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Dr. Bernhard Heitmann, 6. 2. 1942 - 25.9.2020
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ich zu einem wohlformulierten, geistreichen Geburtstagsbrief ansetzen, denn das
war das mindeste, was ich ihm jährlich schuldete. Er war ein Sprachkünstler,
ein witziger Formulierkönig. Sein hohes Niveau stachelte mich an, mir mit
meinen eigenen Sätzen Mühe zu geben. Ich stellte mir immer vor, er würde meine
guten Wünsche nur dann anerkennend zur Kenntnis nehmen, wenn sie zumindest im
Ansatz originell klängen, auch wenn mein eigenes Sprachvermögen natürlich nie
an das seine herankam. Die Frage, die ich vorgängig zum geplanten Brief klären
musste, war lediglich: wird er jetzt an diesem 6. Februar schon 80? Dann hätte
ich auf seinen runden Geburtstag Bezug genommen. Oder begeht er erst seinen
79.? Dann hätte ich mir irgendetwas Gescheites zur Galgenfrist einfallen
lassen. - So weit sollte es aber gar nicht mehr kommen. Beim Nachschauen im
Netz stellte sich heraus, dass er am 25. September vergangenen Jahres im Alter
von 78 Jahren verstorben ist: Dr. Bernhard Heitmann, ein deutscher
Kunsthistoriker und Museumskurator.
Ich lernte ihn auf
einer kunsthistorischen Fahrt zu Bayerns Barockkirchen kennen. Das dürfte Ende
der 1960er Jahre gewesen sein, als er in München noch Jurisprudenz studierte,
sich die Kunst aber schon zur Herzensangelegenheit machte. Mir fiel damals auf,
wie charmant und mit einer milden Anzüglichkeit er die älteren Damen in der
Reisegruppe um den Finger wickeln konnte, und wie er mit einer Beredtheit
sondergleichen jeden noch so kleinen, unscheinbaren, holzgeschnitzten Heiligen
zu benennen, zu würdigen und mit Hintergrundwissen zu beleben wusste. So setzte
sich bei mir das Bild eines brillanten jungen Mannes fest, dem nachzueifern gar
keinen Sinn ergab, weil er einem unerreichbar voraus war.
Später studierte er Kunstgeschichte und promovierte 1977 über die deutschen
sogenannten Reise-Services und die Toiletten-Garnituren von 1680 bis zum Ende des
Rokokos und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung. Was Laien etwas schräg
vorkommt, geriet bei seinem unerschöpflichen Wissen zu einer Lebenswelt, zu
einem Kosmos, dem eine eigene Faszination inne lag. Bernhard wurde nach
Studienabschluss Kurator am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. An
jedem Silberlöffel aus dem hundertjährigen Krieg, an jeder Gabel mit
eingravierten Insignien, an jedem Früchtemesser mit Porzellangriff, an jedem
Meissen-Teller des Hofalchimisten Johann Böttger hafteten für ihn
unerschöpfliche Geschichten, die sich um böhmische Manufakturen, russische
Adelige und deutsche Handelsleute drehten, um Liebe und Intrigen, um
Eheschliessungen und Mésalliancen. Ihm zuzuhören war eine Wonne, weil er seinen
Erzählungen immer ein paar Sottisen beizumengen wusste, die sich entweder auf
die damals herrschende Gesellschaft bezogen, sich aber zuweilen auch gegen
seine aktuellen Vorgesetzten im Museum richteten, die ihm die gebührende
Wertschätzung nicht entgegenzubringen vermochten. Ich glaube, alle hatten etwas
Angst vor seiner spitzen Zunge.
Damals wohnte er im Pförtnerhaus einer älteren, alleinstehenden, stinkreichen
Reederstochter, die über ein sehr grosses Anwesen in Blankenese verfügte
mit altem Baumbestand und im Krieg unversehrt gebliebener Bausubstanz. Diese
Frau hatte an Bernhard wohl den Narren gefressen, und er liess sie insoweit
gewähren, wie sie seinen Neigungen zu jungen Männern nicht in die Quere kam. Er
half ihr dafür beim Ordnen des Familienschatzes, der, unter anderem, aus
prächtigem Tafelsilber bestand und als Schenkung an sein Museum gedacht war.
Dann verstarb sie aber und erklärte in ihrem Testament Bernhard zu ihrem
Alleinerben. Somit bekamen seine seit je bürgerlich-konservativen Ansichten und
sein Etepetete-Gehabe durch Vermögen einen realen Unterbau. Er jammerte, für
die Erbschaftssteuer Teile des Besitztums veräussern zu müssen, zum Beispiel
das Ferienanwesen in Garmisch-Partenkirchen. Er leistete sich aber von jetzt an
Opernbesuche auf den teuersten Plätzen und lud dazu ältere Damen ein. Wenn er
für Bankgeschäfte in Zürich abstieg, so wählte er die ersten Hotels am
Ort: Baur au Lac oder Widder, was ihm bei seinem lebenslänglich
bescheidenen Kuratorengehalt wohl sonst nicht möglich gewesen wäre.
Als es Mode wurde, Schweizer Bankkonten deutschen Steuerbehörden zu melden,
beging ich die Unvorsichtigkeit, ihm in einer E-Mail von meinen Erfahrungen mit
der Liechtensteinischen Landesbank zu berichten. Da war er knapp daran, den
Kontakt zu mir abzubrechen. Er hatte wohl zu Recht Angst, unsere Korrespondenz
könnte in falsche Hände gelangen und für ihn die Eröffnung eines Verfahrens in
Sachen Steuerhinterziehung nach sich ziehen. Er hauste jetzt in dieser grossen
Reedersvilla, wo die Küche noch über einen Vorraum für das Anrichten der
Speisen verfügte. Eine Frage, die ihn damals umtrieb, war, ob man gekochtes
Wasser für einen neuerlichen Teeaufguss noch einmal aufkochen dürfe. Für ihn
stand fest: nein, es brauche dazu
frisches Wasser. Bernhard tat
sich einen Hund zu und beschäftigte Olek und Elisabetta aus Polen
für Garten- und Hauspflege und für die Zubereitung von Speisen wie Pierogi,
Bigos und anderen Spezialitäten aus dem Osten. Mir schmeckte der Salatka
Jarzynowa am besten, eine Art russischen Salats. Seine frühere Bleibe im
Pförtnerhaus vermietete er jetzt an progressive Freaks und machte dabei die
leidvolle Erfahrung, dass er die eingezogenen Mieter nicht mehr loswurde, was
seinen Argwohn auf soziale, wenn nicht gar – in seinen Augen – sozialistische
Gesetzgebungen schürte.
Ich fragte mich in späteren Jahren oft, was mich antrieb, ihm in bescheidener
Weise die Treue zu halten, obwohl mir weder seine Ansichten noch sein
Lebensstil behagten. Auch war mir sein zuweilen doch sehr ruppiger Umgang mit
Menschen, die ihm nicht passten, zuwider. War es vielleicht mein Ehrgeiz, meine
Empathiefähigkeit unter Beweis zu stellen? Oder war es die Spekulation, bei ihm
Gehör zu finden, sollte es mir finanziell einmal schlecht gehen? – Vielleicht
befand ich mich mit ihm auch in einem unausgesprochenen Wettbewerb, wer von uns
beiden wohl das erfülltere, glücklichere Leben führe. Ich befand mich, wie mir
schien, insofern in der Pole-Position, als ich ihn, im Gegensatz zu mir, kaum
je nachhaltig glücklich erlebte, ausser in den Momenten, wo er von seinen
Kunstreisen und Begegnungen mit herausragenden Gemälden berichten konnte. So
kannte er die Alte Pinakothek in München auswendig, und bei
Museumsbesuchen, wie dem Madrider Prado, der Wiener Albertina
oder der Londoner Tate, schöpfte er Hoffnung, dass noch nicht aller Tage
Abend sei. Die dort ausgestellte Kunst bestärkte ihn in der Gewissheit, dass
Schönheit und Vollkommenheit immer noch ihre Bedeutung haben und dem Gesindel
und Abschaum auf der Strasse etwas Erhabenes entgegensetzen. Auch Istanbul
hatte es ihm angetan. Zum Glück musste er nicht mehr erleben, wie die Hagia
Sofia wieder zur Moschee umfunktioniert wurde.
Sonst aber
war er von rührenden Verpflichtungen getrieben, wie sie sich meiner Ansicht
nach diejenigen aufbürden, die gegen ihre eigene Einsamkeit anzukämpfen haben.
Er schrieb mir einmal zu Weihnachten: «Übermorgen ist
eine große Beerdigung, wo ich hinmuss. Abends kommt Besuch. An beiden
Weihnachtstagen besuche ich eine alte kranke Freundin im Altersheim. Sie
kann nicht mehr sprechen und nicht mehr schreiben. Eine unselige Situation. Ich
werde ihr vorlesen, erzählen und ihr vielleicht beim Essen helfen. Abends
gehe ich dann zu einer befreundeten Familie mit Kindern. Zwischen den Jahren
habe ich meinen Bruder nebst Frau und zwei meiner Freunde in die Oper
eingeladen. Silvester hoffe ich allein sein zu dürfen…»
Irgendwann wuchs ihm die Villa über den Kopf, und er kaufte sich eine
Wohnung mit Blick auf die Elbe. Vom anderen Ufer hörte man unentwegt
Hafengeräusche, die vom Löschen und Beladen grosser Frachter herrührten. Sein
Wohnzimmer war überstellt mit Stühlen aus der Biedermeierzeit. Sie stimmten mich
traurig, weil niemand darauf Platz nahm. Sie standen herum wie bestellt und
nicht abgeholt. Doch mein Gastzimmer war vom Feinsten, und im dazugehörigen
Badezimmer hatte er für mich ein speziell teures Parfüm hingestellt.
Eine grosse Befriedigung dürfte für ihn gewesen sein, 2016 als Cofrater in
den Deutschen Orden aufgenommen worden zu sein. Dort erlebte er endlich
das Umfeld, das ihn vor weiteren zivilisatorischen Anfechtungen und Zweifeln
bewahrte. Die Geschichte dieser Kongregation, die bis auf die Kreuzzüge
zurückgeht, verschaffte ihm endlich den Rahmen, um sich angekommen zu fühlen.
Sein Wirken bestand dort unter anderem in der Förderung junger Priester. Indem
er stolz auch afrikanische Novizen zu seinen Schützlingen zählte, vermochte er
seinen latenten Rassismus ein bisschen zu zähmen.
Jetzt also kommt es nicht mehr zu meinen Geburtstagswünschen für Bernhard
Heitmann. Diese Zeilen hier bieten mir immerhin Gelegenheit, mich von ihm zu
verabschieden, wobei ich noch jetzt nicht weiss, ob ich mit ihm wirklich
befreundet war. Doch durch die Jahrzehnte begann uns doch etwas zu verbinden,
etwas, das mich jetzt reuen lässt, ihm nicht mehr zum Geburtstag gratulieren zu
können.
© Nikolaus Wyss
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