätten es eh nur aufs venezolanische Oel abgesehen. Derweil überqueren bei Cúcuta täglich Hunderte wenn nicht Tausende von Flüchtlingen die Grenze, wollen dem Hunger entkommen und den Grosseltern zu Hause Geld heimschicken, und wenn sie hier in Bogotá landen, so verkaufen sie Schleckzeug in den Bussen, die Kleinkinder auf dem Arm, und viele der Jungen und Gutaussehenden versuchen, sich mit Prostitution über Wasser zu halten. Die Online-Dating-Portale Grindr und Tinder laufen heiss. Ich habe mich dort schon mit attraktiven Zahnärzten und Hochschullehrern unterhalten, die sich für eine Pizza verkaufen würden. 

19. März
Ich weiss etwas, was sie nicht weiss und nicht einmal ahnt. Sie wächst heran, und wenn sie nicht vor sich hindöst, schleckt und putzt sich in einem fort, lässt Haare zurück, frisst in einem Zug den Napf leer, wenn es Futter gibt, und geniesst sowohl die Ruhe des Augenblicks als auch meine Gesellschaft. Manchmal ist sie zu wildem Spiel aufgelegt, so krallig, dass Möbel und Kleider Maschen lassen. 
Würde ich es ihr sagen, was ihr bevorsteht, würde sie es weder verstehen noch begreifen, so dass mir in dieser Angelegenheit nur der quälende Monolog bleibt, der in der existentiellen Frage mündet, ob es mir überhaupt erlaubt ist, ihr die Chancen auf Mutterfreuden zu unterbinden. 
In zwei Tagen schon werden wir sie zum Tierarzt bringen, und belämmert wird sie nach einem halben Tag als ein anderes Tier zurückkehren, mit Halskrause bestückt, welche sie bestimmt mehr als nur stören wird. Kein Kater wird sich je um sie bemühen und seine Duftnoten am Eingang hinterlassen. Sie wird träge werden und gefrässig bis zum Dicksein, und ich werde Schuld auf mich geladen haben und habe dafür erst noch 180.000 Pesos bezahlt. 

©Nikolaus Wyss


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Montag, 4. März 2019

Stress Design (壓力設計)

Gastdozent Wyss mit einer gelehrigen Studentin, diese politisch unkorrekt umarmend

Kaum wurde im Laufe des Jahres 2009 meine Kündigung als Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern ruchbar, meldete sich mein chinesischer Kollege und Freund Zhan Binghong, gratulierte mir zum Entscheid und schlug mir vor, an seiner Universität, dem Beijing Institute of Fashion Technology (BIFT), ein paar Kurse zu geben. Er fragte mich, welche Themen mir denn am Herzen lägen, und unterbreitete mir für den bevorstehenden Einsatz gleich einige Zeitfenster.
Hoch motiviert heckte ich vier Vorschläge aus, von denen ich annahm, sie bei genügender Vorbereitung zu meistern:
1. Interculturality and Design
2. Design as Factor of Added Value
3. Branding and Specific Local Needs
4. Diversity Design
Binghong antwortete schon am nächsten Tag und erklärte, die ersten drei Punkte seien bereits Thema an seiner Uni, doch Punkt vier würde ihn besonders interessieren, denn er habe davon noch nie etwas gehört.
Nun, mir ging es genauso. Ich interessierte mich zwar für den Faktor Diversität in arbeitsteiligen Produktionsprozessen, doch viel mehr als dieser attraktive, vielversprechende Modultitel war auch mir damals nicht bekannt. Überzeugt, diese Herausforderung aber mit genügenden Informationen hinzukriegen, liess ich zur Sicherheit noch unseren Forschungsbeauftragten zu mir aufs Rektorat kommen und bat ihn abzuklären, was denn in Wissenschaftskreisen unter Diversity Design schon alles publiziert worden sei. Ein paar Tage später meldete er sich mit einer Ausbeute, die mich mehr als nur ratlos machte. Ausser für einen Tattoo-Schuppen im US-Staat New York war damals gemäss seinen Recherchen dieser Begriff nirgends gebräuchlich.
Da begann ich zwischen der Angst eines Hochstaplers, entdeckt zu werden, und der Unbekümmertheit eines Draufgängers, für den es immer eine Lösung gibt, hin und her zu schwanken. Diese Ambivalenz gegenüber diesem Nicht-Thema hielt auch noch an, als ich mich Monate später in Beijing im Hotel Tibet einquartierte. War das Haus nicht eine wunderschöne Verkörperung des chinesischen Umgangs mit Diversität? Das Hotel hiess zwar grosszügig nach einer beachtlichen und gefürchteten Minderheit im Land, unterschied sich aber ausser durch ein paar Fotos von Stupas und Berglandschaften des Himalaja im Flur in nichts von einem gewöhnlichen Hotel, wie es sie im chinesischen Reich zu Tausenden gibt. Das Zimmer war überheizt, gleichzeitig zog es durch die Fensterritzen. Der Smog verhinderte die Sicht vom 15. Stockwerk hinunter auf die Strasse, und für meine Stadtgänge kaufte ich mir in einer nahen Apotheke einen grünen Atemschutz, wie er in unseren Breitengraden nur bei medizinischem Personal üblich ist, dort aber jeder zweite im öffentlichen Raum trägt.
Ich rang mich durch, den Workshop unter den halbwegs ehrlichen Titel Diversity Design – Wir untersuchen die Tauglichkeit eines vorerst noch unbekannten Begriffs zu stellen. Der Übersetzer, der mir zur Seite gestellt wurde, ein blitzgescheites Kerlchen, das vordem bei Microsoft Apps entwickelt hatte, brauchte jeweils für die Mandarin-Version meiner englischsprachigen Ausführungen doppelt so lang. Oft fragte ich mich, was er sonst noch alles zu sagen hatte ausser dem, was er zu übersetzen verpflichtet gewesen wäre.
Die Gruppe von etwa 20 Studentinnen und Studenten war hochmotiviert, aber auch so, wie ich Studierende von Luzern her kannte: Sie waren jeder Reflexion und jedem theoretischen Gedanken abhold und zogen das Gestalten vor, noch bevor sie genau wussten, was es denn überhaupt zu gestalten gab. Ich hingegen legte mehr Wert aufs Ausdeutschen des Begriffs Diversität und bemühte mich, mit drastischen Bildern dessen Reichtum, gesellschaftlichen Mehrwert und Komplexität zu schildern. Wie nebenher strich ich die Notwendigkeit hervor, dass dies auch ein Thema für Designer sei. Ich sprach von geistig und körperlich Behinderten und von Rollstuhlfahrerinnen, von Frauen und Männern, von Rechtlosen, Stadtstreichern, Wanderarbeitern, Seniorinnen am Rollator, von Homosexuellen und braven Familien, um das Bild einer vielgestaltigen Gesellschaft zu skizzieren, wie es gerade China auszeichnet, dem damals noch bevölkerungsreichsten Land der Welt.
Eisiges Schweigen war die Antwort. Hatten sie mich nicht verstanden? Oder hatte das Kerlchen falsch übersetzt? Oder berührte ich Themen, die als absolutes Tabu galten, auch unter jungen Studierenden, die ihre angebliche Unkonventionalität doch mit gefärbten Haaren und extravaganter Kleidung spazierenführten? Wobei: Im Klassenzimmer war es so eisig kalt, dass alle über ihren Tattoos, ihren bunten Hemden und Tüchern als oberste Schicht noch dicke, einförmige Daunenjacken trugen oder graue Wollmäntel. Wenn wir uns unterhielten, so bildete sich jeweils vor unserem Mund nebliger Hauch.
Ich selbst schärfte mit jedem Tag den Begriff und kam schon bald zum Schluss, dass sich Diversity Design eher zur Beurteilung von Design eigne und weniger für eigene Entwürfe. Ich steuerte also während des Workshops auf einen Kriterienkatalog hin, mit welchem man designte Gegenstände auf ihre Diversitätstauglichkeit hin hätte prüfen können. Womit ich die gestaltungswilligen Jungen und Mädchen mächtig frustrierte, denn sie waren schon dabei, spezielle Handgriffe für die U-Bahn zu entwerfen und Schirme für Armlose.
Ich musste ihnen sagen, dass es dafür schon genug andere Design-Begriffe gebe und dass vielleicht solche Schirme Handicapierten zwar entgegenkommen mögen, aber für unsereins mit Armen nicht gerade praktisch seien und lächerlich aussähen.

Meine Bemühungen, einen Qualifikationsbegriff wie Diversity Design zu entwickeln, der vorhandenes Design in gut und weniger gut unterteilen könnte, und Design, das sich besonders gut für unterschiedlichste Gebrauchsgruppen eignet, mit einem Qualitätslabel auszuzeichnen, stiessen nur auf lauwarme Begeisterung. Während ich zunehmend zufrieden war, meinen Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben, beobachtete ich eine untröstliche Ernüchterung, welcher ich nichts entgegenzustellen vermochte. Das tat mir ausgesprochen leid, und ich versuchte, am letzten Tag in der Feedback-Runde unseren Workshop selbst als eine diverse Veranstaltung zu positionieren, in welcher jede und jeder mit ihren und seinen je eigenen Erwartungen und Vorstellungen hineingegangen war, ohne genau zu wissen, was sie oder ihn erwartet, und wo alle auf unsicherem Terrain ihre eigenen Erfahrungen machen mussten und durften. Ich selbst war eigentlich in jenem Moment überzeugt, einen wesentlichen Beitrag zu einer Begriffsbildung geleistet zu haben, musste aber einsehen, mich hier im winterlichen Beijing im völlig falschen Film befunden zu haben.

© Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 27. Februar 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 2)

In Fortsetzung der ersten Tagebuchauf-zeichnungen im Blog-Format folgt hier nun die zweite Ausgabe meiner kleinen Einträge. Diesmal ohne Fotos. 

6. Februar
Heute hat mich wieder meine Poesie-Muse Miguel Angel aufgesucht. Er sei am Schreiben seiner Familiengeschichte und schlüpfe dabei als Erzähler abwechselnd in die Person seines Onkels, seiner Mutter und seiner selbst. Ich konnte nicht umhin, ihm von meiner Lektüre des genialen Romans La Oculta zu berichten, den er zu meinem Erstaunen nicht gelesen hat. Der Autor Hector Abad entwickelt dieses grossartige kolumbianische Familienepos unter Verwendung dreier Erzählfiguren. Es sind die drei Geschwister, die in je unterschiedlicher Weise auf ihre eigene Geschichte, auf die Geschichte des Familiensitzes Oculta und die Geschichte Kolumbiens blicken. 
Als ob wir in einem Besserwisser-Modus befunden hätten, hielt Miguel Angel wenig später mit dem argentinischen Autor Mempo Giardinelli dagegen, dessen Buch Santo oficio de la memoria die Geschichte einer italienischen Auswandererfamilie nach Argentinien mittels Briefauszügen von dreissig Familienmitgliedern, zumeist Frauen, erzählt.
Daraufhin bestellten wir zum zMittag vom Italiener eine Pizza.

7. Februar
Abschiedsessen unseres mehrwöchigen Gastes K. Sie lud uns in ein besseres Restaurant unserer Wahl ein. Wir schlugen das Chato vor, wo ich zu meiner vollen Zufriedenheit vor einem Jahr meinen 69. Geburtstag gefeiert hatte. Diesmal aber war irgendwie der Wurm drin. Es fing damit an, dass jeder von uns unterschiedliche Menue-Karten ausgehändigt bekam. Später wussten die Kellner die einzelnen Gerichte mit ihren kunstvollen, rätselhaften Namen nicht richtig auszudeutschen. Eine gewisse Nervosität herrschte im Lokal, und eine der Vorspeisen war richtig versalzen. 
Meine Irritation korreliert in solchen Momenten jeweils mit den Ansprüchen, welche ein Restaurant sich selber vorgibt. Unperfekte Bedienung und Essen mit Verbesserungspotential stören mich weiter nicht, wenn Preis und Ausstattung im Rahmen dessen bleiben, den man erwarten darf. Staubig hingegen werde ich, wenn der Selbstanspruch nicht eingelöst werden kann. Als sich ein junger Mann als Socio des Restaurants zu erkennen gab, hielt ich mit Kritik nicht zurück. Darauf wurde die Nachspeise vom Hause spendiert, was ich wiederum sehr professionell fand.

8. Februar
Mein Hausgenosse Johan publizierte kürzlich seinen ersten Kurz-Rap, der in den sozialen Medien einigen Widerhall fand. Damit öffnet er für sich selber ein neues Betätigungsfeld und ich schöpfe für ihn Hoffnung auf eine erfolgreiche Nische. Bereits hat sich bei ihm Hugo, ein Musikerfreund aus Mexiko, gemeldet. Er würde mit ihm gerne einen Song produzieren. Seither lebt Johan in einem kreativen Flow.

Gestern beim Abendessen im Primitivo gab ich Johan zu möglichen Textideen meinen Senf dazu. Besonders tat es mir die folgende spontan entwickelte Geschichte an: Er, Johan, sei die Königin des Pazifik, schlug ich vor, Patin dreier Wale, die sich jeweils im Sommer in einer Bucht in der Nähe von Buenaventura einfinden würden. Als Bootsführerin würde sie mit Touristen aufs Meer hinausfahren und warten, bis sich die drei Gottenkinder namens Gorda, Marica und Mara einfinden und ihr aus Dankbarkeit mit viel Geschnaube und Flossenwackeln ein Tänzchen vollführen würden. Das gebe dann von berührten Touristen Extra-Trinkgeld. - Ich weiss nicht, ob Johan diese spinnerte Idee begeisterte, ich glaube, er rappt lieber von sexuellen Wirrköpfen und von der Diskriminierung von Schwarzen und Transsexuellen, die sich mit aufreizenden Songs an der Gesellschaft rächen. Mein Problem: ich verstehe schon rein akkustisch und wegen der Geschwindigkeit der Wortfolge Rapp-Lyrik kaum, weder auf Englisch noch auf Spanisch. Noch schlimmer: ich mag schon gar nicht hinhören, wenn Johan unter der Dusche oder wo auch immer sämtliche Texte von Nicki Minaj oder Travis Scott runterzuraspeln vermag. - Wobei: der folgende Song gefällt mir auch, und die durchaus anstössige, wenn auch total nachvollziehbare Lyrics verstehe sogar ich: Wake up von Travis Scott.

9. Februar
Beim Frühstückstee und beim Parfum bin ich heikel. Finde ich keinen Nachschub für meinen vietnamesischen Silver Sencha, so ist der Morgen schon ziemlich aus dem Lot. Und geht mein teures Chanel Bleu zur Neige, so fühle ich mich schon ziemlich nackt. 
Ich meinte schon, eine Zeit der Entblössung sei am Anbrechen, weil ich hier in Bogotá dieses Luxusprodukt einfach nicht finden konnte. Heute aber stiess ich im Shopping Center Unicentro per Zufall auf das begehrte Wässerchen. Erleichtert hielt ich es in den Händen und zückte schon die Kreditkarte, als die stark geschminkte Dame mit aufgeklebten Wimpern mir streng beschied, sie würden nur Bargeld annehmen. Was? In dieser vornehmen Umgebung? Wer führt schon 550.000 Pesos so einfach in seiner Tasche spazieren? An einem Bancomaten müsste man sogar ein zweites Mal nachfassen, weil bei den meisten Maschinen die höchste Bezugssumme bei 400.000 Pesos liegt. 
Ich hatte also die Wahl zwischen Stolz und Bargeldholen. Zu meinem eigenen Erstaunen obsiegte darauf das Nacktsein. Erhobenen Hauptes verliess ich den Laden und kehrte nicht mehr zurück.

10. Februar
Die obige Geschichte ist noch nicht zuende. Heute stiess ich abermals auf Chanel Bleu. In einer anderen Filiale. Auch hier: Bezahlen nur mit Bargeld möglich. Schon wollte ich ein weiteres Mal erhobenen Hauptes das so vornehme Geschäft wieder verlassen, als sich Nubia, die Geschäftsleiterin, vordrängte und mich fragte, ob ich denn nicht schon bald Geburtstag hätte. Ich bejahte, worauf sie mir sofort 10 Prozent Preisnachlass in Aussicht stellte. Der Bancomat stünde grad um die Ecke. Da wurde ich schwach, holte Geld und laufe seitdem wieder unentblösst durch die Gegend.

14. Februar
Schlaflosigkeit ist für mich eigentlich kein Problem. Ich höre mir dann den Podcast der Sendung Diskothek im Zwei an. Sie ist das ultimative Training im Ohrenspitzen. Da diskutieren zwei ExpertInnen und vergleichen Aufnahmen desselben Musikstückes miteinander. Es ist wohl der beste, lehrreichste und spannendste Zeitvertrieb, den SRF auf Kanal 2 zu bieten hat. Je akribischer umso interessanter. Und es reut mich, wenn ich dann doch bei der Aufnahme zwei im dritten Durchgang wieder einschlafe. Wer hat jetzt das Rennen gemacht? - Merkwürdig nur, dass ich am nächsten Tag nicht mehr danach frage und mich viel lieber schon auf die nächste Sendung freue.

21. Februar
Gestern haben wir also meinen runden Geburtstag gefeiert. Wir tanzten zu den Rhythmen einer siebenköpfigen Live-Salsaband die Beine aus dem Leib und verköstigten uns mit einer Hühnersuppe im Stil eines Sancocho. Mit meinen Schweizer Freunden, die den Geburtstag zum Anlass nahmen, nach Kolumbien zu reisen, assen wir zuvor zu Mittag in der Chicheria Demente und gingen anschliessend zur Plaza del mercado del 7 de agosto, um für die Suppe ein paar Gemüse einzukaufen. Die Suppenhühner hatte ich zwei Tage zuvor schon ausgekocht, damit das Fett erkalten und abgeschöpft werden konnte. 
Jetzt bin ich etwas erschöpft. Es ist aber eine zufriedene Müdigkeit.

23. Februar
Vorgestern strahlte das Schweizer Fernsehen eine Dokumentation zum 90. Geburtstag der allzu früh verstorbenen Heidi Abel aus. Ich sah mir auf dem Handy die Sendung in mehreren Etappen an.  
Durch die Fernsehtätigkeit meiner Mutter in den 60er Jahren, in deren Sendungen auch Heidi Abel ihre Auftritte hatte, kannte ich die Fernsehpionierin relativ gut. Heidi plante für den Sommer 1970 eine Auszeit bei einem Guru in Indien und fragte mich, ob ich während dieser Zeit ihr Häuschen in Lützelsee und ihre Katze hüten würde. Sie übergab mir für diese Zeit auch ihren Mini, worauf ich  in ihrem Häuschen einen romantischen Sommer mit dem Brasilianer Luiz Duarte verbrachte, der damals eigentlich der Geliebte eines Swissair-Flight Attentant hätte sein sollen, sich aber Gelegenheiten wie mich nicht entgehen lassen wollte...
Das wohl eindrücklichste Filmdokument zu Heidi Abel wurde leider in der TV-Dokumentation vom vergangenen Donnerstag nicht verwendet und stammt aus dem Dokumentarfilm von Tobias Wyss. Man sieht darin Heidi Abel am Telefon im Gespräch mit einer ihr unbekannten Zuschauerin. Der Anruf kam ungelegen und wäre eigentlich leicht zu beenden gewesen. Aber nein, obwohl Heidi immer wieder darauf aufmerksam machte, dass sie jetzt keine Zeit für ein Gespräch habe, war es gleichwohl sie, die das Gespräch weiterzog und weiterzog und bis zur Erschöpfung des Zuschauers weiterzog. Diese tragische Darstellung von Selbstzerrissenheit dieser schweizbekannten Person bleibt mir bis auf den heutigen Tag in unauslöschlicher Erinnerung.


©Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 6. Februar 2019

Las Flores oder: wenn ich sterbe


Ich habe mein Wohnquartier in der Stadt nicht mit Bedacht gewählt. Doch jetzt zeigen sich Vorteile der getroffenen Standortwahl. An der Ecke vorne zum Beispiel befindet sich Las Flores, ein verkehrsreicher Platz, wo an unzähligen Ständen kunstvoll gesteckte Blumengebinde für Hochzeiten und Trauerfeiern feilgeboten werden. Dort decke ich mich regelmässig mit Blumen ein, deren Namen mir zwar nichts sagen, die aber schön sind und lange frisch bleiben. So ein Gebinde wird dereinst wohl auch meinen Sarg schmücken, stelle ich mir vor. Für den Ausläufer ist es wenigstens nicht weit, diese Blumenorgie am richtigen Ort abzugeben. Geht man nämlich von meinem Haus aus ein paar Schritte in Richtung Norden, so befindet sich dort an der Carrera 13#69 eine der 27 Filialen des Bestattungsinstitutes Capillas de la Fé mit VIP-Service gegen Aufpreis. Dieses ISO-zertifizierte Institut bietet rund um die Uhr umfassende Begräbnisdienstleistungen an. Oft stehen Trauernde noch abends um halb elf und auch samstags und sonntags verlegen vor dem Haus, um sich von einem Verstorbenen zu verabschieden.
Ich empfehle meinen Hinterbliebenen also, die Hilfeleistung dieses nahen Institutes in Anspruch zu nehmen, auch wenn ein solches Begräbnis nicht grad billig ist. Ich werde in einer Schatulle 3 Millionen Pesos bereitlegen, das sollte für ein bescheidenes Ritual inklusive Sarg reichen. Die Einäscherung kostet dann noch zusätzlich.
Der Weg zum Einkaufen führt mich jeden Tag an diesem stets geschäftigen Trauerhaus vorbei. Was mich dabei immer wieder von Neuem fasziniert, ist das von dieser Institution gewählte Emblem. Wahrscheinlich soll es das flackernde ewige Licht darstellen, aber ich habe noch niemanden getroffen, der darin nicht eine bebende Vagina gesehen hätte. Auch das ist sinnfällig: Von dort startet das Leben, das hiermit sein Ende findet.

© Nikolaus Wyss

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Montag, 4. Februar 2019

Stägeli uuf Stägeli ab juhee (Tagebuch 1)

An der Lagune von Guatavita, einem Heiligtum der Muiscas. Auf dem Grund des Sees soll der Legende nach noch viel Gold zu entdecken sein.
24. Januar 
Noch immer weiss ich nicht, wie lange hier oben auf 2600m über Meer ein weiches Ei gekocht werden muss. Gestern war es zu hart, heute floss es über den Becherrand. Meine Gäste zeigen sich wenigstens nachsichtig. Etwas verlegen verwies ich heute Morgen auf den Loriot-Sketch mit dem Viereinhalbminutenei. 

25. Januar
Diesmal legte ich die Eier ins kalte Wasser, erwärmte dieses bis zum Siedepunkt, schaute auf die Uhr und nahm den Topf nach knapp fünf Minuten vom Herd, um die Eier abzuschrecken. Das Resultat stellte meine Gäste endlich zufrieden: innen weich, am Rand etwas härter. Nicht allzu pfludrig. - So werde ich jetzt die Zubereitung der huevos blandos im geplanten Regelwerk festhalten, welches nicht nur zu befolgende Angaben über weiche Eier, sondern auch die Zusammensetzung und Menge des Früchtemüeslis, das Angebot und die Zubereitungsmethoden von Tee, Kaffee und heisser Schokolade, die Präsentation der Brotscheiben, die Standards in den Gästezimmern (alle mit Bettflaschen ausgestattet), die Art der Rechnungsstellung und die Willkommens- und Abschiedsrituale festhält. Alles auf Spanisch, damit der noch nicht gefundene, doch immerhin angedachte Hausmayor und Vanessa, unsere Putzkraft, es verstehen und auswendig lernen können. Besonders letztere braucht noch ein paar Leitlinien. Sie ist eine allzu kreative Person. Sie markiert ihr Wirken bislang mit dem Verstecken herumliegender Gegenstände und mit der ständigen Neuordnung in den Küchenschränken und auf den Büchergestellen. Letzhin entdeckte ich die Bücher in Orgelpfeifen-Anordnung. Immerhin riecht es aber aus allen Nasszellen sauber nach ätzendem Chlor. Die Trennung der Abfälle ist ihr jedoch noch fremd.
Soweit mein Vorhaben für dieses Jahr: die Emanzipation vom eigenen Haus. Dieses soll auch ohne mein Dazutun und ohne meine Präsenz brummen.
* * *
Der Mittwoch ist jeweils meiner poetischen Bildung gewidmet. Mein Fachmann in diesen Belangen ist der junge Cinéast, Poet und Schriftsteller Miguel-Angel Fajardo, der mir seinerzeit schon Raúl Gomez Jattín näher brachte. Er ist nach seinem Autausch-Semester auf Kuba wieder im Land. 
 Mein Poetik-Professor Miguel-Angel Fajardo beim Lesen der führenden kolumbianischen Literaturzeitschrift "El Malpensante"
In den vergangenen zwei Wochen lernte ich durch ihn die argentinische Dichterin Alejandra Pizarnik, den chilenischen Theaterkünstler und Schriftsteller Pedro Lemebel und die brasilianische Poetin Ana Cristina César kennen. Den dreien ist gemeinsam, dass sie es sich in ihren eigenen Leben nicht leicht gemacht haben. Letztere sprang in ihrem Elternhaus aus dem Fenster zu Tode, bei ersterer vermutet man als Todesursache die Einnahme allzu vieler Schlafmittel. Kettenraucher Lemebel wiederum, der mit seinem non-binären Geschlecht Leben und Werk in den Dienst der Vorurteilsbekämpfung stellte und sich darin heillos selber verstrickte, starb an Lungenkrebs. Bin jetzt daran, mich an ein paar wortreiche Gedichte dieser Persönlichkeiten heranzutasten. Am kommenden Mittwoch muss ich Miguel-Angel meine Bemühungen rapportieren. 

26. Januar
Gestern machte ich mich endgültig zum Sklaven der Katze. Ich erstand mir einen Kletterbaum und buckelte ihn mehr als einen Kilometer weit nach Hause.
100.000 Pesos auf der Schulter und die leise Hoffnung, die Katze hätte Freude an dieser Art von Gegenstand
Zu Hause angekommen, bestreute ich ihn mit Katzen-Marijuana, damit das stets wilder werdende Tier an diesem unmöglichen, hässlichen Möbelstück Gefallen finde und sich daran ermüde. 
Und jetzt soll dieser blöde Katzenturm doch ein unnützer Kauf gewesen sein? Bis anhin ignoriert Cual dieses Objekt und bevorzugt zum Wetzen ihrer Krallen nach wie vor Stühle, Teppiche und das Sofa.
Abends dann Sex Educations, eine Serie auf Netflix. Das Schönste daran war, dass wir zu viert auf dem Sofa sassen. Über unseren Beinen das schnurrende Kätzlein. Nach zwei Folgen allerdings ging ich ins Bett, die anderen machten noch drei Folgen weiter bis weit nach Mitternacht.

27. Januar
Mit unserem Gast K., der für 14 Tage die Sprachschule Nueva Lengua um die Ecke besucht und übers Wochenende ein Velo ausgeliehen bekam, Fahrt in den Simon Bolivar-Park, wo sich jeden Sonntag sattes Familienleben abspielt. Bootsfahrten, Federball, Kartenspiele im Gras,
Im Parque Simon Bolivar
Kinderbeschäftigungsprogramme, Schlangen vor den WCs, Aerobic-Angebote, Meditationsgruppen, Maiskolben-Essen - darüber startende Flugzeuge. Der Abschluss der Rundfahrt bildete ein spätes Mittagessen in einer unserer Lieblingsbeizen, der Chicheria Demente, wo diesmal "unser" Kellner mit blondiertem Haar servierte. Steht ihm allerdings nicht schlecht, stellten wir alle drei fest.
* * *
Dieser Tage ist wieder viel vom Konzentrationslager Auschwitz die Rede, und ich wäre der Letzte, der diesen schrecklichen Ort in Vergessenheit geraten lassen möchte. Gleichwohl überkommt mich bei solchen Gedenktagen manchmal das Gefühl der Scheinheiligkeit, denn es ist wesentlich einfacher, sich auf furchtbare Dinge in der Vergangenheit zu verständigen, als zur Kenntnis zu nehmen, dass auf dieser Welt unsere Gesellschaft halbwillentlich und sicher sehr wissentlich Tausende von Flüchtlingen versaufen lässt, dass gerade hier in Kolumbien jeden Tag Sozialarbeiter umgebracht werden, weil sie sich für die Verbesserung der Lebensumstände Rechtloser einsetzen, dass im Kongo Dschungelkrieg herrscht und im Jemen Wüstenkrieg mit Schweizer Waffen, und dass in Brasilien nicht nur neu der Amazonas zum Abholzen freigegeben wird, sondern auch Indigene und Schwule zum Abschuss. Und Venezuela versinkt im Chaos. Ich meine bloss, mit Auschwitz sollte immer auch etwas Aktuelles in die Gedenk-Pipeline gegeben werden, sonst kommen wir uns allzu wahnsinnig gut vor, weil es heute kein Auschwitz mehr gibt. In anderer Gestalt und unter anderen Umständen jedoch gibt es diese Art von Ermordungs-Stätten sehr wohl und immer noch, und sie machen keine Anstalten zu verschwinden.

28. Januar
Heute hat die Erde gebebt. Wie vorgestern schon. Hier im Andenstaat wird sorgfältig unterschieden zwischen temblores, Erdbewegungen also, die man zwar spürt, die einen aber nie veranlassen würden, das Haus fluchtartig zu verlassen, und in terremotos, wo es oft zu spät ist, das Haus überhaupt noch zu verlassen. Vor genau 20 Jahren wurde Armenia von einem grossen terremoto heimgesucht. Es verzeichnete 1700 Tote. Das Ereignis bleibt mir insofern im Gedächtnis haften, als es damals meinen Buchhhändlerfreund Carlos Winston aus der Libreria Buchholz zwang, seine Teilnahme an meinem 50. Geburtstag in Luzern abzusagen. Seine Familie, die von Armenia stammt, hatte Opfer zu beklagen, und er sah sich in diesem Moment verpflichtet, seinen Angehörigen beizustehen, wofür ich auch alles Verständnis hatte. Der Betrag des Flugtickets wurde ein Jahr später zurückerstattet.

29. Januar
«Liebe I.- Dies ist eine Spontan-Email. Eben habe ich vom Hinschied Irma Nosedas erfahren, die ich noch von unserem gemeinsamen Volkskunde-Studium bei Prof. Arnold Niederer her kenne. Ihr selbstironischer Umgang mit dem eigenen Schaffhauser Dialekt bleibt mir am prägendsten in Erinnerung. Später begegneten wir uns nur noch sehr sporadisch, an Vernissagen zum Beispiel und an ein paar Tagungen. Aber als ich ihren Namen etwas googelte, gelangte ich plötzlich zu einem deiner Links auf deiner eigenen Homepage. Habt ihr zusammengearbeitet? ... Und so grüssen einander noch Überlebende, im Wissen darum, dass es auch uns eines Tages treffen wird. 
Wie geht es dir? - Was machen Beruf, Gesundheit und Liebe? (…)
Ich lebe mein auch nicht mehr ganz neu aufgeschlagenes Kapitel hier in Bogotá, Kolumbien, und bin froh um diese Erfahrung, die mich nochmals in die lebendige, herausforderungsreiche Welt hinausgeschleudert hat. Es geht mir gut, ich bewerbe mich trotz fortgeschrittenen Alters jetzt noch um den Eintritt in eine hiesige Krankenkasse. Blutzucker gut. Leber gut. Prostata gut etc. Lediglich mit der linken Niere scheint etwas nicht ganz in Ordnung zu sein, soll mich aber laut Dr. Romero Romano (was für eine Namenskombination!) von einem Eintritt nicht abhalten. Der Vorteil dieser Krankenkasse, und dann verlasse ich das Thema, ist eben auch, dass gerade zwei unter demselben Dach Lebende davon profitieren können, in meinem Fall ist dies mein junger Wohnpartner Johan.
Ich grüsse und umarme dich, hoffe innig, dass es dir gut geht (...)
In Gedenken auch an Irma, herzliche Grüsse - Nikolaus» 

31. Januar
Da ich auf den Strassen Bogotás viele Leute freundlich grüsse, die mir entgegenlächeln, werde ich oft auch angesprochen, befragt und angehauen, und dabei ergibt sich eine ganze Kollektion von Anreden, die mir zugedacht sind. Amigo, hermano, señor, su merced, doctor, jefe, patrón, veci (=vecino=Nachbar), caballero und director. In der Sammlung fehlen mir noch der profesor und der rector. Mal schauen, ob sich diese Anreden auch noch irgendwann einstellen. Hoffnungsvoll Anreden sammelnd: Don Nicolas (!)

4. Februar
Dieser Tage waren drei Freunde aus der Schweiz zu Besuch. Zuvor hatten sie ein Trekking auf den Nevado de Tolima unternommen. Sie erzählten von der abenteuerlichen Besteigung des Vulkans und von den eher primitiven Unterkünften auf dem Weg dorthin, und ich erinnerte mich dabei an meine eigene Besteigung des benachbarten Nevado de Ruiz, als wir vor 47 Jahren dort oben in Bergnot geraten sind. Und jetzt droht dieser Vulkan wieder auszubrechen, wie damals, als seine Lava das Firneis zum Schmelzen brachte. Das Gemisch aus Wasser, Schlamm und Geröll begrub am 13. November 1985 die kleine Stadt Armero und tötete rund 26.000 Einwohnerinnen und Bewohner.
* * *
Meine drei Schweizer Freunde schenkten mir zu meinem bevorstehenden Geburtstag einen Ausflug. Wir fuhren mit einem Mietauto zur Lagune von Guatavita und wurden vom erzählfreudigen 
Henrique fachkundig in die Kultur der Muiscas eingeführt, zu deren Nachkommen er sich selber zählt. Damit komplettiert sich anlässlich unseres Ausflugs mein Guatavita. Damals in den 70ern, als ich bei Buchholz arbeitete und sonntags jeweils an den Ausflügen der Familie teilnehmen durfte, führte uns der Weg immer nur zum Dorf Guatavita, einem architektonisch ansprechenden Retortenstädtchen, das 1967 anstelle des im Stausee Tominé gefluteten alten Guatavitas gebaut wurde. Dort spendierte Herr Buchholz jeweils ein reichhaltiges Mittagessen. Für den Dessert hingegen machten wir jeweils auf dem Rückweg Halt bei der Alpina in Sopó, wo es die unwiderstehlichen fresas con crema gab, Erdbeeren an Schlagrahm. - Damals war die kraterartige, geheimnisvolle Lagune von Guatavita, ein Heiligtum der Indigenen, die sich etwa 15km vom gleichnamigen Dorf entfernt befindet, für die Öffentlichkeit noch nicht zugänglich und ziemlich unbekannt. 
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Das hintere Treppenhaus der Casa Wyss
Ich nenne mein hier angefangenes Tagebuch "Stägeli uuf, Stägeli ab juhee". Das ist der Titel eines der vielen erfolgreichen Kompositionen von Artur Beul. Mit schrecklichem Schweizerdeutsch übrigens: "... s'Läbe isch en Traum, doch d'Mänsche merket's kaum(!)". Abgesehen davon aber passt mir das Lied und dessen Philosophie, musikalisch humorvoll umgesetzt. 
Am Morgen rennt das Kätzchen die Treppen hoch, um mich vor der Türe abzupassen und mich mit Liebesbekundungen einzuschmusen, sobald ich die Gnade habe, mein Schlafzimmer zu verlassen. Dann steigen wir gemeinsam und schnurrend die Treppe hinunter, sie in freudiger Erwartung der in Aussicht gestellten Frühstücks-Leckerbissen, bis ich unten merke, dass ich oben die Schlüssel vergessen habe, um die Haustüre unten aufzusperren. Also wieder hoch in Gesellschaft einer immer ungeduldiger werdenden Katze, deren Herzlichkeit jetzt eindeutig in fordernde Hungergier hinüberkippt.
Katzenfrühstück nach dreimal Treppen laufen
Nach dem Frühstück geht es erneut hinauf zum Duschen, dann wieder hinunter zur Gästebetreuung und der Zubereitung des Frühstück-Müeslis, und so weiter. Ich will die Treppenstory nicht stressen, sie hat gar keine Pointe, es geht nur darum zu betonen, dass ich gefühlte 150mal am Tag Stägeli uuf und Stägeli ab gehe - was mir übrigens den Fitness-Club erspart. 
So das Leben mit seinen Gefühlen. Auf und ab. Geht es bei mir jetzt abwärts, weil ich aus immer dümmeren Gründen die Treppen hochsteigen muss? Oder geht es mir super, weil ich trotz Treppensteigen zufrieden und glücklich bin und feststellen darf, dass es um mich gar nicht so schlecht bestellt ist?
Eigentlich bevorzuge ich das Abwärtsgefühl, weil es die Überraschung des erfreulichen Gegenteils in sich birgt. Mir scheint es bitterer, erkennen zu müssen, dass es abwärts geht, obwohl man meint, sich auf dem aufsteigenden Ast zu befinden...
Wir bewegen uns alle auf diesem schmalen Grat des Auf und Abs. Nachdem ich vor vielleicht dreissig Jahren mit Tagebuchschreiben aufgehört habe, kehre ich jetzt zurück zu dieser Art von Beschäftigung, die ich früher rastlos und fast täglich betrieben habe. Lese ich heute meine Notizen von damals, so musste es mir die ganze Zeit sehr schlecht gegangen sein. Da reiht sich eine Klage an die andere. Perspektiven- und hoffnungslos. Nur Unglück schien mir zu widerfahren, dabei hielt ich lediglich mein Pech fest, während Erfolge und Erkenntnisse, die mich auf dem Stägeli hinauf- und vorwärts trieben, keine Erwähnung fanden. Ich lebte in Wirklichkeit doch ein Leben, das sich auch beim besten Willen nicht als ein unglückliches beschreiben lässt. Gerade hier in Kolumbien, wo man mit weitaus schwierigeren Lebenssituationen konfrontiert ist, als sie mir im Vergleich dazu selbst je einmal widerfahren sind.
Deshalb sollen meine neuen Eintragungen eine andere Prägung bekommen als früher. Sie sollen viel stärker getrieben sein von der Dankbarkeit diesem Leben gegenüber, von der Achtsamkeit gegenüber Personen, die gerne Zeit mit mir verbringen, und vom Respekt gegenüber allen Menschen, ob sie Grosses geleistet haben in ihrem Leben oder Kleines.  

©Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 9. Januar 2019

Im Raumschiff unterwegs

 
Zu unserer Zeit machten wir es uns zur Aufgabe, das Sensationelle auf dieser Welt, die Schlagzeilen über Katastrophen, Mordfälle und umwälzende Erfindungen für das allerlangweiligste und immerwährende Grundgeräusch zu halten, während wir das Langweiligste und Alltäglichste, dem das Zeug zum Aufmacher gänzlich fehlte, als das eigentlich Erwähnenswerte und Wichtige priesen. Unter diesen Prämissen gründeten wir 1978 die Zeitschrift Der Alltag – Sensationen des Gewöhnlichen, pflegten während Jahren diese Art von Wahrnehmung und statteten darüber regelmässig Bericht. Mit der Zeit aber schliffen sich unsere harten Vorgaben etwas ab, und das Glänzende und das in konventionellem Sinne Aussergewöhnliche gewann zuungunsten unserer ursprünglichen Kriterien immer öfter die Oberhand. Mich begann die Sache zu langweilen, und ich wandte mich in dem Masse anderen Dingen zu, wie mein Verhältnis zu meinem Mitherausgeber Walter Keller erodierte. Der Ruf jedoch, den Alltag thematisiert zu haben, verfolgte mich in meinem weiteren Leben wie ein wohlwollender Schatten. Manchmal meinte ich, mich erklären zu müssen, wenn man mich zum Beispiel in einem feinen Restaurant antraf oder wenn ich in der Oper gesichtet wurde. Alltag? – Als Erklärung legte ich mir zurecht, dass zum Alltag eben auch Abwechslung gehöre, ja, dass der Alltag erst vor dem Hintergrund von Abwechslung und Ausserordentlichem so richtig sichtbar würde. Eine weitere Erklärung mündete darin, dass dieses Restaurant, das ausserordentliche Gerichte zubereitete, für die Angestellten selbst Alltag sei, und ebenso verhalte es sich mit der Oper ...
Diese Anfänge des Alltag-Hypes treten mir jetzt wieder deutlicher ins Bewusstsein, seit ich hier in Bogotá im eigenen Haus wohne und für dessen Pflege und Aufrechterhaltung zuständig bin. Eine junge, wilde Katze, ein Findelkind aus Buenaventura, die ich Psps rufe, gehört dazu. Sie verlangt Aufmerksamkeit rund um die Uhr und versucht, es sich auf meinen Füssen bequem zu machen, während ich am Schüttstein das Gemüse rüste. Eigentlich nicht weiter erwähnenswert, für mich aber der Erwähnung wert. Es kommt kaum noch vor, dass ich das Haus verlasse. Alles wird ins Haus geliefert. Ich pflege also leidenschaftlich langweiligen, innerhäuslichen Alltag, und dies in einem Masse, wie ich es zuvor wohl noch nie getan habe. Freunde hier wissen schon, was ich zur Antwort gebe, wenn sie mich fragen, was ich so mache: mit der Katze spielen, kochen, den Hof wischen, die Pflanzen giessen, lesen, schreiben, mit der Katze spielen, kochen, lesen, den Hof wischen, schreiben, die Pflanzen giessen ...
Abwechslung bringt ab und zu Maestro Jaime, der immer mal wieder das Lotterdach flicken kommt, weil das Leck immer noch nicht eindeutig eruiert worden ist; Vanessa schaut einmal pro Woche vorbei und sorgt insofern für Sauberkeit, als ich nach ihrem jeweiligen Wirken als obsessive Aufräumerin nichts mehr finde; Abwechslung bringen auch meine Bed-and-Breakfast-Gäste und Freunde meines Mitbewohners Johan. Doch selbst bleibe ich zumeist zu Hause, öffne einzig ab und zu die Tür, wenn es klingelt, und schaue, dass dabei unser unbändiges Kätzlein nicht auf die Strasse entwischt. So habe ich per Zufall entdeckt, dass Nachtbuben im Vorgarten einen Geraniumstock geklaut haben. Gehört das jetzt zur Kategorie des Erwähnenswerten oder zur Normalität des kolumbianischen Alltags? Ohne mich auf eine Antwort festzulegen, schliesse ich die Tür wieder und bestelle beim Gärtner einen Stock Ersatzgeranien.
Meine gegenwärtige Lebensweise hier in Kolumbien erfüllt meine periodischen Sehnsüchte nach klösterlichem Leben, welche ich bis anhin noch nie so richtig umsetzen konnte, weil bei mir früher oder später Verführungen und Neugier noch immer die Oberhand gewonnen haben. Ich glaube, da zeigen sich neuerdings eindeutige Zeichen frommen Alterns.
Meine jetzige Lebenssituation erinnert mich aber auch an meine Vorpubertät, als ich leidenschaftlich mit Klötzen ganze Städte baute und Schiffe, Flugzeuge, Häuser und Pläne von Inseln zeichnete, ohne je den kleinen Raum, wo mein Bett stand und die Billerbahn, zu verlassen. Damals fühlte ich mich in meiner kleinen Welt wunschlos glücklich und liess mich nicht gern stören durch die Ansprüche meiner Umwelt, wenn es zum Beispiel um die Einnahme des Abendbrots ging oder wenn Freunde nach mir verlangten und draussen mit mir Federball spielen wollten. Jedes Angebot an Abwechslung empfand ich als ärgerliche Störung.
Wollte ich vor Jahren nicht einmal auf den Mars reisen als ultimatives Zeichen der Einkapselung und der Verabschiedung von der hiesigen Welt, als endgültige Vereinigung mit dem Kosmos? Wo bin ich denn da in Bogotá? Schon unterwegs, oder was?

© Nikolaus Wyss

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